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BRANDWÄNDE ERZÄHLEN BERLIN

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Ich wache auf, öffne die Augen und sehe die Brandwand. Eine Mauer aus vielen – wie viele waren es, habe ich nicht sogar versucht, sie zu zählen? – ursprünglich roten, über die Jahrzehnte eingegrauten und anverwitterten Ziegelsteinen.

Ich sah sie jeden Morgen. Mein Bett stand gegenüber dem einzigen Fenster des einzigen Zimmers der Wohnung, ich hatte sehr viel Mauer vor mir. Manchmal wanderten Lichtpunkte über die Backsteinwand, das freute mich, später am Tag, wenn die Sonne schien, was im Winter nicht oft der Fall war, ein Schatten. Die Brandwand vor meinem Fenster war wie eine große leere Leinwand, eine Matrix, in der vielleicht, dachte ich mir, während ich sie vom Bett oder später vom Schreibtisch aus betrachtete, eine Botschaft steckte. Stecken musste. Standen nicht einige Steine ein wenig aus dem Verbund heraus? Bildeten sie nicht Buchstaben? Ameisen konnten diese Backsteinwand hinauflaufen. Ich nicht.

Brandmauern haben Berlin gerettet. Wahrscheinlich stand das Haus, in dem ich damals, in den frühen neunziger Jahren, wohnte, nur wegen seiner Brandmauern noch. In seiner Umgebung waren während des Krieges nicht wenige Bomben gefallen.

Nur der Brandwände wegen stehen überhaupt noch so viele Gebäude, die wir heute Altbauten nennen. Während der Bombardierungen waren viele von ihnen nicht einmal fünfzig Jahre alt und brandschutztechnisch auf der Höhe der Zeit. Hamburg ist verbrannt, Köln ist verbrannt, Nürnberg ist verbrannt, Würzburg ist verbrannt, Dresden sowieso und von vielen anderen deutschen Innenstädten blieb auch nicht viel übrig. Berlin aber blieb Berlin, weil Berlin eben – zu einem großen Teil zumindest – keine alte Stadt war. Von der Altstadt, die auch Berlin einmal hatte – sie befand sich um die Marien- und die Nikolaikirche herum und auf der Fischerinsel –, von der Altstadt, die brennen konnte, ist fast nichts mehr da.

Berlin blieb dank seiner strengen Bauvorschriften in großen Teilen erhalten – und weil die Stadt, so weit im Osten, lange nicht in Reichweite der alliierten Bomber lag; nicht in Reichweite der – wie hieß es so schön auf den heute fast überall entfernten Ost-Berliner Hinweistafeln aus DDR-Zeiten: »angloamerikanischen Bomberverbände« – lag. Westdeutsche Ziele lagen einfach näher.

Brandwände haben Berlin gerettet, denn um Berliner Mietskasernen zu knacken, brauchte es schwerste Bomben, Wohnblockknacker genannt, dann Sprengbomben auf Brandbomben. Die Bauweise mit Brandwänden war und ist aber auch verantwortlich für die oft mangelnde Belichtung vieler Berliner Wohnungen. Sie sorgte für Wohnhöhlen, wie die, in der ich untergekommen war, mit einem großen Zimmer, das von nur einem Fenster eher mangelhaft beleuchtet wurde. In der ich mich aber, Brandwand im Rücken, Brandwand vor dem Fenster, sehr sicher fühlte. Ich war in Berlin.

Gar nicht so selten zu sehen in großen Brandwandflächen: Ein oft recht weit oben liegendes, einsames kleines Fenster, das ein Bewohner der dahinterliegenden Wohnung in einem anarchischen Akt durch die Hauswand gebrochen hat, um sich so mehr Licht, Luft und Aussicht zu verschaffen. Nachts oft ein warmes, gelbes Lichtgeviert in dunkler Fläche.

Kann wie ein Gemälde aussehen.

Brandwände aber, das tut mir fast leid, verschwinden. Verschwinden, weil neu gebaut wird. Ich erinnere mich an das kubistische Brandwandensemble am Pariser Platz, dort, wo heute die Französische Botschaft steht: Sie bildeten einen Raum, der nur noch an zwei Seiten offen war: zum Himmel und zur Straße.

Ich erinnere mich an das Brandwanddreieck in der Anklamer Straße, Rosenthaler Vorstadt, auf dem der Kohlenhändler Peter Hantke seine Brennstoffhandlung hatte. Heute steht auch dort ein Haus, hell können die Wohnungen in dem Gebäude auf dieser schwierigen Grundfläche nicht sein.

Eine Brandwand in der Senefelder Straße fällt mir ein, einige Jahre grasten auf ihr lebensgroße, in der Senkrechten angebrachte bunte Kuhfiguren. Heute steht ein Haus vor dieser Weide.

Ich muss an das Cantiandreieck denken, »Aufstand der Würde« war dort jahrelang zu lesen. Und zwei Sommer gab es auf dem Grundstück vor der Brandmauer eine Wiesenbar. Heute steht dort ein Haus.

Ich muss an die Brandwand an der Schönhauser Allee denken, dort wo die Hochbahn die Ringbahn kreuzt. Bevor dort ein riesiges Gesundheitszentrum errichtet wurde, Abschreibungsarchitektur, wurde vom Dach des gegenüberliegenden Hauses Werbung auf die Brandwand projiziert.

Und ich erinnere mich an die riesigen Brandwände in der Chausseestraße, dort, wo jetzt das Hotel Titanic schwimmt. Und und und. Beispiele sind Legion.

Es werden weniger – aber es gibt noch immer viele. Eine meiner Lieblingsbrandmauern steht Ackerstraße / Ecke Max-Ulrich-Straße, Gesundbrunnen. Sie erstreckt sich, ein vertikales Feld, über einen ganzen Block und kann in der Abendsonne glühen wie die Alpen.

Mir gefällt die Brandwand an der Schönhauser, fast am Schönhauser Tor. »Diese Stadt ist aufgekauft!« steht auf ihr, seit vielen Jahren.

Ich mag die uralte Quartier-204-Werbung auf der letzten Freifläche der Friedrichstraße, zurzeit ist dort eine Baugrube. Die Wand wird bald verschwunden sein.

Und ich mag die großflächigen Brandwände der Cuvrybrache an der Schlesischen Straße. Der berühmte, kopfüber baumelnde Astronaut, zeitweise die bekannteste Streetart der Stadt, wurde mittlerweile vom Künstler selbst übermalt, weil er nicht damit einverstanden war, dass sein Kunstwerk zur Bebilderung von Imagebroschüren und Immobilienprospekten verwendet wurde.

Die entzückende Brandwand über dem Woolworth-Flachbau, Potsdamer Straße / Ecke Kurfürstenstraße. Eine West-Berliner Ecke.

Und ich denke an die leere Ecke Potsdamer Straße / Ecke Alvenslebenstraße, Schöneberg. Sieht so aus, als hätte jemand dort ein Stück aus dem Streuselkuchen der Stadt geschnitten. Ein paar Krümeltrümmer liegen noch dort, mittlerweile überwuchert.

Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, erst die Bombardierung und die Eroberung durch die Rote Armee, die Schlacht um Berlin im April 1945, hätten die Brandwände im Stadtbild freigelegt.

Brandwände zeigten sich schon vor dem Krieg immer dort, wo die Bebauung aufhörte. Sie ragten auf, wo einstöckige Bebauung zwischen Traufhöhenhäusern, sprich Mietskasernen, überdauert hatte. Sie zeigten sich in Bau- und Spekulationslücken und dort, wo Stadt- und Ringbahn die Bebauung teilten. Der Stadtbahnhof Savignyplatz zeigte seine Brandwände damals schon wie heute, er ist ein Brandwandbahnhof zwischen Gebäuden, die scharf angeschnitten am Stadtbahnviadukt stehen.

Der aus Köln stammende, in Berlin wirkende neusachliche Maler Gustav Wunderwald malte in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts etliche Stadtansichten Berlins – und auf vielen von ihnen sind Brandmauern zu sehen. Wunderwald, der Wedding-Canaletto, malte Brandwände auf eine Weise, dass sie wie abstrakte Flächen in seinen Bildkompositionen liegen. Sein Schaffensmotto, formuliert im Jahr 1926, lautete: »Die tristesten Dinge haben es mir angetan und liegen mir im Magen, Moabit und der Wedding packen mich, diese interessante Trostlosigkeit«.

Die Brandmauerproduktion endete nicht mit dem Bombenkrieg. Neue Brandwände zeigten sich nach 1961 durch den Bau der Mauer, für die auf der Ostseite der Sektorengrenze viele Gebäude abgerissen wurde. An der Bernauer Straße sind sie zu sehen.

In West-Berlin legten der Stadtumbau und der Bau der Stadtautobahn Brandwände frei, Schneisen in Wilmersdorf, Steglitz und Kreuzberg – am Kottbusser Tor sollte einmal ein Autobahnkreuz entstehen – können davon erzählen.

Brandwände sind Malfläche, Werbefläche und Projektionsfläche. Letztere im wahrsten Sinne des Wortes: Ich erinnere mich an manche Party, bei der sich Diaprojektoren, später Beamer, auf eine Brandwand richteten: Bilder auf die Stadt.

Brandwände waren schon immer, das zeigen auch Wunderwalds Gemälde, Fläche für Reklame: »Möbel Hübner, ich soll Sie schön grüßen!«, die große, so romantisch-pittoresk abblätternde Schultheiss-Reklame in der Prinzenallee, sozialistische Parolen, in Mitte noch in den neunziger Jahren zu sehen.

Brandwände, gerade durch Abriss freigelegt, boten auch Platz für senatsgeförderte Wandbilder; sie entstanden, heute schlecht gealtert, in den Jahrzehnten, als West-Berlin sich verschönern wollte. Das berühmte Reißverschlussbild in der Zillestraße ist ein Beispiel.

In den frühen neunziger Jahren lebte ich mit einer Brandwand, ich hatte eine steinbloße, also unverputzte Mauer fast in der Wohnung. Vom Himmel war nur ein Ausschnitt zu sehen, die Wand gegenüber war der größere Himmel – und ich sah immer mehr in ihr. Ich sah Textur und Struktur, ich sah Malerei und eine Skulptur auf rauer Fläche. Wo der Putz noch nicht abgebröckelt war, sah ich Kontinente, ich sah Umrisse unbekannter Inseln, Firstlinien, Schatzkarten, Einschusslöcher, Decken und Böden verschwundener Häuser. Ich sah Spuren früherer Kamine, Schwalbennester, ich sah Moos auf Ziegeln, Efeu und dürre Bäumchen, die sich irgendwie hielten, Birken, die Samen vom Wind in die Fugen geweht.

Nicht alles von meinem Bett aus, nein, aber irgendwo in der Stadt. Die Brandwände erzählten mir Berlin.

Ich zählte die Ziegel auf meiner Brandwand, fragte mich aber auch, woher sie eigentlich stammten. Jeden einzelnen Stein mussten, »Stein auf Stein, das Häuschen wird bald fertig sein«, mehrere Arbeiter und zuletzt ein Maurer in den Händen gehabt haben.

Auf einer meiner Wanderungen um Berlin fand ich die Antwort, als ich mich in die Glindower Alpen verlief. Nahe des Örtchens Glindow wurde Ton abgebaut, bis die Vorräte sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert erschöpften. Es gab etliche Ziegeleien mit Rundöfen; zu Hochzeiten wurden dort täglich mehr als fünfhunderttausend Steine gebacken. Gebrannt. Tagebau und Abraumhalden schufen eine bizarre Abenteuerlandschaft im sonst eiszeitflachen Land; feuchte Schluchten und steile, heute bewaldete Abhänge.

Die Backsteine, die von Glindow über die Havel nach Berlin verschifft wurden, konnten den Flammen standhalten. Sie waren ja schon durchs Feuer gegangen.

2018

P. S. Nicht wenige der erwähnten Brandwände sind mittlerweile hinter Bebauung verschwunden. In Berlin werden aber auch neue Brandmauern errichtet: Auf der Chausseestraße beispielsweise, kurz bevor sie zur Müllerstraße wird, ragen frische Brandwände an die erst in den nuller Jahren errichtete Total-Tankstelle heran. Und ein Stück nördlich der Panke zeigt der kastenförmige Neubau hinter dem S-Bahnhof Wedding seinem noch unbebauten Nachbargrundstück eine große, kahle, weiß verputzte Brandwand. Mal sehen, wie lange.

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