Читать книгу Verlaufen in Berlin - David Wagner - Страница 11
ENDE EINES SUPERMARKTS
ОглавлениеErst am Kühlregal bemerke ich’s: Mein Kaiser’s ist kein Kaiser’s mehr. Statt meiner Lieblingsjoghurts stehen da andere; es gibt die Vanille- und Naturjoghurts der Bio-Handelsmarke von Kaiser’s-Tengelmann nicht mehr. Wie viele Jahre habe ich sie gekauft und gelöffelt, oft abends spät, während ich auf den Küchencomputer glotzte, das Vanillejoghurt immer mit einer Prise frisch gemahlenen Espressopulvers verfeinert, das Naturjoghurt morgens mit Müsli und Honig?
Nun stehe ich hier in diesem Supermarkt, in dessen Nähe ich schon so lange wohne, er trägt den Kaiser’s-Schriftzug und das Kaiser’s-Logo (auf dem ich lange Jahre keine Kaffeekanne erkannte, weil Kaffeekannen einfach nicht mehr so aussehen wie auf diesem Logo) noch auf dem Flachdach, über meinem Arm hängt einer der alten, leicht angestoßenen Kaiser’s-Einkaufskörbe aus Kunststoff – und ich weiß nicht, was ich kaufen soll. An den Kassen, ich habe sie Kaiser’s-Rot leuchten sehen, liegen, wie zum Hohn, Kaiser’s-Einkaufstüten, die gewohnten Produkte jedoch fehlen.
Traurig – wie war das noch mit dem Glücksversprechen des Kapitalismus? – bewege ich mich durch die Gänge und finde nicht mehr, was ich suche. Was sonst mit schlafwandlerischer Sicherheit in meinen Korb wanderte, ist aus dem Sortiment verschwunden. Und mir kommt es vor, als wäre damit etwas von mir verschwunden – denn bin ich nicht eigentlich das, was ich kaufe? Bin ich nicht das Produkt all der Produkte, die ich über die Jahre nach Hause getragen und aufgegessen habe? Muss ich nun, mit neuen, ungewohnten Produkten, nicht ein anderer werden? Möchte ich das überhaupt? Womit habe ich das verdient? Ist der Verlust meines Lieblingsjoghurts vielleicht die Strafe dafür, dass ich in den letzten Jahren oft supermarktfremdgegangen bin, in Berlin und anderswo? Habe ich Kaiser’s vernachlässigt?
Als ich mit den lieblos gestalteten Bio-Joghurtbechern an der Kasse stehe, fällt mir ein, dass ich wohl nie wieder die Kaiser’s-Frage nach den Herzen hören werde: »Sammeln Sie Herzen?« – wie oft hat eine Kassiererin das zu mir gesagt? Ich habe fast immer ja gesagt, ja, ich sammle Herzen, ein Hobby, und meine Tochter liebte es, sie in die Sammelbroschüre zu kleben. Verdanken wir nicht die halbe Ausstattung unserer Küche den Kaiser’s-Rabattaktionen? Den großen Bräter, die Wok-Pfanne, zwei Stielkasserollen, mindestens drei Töpfe? Und die Teelöffel, mit denen ich die Vanillejoghurts aß, kamen die nicht auch von Kaiser’s?
Von meiner Lieblingskassiererin – ich kenne und verehre sie seit Jahren, sie kennt mich und weiß wahrscheinlich, was ich sonst immer kaufe – erfahre ich nicht nur, dass es die gewohnten Produkte nicht mehr geben wird, sondern darüber hinaus, dass dieser unser Kaiser’s, in dessen Hülle nun ein Edeka steckt, bald, vielleicht noch in diesem Jahr abgerissen werden soll. Statt des Flachbaus mit der asphaltierten Rampe – die Architektur verrät es, dieses Gebäude stand einst in einem anderen Land und beherbergte eine Ost-Berliner Kaufhalle; Nachbarn, die diesen Kaiser’s »Kaufhalle« nennen, wohnen jedoch nur noch sehr wenige hier – soll eine weitere Luxus-Wohnanlage entstehen. Ob sie »Kaiser’s Hofgarten« heißen wird?
Zuhause, als ich den kargen Einkauf verstaue, finde ich weit hinten im Kühlschrank einen vergessenen Becher Kaiser’s-Naturkind-Vanillejoghurt. Sein Mindesthaltbarkeitsdatum ist schon ein paar Tage überschritten. Ich werde ihn dort stehen lassen. Zur Erinnerung.
2017
P. S. Der Kaiser’s-Supermarkt, für mich noch immer Kaiser’s, obwohl er zuletzt von Edeka betrieben wurde, war die letzte der Kaufhallen, die vom Ost-Berliner Wohnungsbaukombinat zwischen 1971 und 1980 im Prenzlauer Berg errichtet worden waren. Fast baugleiche Exemplare standen am Teutoburger Platz, Marienburger Straße / Ecke Winsstraße und an der Pappelallee. Heute sind sie alle abgerissen und mit Wohngebäuden überbaut.
Von Matthias Dell weiß ich, dass die kleinkriminellen Jungs aus Thomas Heises Prenzlauer-Berg-Dokumentarfilm Wozu denn über DIESE LEUTE einen FILM? um 1976 herum in genau diese Kaufhalle in der Fürstenberger Straße einstiegen, um Alkohol zu klauen, die viel später, erst nach dem Ende der DDR, zu meinem Kaiser’s werden sollte. Seinen letzten Öffnungstag hatte dieser Supermarkt im April 2020. Dann rückten die Bagger an.