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ODERBERGER STRASSE

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Paul’s Boutique war schon da, als ich einzog in das Haus Oderberger Straße. Für mich gibt es den Laden also schon immer. Seit mehr als fünfzehn Jahren sehe ich nicht nur Teenager – früher hauptsächlich aus Berlin, dann aus der ganzen Welt – sich dort die Nasen plattdrücken. Hat Paul’s Boutique geschlossen, habe ich Mitleid mit ihnen: Jetzt sind sie extra aus Koblenz, Böblingen und in normalen Jahren vielleicht auch aus Turku oder Wisconsin gekommen – und stehen vor dem Geschäft voller alter Turnschuhe, ihren Traum-Sneakern so nah. Sehnsüchtig starren sie in das Star-Wars-, Spielzeugroboter- und Boombox-Schaufenster. Und stehen sie nicht zu Recht dort? Ist dieses Schaufenster, ach was, der ganze Laden nicht eine Installation?

Ich verstehe sie, ich stehe selbst gern dort, noch immer, immer wieder, seit bald zwei Jahrzehnten. Ich liebe den mittlerweile leicht verblassten lebensgroßen Prinzessin-Leia-Aufsteller – bin ich nicht schon 1980 in sie verliebt gewesen, als ich sie zum ersten Mal im Kino sah?

Manchmal sehe ich, wie neue alte Kleidung – nicht nur Schuhe sind im Angebot – geliefert wird: Riesige Kartons auf Europaletten werden vor dem Haus abgeladen, Pappkartongebirge blockieren die Einfahrt und die Haustür. Und jedes Mal frage ich mich: Wer wird das alles kaufen? Es wird aber gekauft, schnell, es dauert nicht lange, und neue zerrissene Kartons füllen den Altpapiercontainer im Hof.

Könnte es sein, nur so ein Verdacht, dass die gebrauchten Kleidungsstücke, die in Paul’s Boutique verkauft werden, inzwischen in China hergestellt und industriell gealtert und vorabgenutzt ausgeliefert werden? Wo soll das ganze Vintage-Zeug sonst herkommen? Sind nicht alle bunten Trainingsjacken längst verkauft? Oder ist es ein Kreislauf, kommen die Jacken nach einigen Jahren in irgendeinem westdeutschen Mittelzentrum wieder zurück nach Berlin?

In und um Paul’s Boutique war und ist immer etwas los. Bands spielen, Schauspielerinnen, sonst nur im Kino zu sehen, hängen herum; Mädchen, die Models werden wollen oder es schon sind, lümmeln auf der gelben Bank vor dem Laden.

Ich erinnere mich an die Fußballweltmeisterschaft 2014, vor Paul’s Boutique steht – muss dieser mysteriöse Paul organisiert haben – ein Kuckmobil: ein riesiger Fernseher auf der Ladefläche eines kleinen, rückwärts eingeparkten LKWs. Unser Fußballkino vor dem Haus. Dort sitzen wir am 13. Juli 2014. Und nach der 113. Minute nicht mehr.

Während ich mich an meine Jahre mit Paul’s Boutique erinnere, muss ich mich fragen: Habe ich dort je etwas gekauft? Ich bin oft im Laden gewesen, habe durch das Kleiderstangenlabyrinth hineingefunden, um Pakete abzuholen oder Pakete, die bei uns abgegeben worden waren, zu übergeben. Aber habe ich je gut eingetretene Sneaker erstanden? Eine gebrauchte, mit dem Logo eines Provinzsportvereins bedruckte Adidasjacke? Eine abgewetzte Barbourjacke? Vielleicht bin ich mal in Versuchung geraten; gekauft aber habe ich, glaube ich, nie etwas. Im Gegenteil, seit Jahren phantasiere ich, Jacken aus meinem überquellenden Kleiderschrank und Schuhe – zumindest einige der circa zwanzig Paar, die mir seltsamerweise nicht mehr passen – in den Laden zu bringen.

Paul’s Boutique ist ein Ort, der an die Neunziger und die ersten Jahre im neuen Jahrtausend erinnert. Und das nicht nur, weil er nach dem Album der Beastie Boys benannt ist, mit dem die neunziger Jahre einst begannen. Der Laden steht für eine Zeit, in der nicht nur der Prenzlauer Berg ein großer Möglichkeitsraum war, eine Zeit, in der in Berlin alles möglich schien. Zum Beispiel einen Laden zu eröffnen, der gebrauchte Sneaker verkauft. Praktischerweise lässt die Erinnerung an diese Vergangenheit sich eben dort erwerben, in Form von Schuhen und gebrauchten Kleidungsstücken. Trotz dieses, wie es scheint, aktuell sehr erfolgreichen Geschäfts mit dem Style der Vergangenheit, ist Paul’s Boutique ein historischer Ort, das Monument eines Berlins, von dem nicht viel geblieben ist.

Dass die Oderberger, diese zu Mauerzeiten zwangsweise verkehrsberuhigte Straße, sich in den letzten Jahrzehnten so sehr verändert hat und so viele Besucher, so viel Publikum anzieht, hat vielleicht auch mit Paul’s Boutique zu tun. Als ich einzog in unser Haus, nahm das Geschäft noch nicht die ganze Verkaufsfläche im Vorderhaus ein. Im kleineren, rechten, einst vom PDS-Büro besetzten Ladenlokal befand sich das Café Kombini. Von Kundschaft überrannt war es nicht, trotz des guten selbstgebackenen Kuchens. Oft saß ich alleine dort. Bis Paul’s Boutique eines Tages auch die Räume des Cafés übernahm. Der Fahrradständer des Kombini, ein selbstgeschweißtes improvisiertes Monstrum, stand noch jahrelang auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Und rostete vor sich hin.

Die Oderberger, die schöne breite Straße – sie ist so breit, weil dort, wo einst die Mauer stand und wo sich heute der Mauerpark erstreckt, einmal ein Güterbahnhof war –, ist heute auch Opfer ihrer Attraktivität. Nicht nur sonntags, wenn Touristen in Horden und Pärchen in Kolonne die Straße auf und ab und zum Flohmarkt hin marschieren, sondern auch werktags, wenn die geführten Fahrradgruppen schwärmen, Reisebusse sich durch die Straße schieben und die Löschwagen der Feuerwehr nicht mehr durchkommen, weil all die LKW, die Frischfleisch und Getränke liefern oder Fett absaugen, die Straße blockieren. Heute wäre ein Café neben Paul’s Boutique eine Goldgrube. Vielleicht.

Es gibt kein unsaniertes Haus mehr in der Oderberger und zu viele Ferienwohnungen. Sonntags gegen zehn – ich bestaune sie auf dem Weg zum Schrippen holen – ist die Schlange vor dem Café Krone nicht selten vierzig Meter lang. Die Frühstückshungrigen, viele von ihnen aus Übersee, warten vor einer Tafel, auf der »You will be seated« zu lesen ist. Sie werden platziert, denke ich und muss lachen: Die DDR ist wieder da.

Noch gibt es keinen Starbucks und keine echte Systemgastronomie in der Oderberger. Vielleicht ist aber auch das nur eine Frage der Zeit. Wie viele asiatische Restaurants passen auf eine Straße, die gar nicht besonders lang ist? Zurzeit sind es acht oder neun, ich verliere den Überblick.

Symbolisch und sehr schlau, dass auf der Fassade des Hauses, in dem Paul’s Boutique von Kundschaft überrannt wird, so lange schon der Schriftzug »Berlin« zu lesen ist. Das gibt Halt und erinnert alle daran, wo sie sich befinden. Hier ist es also, dieses Berlin! Und hier lässt sich etwas davon kaufen. Zum Anziehen.

Paul heißt gar nicht Paul, fand ich bald nach meinem Einzug heraus, Paul heißt Frank. Wir sind einander gute Nachbarn, wir grüßen uns, wir plaudern, er lacht, und oft fragt er, wann das nächste Buch fertig werde. Bald, Frank, dauert nur noch ein paar Jahre. Mein Nachbar ist mir so sympathisch, ich würde sogar getragene Turnschuhe bei ihm kaufen.

2020

Verlaufen in Berlin

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