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Kapitel Fünf

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»Hältst du Ausschau nach ihm?«, fragte Ochiba.

Barako verzog keine Miene. »Ich will nur wissen, wer von uns recht hatte.«

Ochiba war gerade zu ihr in den nordöstlichen Eingangsturm der Burg der Morgenröte gekommen. Das erste Unwetter des Winters hatte sich ausgetobt, aber ein weiteres schickte bereits seine Vorboten. Vorerst fiel kein Schnee mehr. Doch die Wolken hingen tief und stahlgrau am Himmel. Der Wind hatte sich gelegt und schleuderte keine Schneewehen mehr gegen die Mauern, die die Landschaft in eine Phantomwelt in Grau und Weiß verwandelten. Letzte Nacht, während ihrer Patrouille, waren die Berge um Morgenröte herum nicht einmal mehr Schatten hinter dem Schnee gewesen. Sie waren als die Geister von Bergen erschienen, blasse, veränderliche Umrisse, die im einen Moment erschienen und im nächsten wieder verschwanden. Jetzt waren die Felswände deutlich zu sehen, auch wenn ihre Gipfel von den tief hängenden Wolken verhüllt wurden.

Die Steinmauern von Morgenröte waren um einen niedrigen Berggipfel herum errichtet worden. Von dieser Position aus kontrollierte die Burg alle Pfade, die sich durch die engen Pässe nach Norden und Süden schlängelten, zur Burg der Vergessenen und zur Burg Hida, sowie die Pässe Richtung Westen, zum Schutzwall. Von der Kreuzung dieser Wege aus ging ein schmaler Pfad in Serpentinen hinauf zum Tor. Die anderen drei Seiten der äußeren Burgmauer waren den schroffen Felswänden zugewandt, die der Berg jedem präsentierte, der versuchen wollte, ihn zu erklimmen.

Die Burg der Morgenröte hatte eine gute Lage, aber sie war nicht uneinnehmbar. Also patrouillierten die Wachen der Familie Kakeguchi mit steter Wachsamkeit an ihren Mauern – und jetzt, da der Winter mit seinen langen Nächten und der schlechten Sicht gekommen war, umso entschlossener.

»Höchstens eine halbe Karawane«, sagte Ochiba. »Welch ein Vertrauen in den Erben der Daimyo.«

Barako lächelte. Ochiba hatte leise gesprochen. Ihr Spott war nur für die Ohren des jeweils anderen bestimmt. Sie beugte sich etwas näher zu der drahtigen Kommandantin und senkte ebenfalls die Stimme. »Die vollständige Karawane? Bleibst du bei dieser Vorhersage? Dein Vertrauen ist bemerkenswert.« Auf den Schlachtfeldern hatten sie bereits viele unglückselige Erfahrungen mit Haru machen müssen. Barako konnte immer noch nicht sagen, ob Haru mit Unfähigkeit oder Pech geschlagen war. Vermutlich beides.

»Ich glaube an Ishiko.« Ochiba klopfte Barako ermutigend auf die Schulter. »Sie wird ihn zur Ordnung rufen.«

»Sie ist wirklich zuverlässig«, gab Barako zu. »An ihren Fähigkeiten zweifle ich nicht. Wir könnten uns niemand Besseren an Harus Seite wünschen. Ich frage mich nur, ob es ihr gelingt, dafür zu sorgen, dass er auf sie hört.«

Ochiba seufzte. »Stimmt. Das ist die Frage.«

»Und doch bleibst du bei deiner Vorhersage?«

»Ich lege meine Hoffnung in Ishiko.«

Barako nickte. »Dein Vertrauen in sie ehrt dich.«

»Also bleiben wir beide bei unserer Entscheidung.«

»Wie immer gleiche ich deine Hoffnung mit meinem Pessimismus aus.«

Ochiba rollte mit den Augen. »Diesem Ausgleich verdanken wir unser Leben, Barako.«

Barako verneigte sich leicht. Ihr Gespräch hatte mehr Förmlichkeit angenommen, aber es war geprägt von Humor und Kameradschaft. Sie waren sich beide der freundschaftlichen Beziehung bewusst, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, und dankbar dafür. Im Krieg hatte sie ihnen einige Male zum Sieg verholfen.

Als die beiden Frauen sich gemeinsam gegen die Wand lehnten, reichte Ochiba Barako gerade einmal bis zur Schulter. Nun empfand Barako den Tag als wärmer, die Sorgen, die er mit sich brachte, als weniger drückend.

»Die Daimyo ist besorgt.« Ochiba wurde ernst. »Es war ein schlimmes Unwetter.«

»Ist sie etwa noch pessimistischer als wir? Glaubt sie, die ganze Karawane könnte verloren sein? Wir sollten dennoch über den Winter kommen, wenn wir die Vorräte, die wir haben, einteilen, und der Frühling nicht ungewöhnlich spät einsetzt.«

»Das ist nicht ihre einzige Sorge.«

»Glaubt sie, Haru hat vielleicht nicht überlebt?«, fragte Barako.

»Ich weiß nicht, ob sie es für wahrscheinlich hält. Aber sie macht sich Gedanken, dass es so sein könnte. Das muss sie ja.«

»Natürlich.« Akemi hatte keine anderen Kinder. Haru war ihr Alleinerbe. Wenn er fiel, würde ihre Herrschaft über die Burg der Morgenröte sehr geschwächt, und das nicht nur aufgrund der Unsicherheiten über ihre Nachfolge. Barako dachte einen Augenblick lang nach. »Ich glaube, dass er überlebt hat.«

»Ich hoffe es.«

»Jetzt bist du diejenige, die zweifelt.«

»Es ist, wie du gesagt hast. Das Unwetter war schlimm. Und sein Urteilsvermögen ist nicht immer das Beste. Es könnte alles Mögliche passiert sein.«

»Sein Urteilsvermögen ist nicht immer das Beste, aber das Schlechteste ist es auch nicht«, wandte Barako ein. »Er tut manchmal dumme Dinge, aber er ist nicht dumm. Er weiß, wie man überlebt, auch wenn er es gelegentlich vergisst.« Sie bedachte Ochiba mit einem schiefen Lächeln. »Ich habe wenig Vertrauen in seine Fähigkeiten, aber ich vertraue darauf, dass er zu uns zurückkommt.«

»Na, dann können wir den Erben der Familie Kakeguchi ja nicht verlieren«, sagte Ochiba trocken.

Barako atmete tief ein, um sich zu sammeln. »Freuen wir uns, dass die Daimyo gesund und kräftig ist. Ohne sie wäre unsere Aufgabe sehr viel anstrengender.«

»Der Tag wird kommen, an dem wir eine große Bürde auf uns nehmen müssen.«

»Und wir werden sie gemeinsam bewältigen.« So wie es die Familie Kakeguchi tat und der gesamte Krabben-Klan. Ochiba und sie dienten einem großen Ganzen, das viel wichtiger war als jedes Individuum, und dieser Dienst erfüllte sie mit Stolz.

Ochiba legte ihr eine Hand auf den Arm, um ihre Dankbarkeit zu zeigen. Dabei behielt sie den Pfad Richtung Norden im Auge. »Was auch immer er entschieden hat«, sagte sie, »er hätte gar nicht früher hier sein können.«

Barako hörte die Anspannung in ihrer Stimme und fragte sich, wie prekär die Lage der Daimyo geworden war. »Glaubt Leutnant Doreni, dass seine Zeit gekommen ist?«

»Ich bin nicht sicher und ich glaube, er auch nicht. Aber vermutlich stellt er sich selbst genau diese Frage.«

Die Familie Kakeguchi hatte nicht als Einzige ihre Leute in der Burg der Morgenröte stationiert. Hiruma Doreni führte ein Kontingent Soldaten seiner Familie an, die Akemis Streitkräfte unterstützen sollten. Es sollte eine Zusammenarbeit unter pragmatischen Gesichtspunkten sein. Morgenröte brauchte starke Soldaten, um sich zu schützen und Hida am Wall Verstärkung schicken zu können. Nur war die Geschichte der Burg nicht so einfach. Das war Geschichte nie. Obwohl Morgenröte seit über einem Jahrhundert im Besitz der Kakeguchi war, war das nicht immer so gewesen. Auch die Familie Hiruma erhob Anspruch darauf. Akemis Anspruch war am größten, solange Haru ihr Erbe war und die Linie fortbestehen würde. Wenn sie keinen direkten Erben mehr hätte, wäre Dorenis Anspruch mindestens so stark wie der eines jeden Mitglieds der Familie Kakeguchi. Beide Familien waren Lehnsleute von Hida und diese höhere Macht hatte ihnen befohlen, zusammenzuarbeiten.

»Ich habe nie erlebt, dass Doreni sich hinterhältig verhalten hätte«, sagte Barako.

»Er hält nichts von Haru«, meinte Ochiba. »Er wird nicht einfach hinnehmen, dass dieser Daimyo wird.«

»Du befürchtest, dass er seinen eigenen Ehrgeiz mit seiner Sorge um Morgenröte verwechselt.«

»Aus seiner Sicht eine große Versuchung.«

»Das stimmt. Und eine noch größere, wenn Haru nicht zurückkehren sollte. Aber er wird zurückkehren.«

»Ja, natürlich.« Jetzt nahm Ochibas Stimme wieder einen neckischen Ton an. »Schließlich ist er noch nicht fertig damit, dich anzuschmachten.«

Barako seufzte und biss die Zähne zusammen, als sie sah, wie ein Grinsen an den Mundwinkeln von Ochibas ansonsten ausdruckslosem Gesicht zupfte. Sie bemühte sich um einen ernsten Ausdruck. »Er scheint gegen meine Gleichgültigkeit immun zu sein.«

Das Grinsen gewann die Oberhand. »Gleichgültigkeit?«

Barako lachte. Sie konnte nicht anders, wenn Ochiba auf diese Weise lächelte. »Ich werde nicht offen zugeben, dass ich den Erben der Daimyo verachte.«

»Ist wohl auch besser so.«

»Alles andere wäre auch sinnlos. Haru sieht nichts, was er nicht sehen will.«

Ochiba schüttelte den Kopf. »Da tust du ihm unrecht. Im Gegensatz zu dir kann ich beobachten, wie er dich ansieht, und seinen Gesichtsausdruck sehen, während du seinem Blick ausweichst. Deine … sagen wir Gleichgültigkeit trifft ihn. Sie trifft ihn sehr. Und viele seiner Fehler rühren nur daher, dass er versucht, sich deiner Gunst würdig zu erweisen.«

»Meiner Gunst«, murmelte Barako. Die Worte schmeckten wie verdorbenes Fleisch. »Wenn er es so deutlich fühlt, wie du sagst, dann ist die Hartnäckigkeit, mit der er immer noch von mehr träumt, ein Zeichen des Wahnsinns.«

»Ganz und gar nicht«, sagte Ochiba. »Deine bloße Existenz schmerzt ihn. Er kann dich nicht haben und kann nicht sein wie du.«

»Das gilt auch für dich.«

»Aber er erwartet, dass ich sein Hauptmann werde, wenn er Daimyo wird. Und meine Situation ist allgemein bekannt.«

Barako nickte, vermied aber, Ochiba direkt anzusehen. Er kann dich nicht haben. Die Worte hallten in ihrem Kopf wider und in ihrem Herzen.

Ochibas engste Familie hatte gewollt, dass sie eine Hofdame wurde. Schon bei ihrer Geburt war ein passender Ehemann für sie ausgesucht worden. Jeder Schritt ihrer politischen Karriere war geplant gewesen.

Sie selbst jedoch hatte anders entschieden. Sie hatte den Weg des Schwertes gewählt. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie gewusst, dass es ihr bestimmt war, eine Bushi zu werden, keine Hofdame.

Also hatte Ochiba sich dem Willen ihrer Eltern widersetzt, wenn auch zunächst nicht offen. Ihre Entscheidung aber war unumstößlich gewesen. Heimlich hatte sie mit ihrer Klinge geübt und den Zeitpunkt ihrer offenen Rebellion mit demselben strategischen Scharfsinn geplant, der später ihren Kommandostil auszeichnen sollte. In einem Grenzdisput mit dem Kranich-Klan hatte sie sich bewiesen. Sie hatte gezeigt, dass sie als Kriegerin so hervorragend war, wie sie es als Hofdame nie hätte sein können. Im Land des Krabben-Klans konnte man solche Fähigkeiten gut gebrauchen. Also musste ihre Familie nachgeben, aber ihre Weigerung, zu heiraten, hatte ihr ein Opfer abverlangt. Um keine Schande über die Familie zu bringen, hatte sie auch jeder anderen Vereinigung abgeschworen. Wenn ihr Pfad das Schwert war, dann musste sie sich diesem Pfad auch voll und ganz verschreiben und nicht davon abweichen.

Das hatte sie seitdem getan und tat es noch.

Barako würde Ochiba nie in Versuchung führen, diesen Schwur zu brechen. Sie würde sie nie darum bitten, etwas Schändliches zu tun. Und sie würde alles tun, damit Ochiba nie auch nur ahnte, dass Barako einen solchen Vorsatz hatte treffen müssen.

»Dann muss ich mich in mein Schicksal fügen«, sagte sie seufzend.

»Eine Ehe mit Haru?«, fragte Ochiba grinsend.

Barako sah sie gespielt wütend an. »Seine sinnlose Aufmerksamkeit.« Sie sah noch einmal zum Himmel. Die Wolken wurden dunkler und hingen tiefer. »Das Unwetter wird bald hier sein.«

»Stimmt. Wenn Haru uns heute erreichen will, muss es bald sein.«

Stumm hielten sie nebeneinander Wache. So sehr verdunkelte sich der Himmel, dass Barako nicht einmal mehr den Galgenhumor aufbringen konnte, mit dem Ochiba und sie ihre Sorgen im Zaum gehalten hatten.

Wenn du diese Karawane verloren hast, Haru … Wenn du die Erwartungen deiner Daimyo dermaßen enttäuscht hast, dass sie ihre Herrschaft über Morgenröte verliert, dann bist du nicht besser als ein Verräter und ich werde dein Andenken verfluchen. Sei kein Held. Sei kompetent. Das ist doch nicht zu viel verlangt.

»Ich glaube, ich sehe ihn«, sagte Ochiba.

Auch Barako sah es – eine Bewegung am Horizont, kleine, dunkle Schemen vor dem immer grauer werdenden Himmel. Schon bald konnte sie die Umrisse von Leuten, Pferden und Wagen ausmachen. Ochiba sandte die Wachen aus dem anderen Turm aus, um Akemi mitzuteilen, dass die Karawane näher kam.

Barako sah, wie die Prozession die ersten Ausläufer des Berges erreichte, auf dem Morgenröte lag, und sich an den langsamen Aufstieg machte. »Weniger als die Hälfte«, stellte sie fest.

Ochiba presste verärgert die Lippen zusammen. Barako wusste, dass es nicht daran lag, dass sie ihre Wette verloren hatte, sondern weil Haru eine so schlechte Leistung erbracht hatte. »Das sieht nicht gut aus«, meinte sie. »Es wird Dorenis Position stärken.«

»Aber sieh ihn dir an.« Barako warf dem berittenen Schemen, der die Karawane anführte, einen finsteren Blick zu. »Man kann bis hier oben spüren, wie stolz er ist. Er sitzt da hoch zu Ross, als kehre er als Sieger von einem Feldzug heim.«

»Das ist allerdings merkwürdig«, antwortete Ochiba. »Arroganz sieht ihm nicht ähnlich. Normalerweise besitzt er wenigstens den Anstand, zu wissen, wann er sich schämen sollte.«

»Dann hat er einen Grund, stolz zu sein. Oder er glaubt es zumindest.«

Die beiden Samurai sahen einander an. Barako hatte Haru auf dem Schlachtfeld immer eher als Grund zur Besorgnis angesehen. Aber sie wusste auch, dass er selbst diese Meinung durchaus teilte. Nun kehrte er mit nur einem Teil der Karawane nach Morgenröte zurück, fühlte sich aber augenscheinlich dennoch als Sieger.

Eine Vorahnung ließ ihren Nacken kribbeln.


Sie alle hatten vor dem Tor auf ihn gewartet. Seine Mutter hatte feierlich an der Spitze gestanden. Doreni hatte, seinem Stand als dauerhafter Ehrengast entsprechend, an ihrer Seite gewartet, nur einen halben Schritt dahinter. Er hatte sich demonstrativ Mühe gegeben, ein verärgertes Stirnrunzeln zu verbergen, obwohl Haru sich sicher war, dass Doreni insgeheim froh war, den Sohn der Daimyo erneut scheitern zu sehen. Hinter diesen beiden hatten Ochiba und Barako gestanden, ihre Gesichter unbewegt, ihre Augen wie gewohnt nach Bedrohungen Ausschau haltend.

Sie alle hatten ihn in dem Moment, als er angekommen war, als Versager gesehen. Dann musste ihnen Ishikos ernster Gesichtsausdruck aufgefallen sein und sie hatten begriffen, dass der Zustand der Karawane nicht die wichtigste Neuigkeit war, die sie mitbrachten.

»Daimyo Akemi«, hatte Haru gesagt, »ich muss Euch sprechen. Die Angelegenheit ist dringlich.«

Während also die Karawane durch das Tor zog und damit begann, ihre Waren in den riesigen Vorratskammern auf der Ostseite der Burg zu verstauen, folgte Haru Akemi und ihren Kommandantinnen über den Burghof und durch den Haupteingang. In der Eingangshalle wandten sie sich nach links zur großen Halle. In der Feuerstelle in der Mitte des Raums prasselte ein Feuer. Auf einer erhöhten Plattform an der Westseite stand ein vergoldeter Gelehrtensessel. Auf diesem nahm seine Mutter nun Platz und bedeutete ihm zu sprechen.

Haru hatte Ishiko mitgenommen. Es war erniedrigend, dass er das Gefühl hatte, für seinen Bericht einen Zeugen zu brauchen. Es war aber auch realistisch.

Ihm war bewusst, wie die anderen ihn sahen. So wie er sich selbst sah.

Er hielt dem Blick seiner Mutter stand, während er ihr berichtete, was er entdeckt hatte, ihnen ein Wunder enthüllte und ruhig, aber bestimmt durch seine Entdeckung deutlich machte, dass er im Schicksal von Morgenröte eine bedeutende Rolle zu erfüllen hatte.

Als er geendet hatte, sah er auf, betrachtete die Gruppe vor sich und wartete auf ihre Reaktion. Eines Tages würde er sie alle befehligen. Er fürchtete sich vor diesem Tag, weil er niemals gut genug sein würde, ihre Erwartungen zu erfüllen. Heute aber würden sie über ihn urteilen. Vor der Entdeckung der geisterhaften Stadt hatte er sich vor diesem Augenblick, vor dem Blick dieser Leute, die ihm, ungeachtet ihres Rangs, überlegen waren, gefürchtet. Doch seit sie die Höhle verlassen hatten, freute er sich darauf. Dieses eine Mal hatte er keine Angst, Schande über sich gebracht zu haben. Er ging davon aus, dass einige von ihnen, vielleicht sogar alle, ihm nicht glauben würden. Das machte nichts. Er hoffte es sogar fast. Denn er hatte einen Beweis. Wie süß dieser Triumph schmecken würde!

Akemi lehnte sich vor und betrachtete Haru eingehend. Seine Mutter sah älter aus, als sie eigentlich war. Ihr Haar war grau und ihr Gesicht war von Wind, Krieg und Sorge gezeichnet. Ihre Augen lagen zwischen tiefen Falten. Sie glänzten schwach, weise und umsichtig, gaben aber nichts preis. Vor dreißig Jahren bei der Verteidigung des Walls war sie am linken Bein schwer verwundet worden. Seitdem benutzte sie einen Gehstock aus geschnitztem und poliertem Bambus. Und sie war noch fast ebenso tödlich wie damals. Ihre Bewegungen waren nach wie vor geschmeidig und kräftig. Die Zeit hatte die Grundfesten ihres Selbst abgetragen, aber ihren inneren Stahl gehärtet. Er war äußerst scharf und hinterließ tiefe Wunden.

Von Harus Position aus standen Ochiba und Barako links von Akemi. Äußerlich waren sie sehr unterschiedlich, aber wer sie einmal auf dem Schlachtfeld erlebt hatte, wusste, dass sie eine Einheit bildeten. Ochiba war klein und drahtig. Barako war groß, größer als alle anderen im Raum, und hatte so breite Schultern, als wäre sie der Kaiu Kabe selbst entsprungen. Ochibas lange, dunkle Zöpfe schwangen bei jeder ihrer schnellen Bewegungen mit. Barako hatte ihre kürzeren Haare zu einem festen Knoten hochgesteckt, über den sie jederzeit ihren Helm ziehen konnte, falls nötig. Ihr jeweiliges Erscheinungsbild passte auch zu ihrem Verhalten im Kampf. Ochiba war der Blitz, der in den Feind einschlug. Barako war der darauffolgende Donner, der ihn vernichtete. Ochiba verwendete ein Katana, Barako einen Hammer. Ochibas Führungsstil war wagemutig, Barako war etwas vorsichtiger. In ihrer Zusammenarbeit ging Ochiba notwendige, kalkulierte Risiken ein und Barako sorgte dafür, dass sie Erfolg hatten. Sie waren die Geschwindigkeit und die Stärke der Kakeguchi.

Die beiden ließen ihn ebenso wenig aus den Augen wie die Daimyo. Barakos Züge waren schmal und scharf geschnitten, ihre Nase gerade wie die Schneide eines Schwerts. Sie blickte so unbewegt drein wie immer. Ochibas runderes, lebendiges Gesicht, das sonst immer so schnell lächelte oder die Stirn runzelte, war ebenso neutral. Haru konnte nicht sagen, ob eine der Bushi ihm glaubte.

Bei Doreni, der rechts am Fuße des Podiums stand, hatte er hingegen keine Zweifel. Der Bushi der Familie Hiruma sah ihn finster an, seine hohe Stirn in ärgerliche Falten gelegt. Sein Gesicht war fast ebenso kantig wie Barakos, was durch den spitzen Kinnbart noch betont wurde. Wenn er still dastand, wie jetzt gerade, sah er aus wie aus Eichenholz geschnitzt, schlank und stark, nur zweimal so hart und unnachgiebig.

Einige Schritte von Doreni entfernt, als wollte er sich durch diesen Abstand von den politischen Strömungen auf der Burg der Morgenröte distanzieren, stand Junji. Der gedrungene Mönch mit dem rasierten Kopf schien abgesehen von Ishiko der Einzige zu sein, der keine Schwierigkeiten hatte, Haru zu glauben. Auch Junjis Miene war finster, aber er sah an Haru vorbei in die Ferne, auf etwas jenseits der Mauern und jenseits dieses Augenblicks.

An der rechten Seitentür klopfte es. Akemi lehnte sich in ihrem Sessel zurück und nickte dem Wächter zu. Der Bushi öffnete die Tür und ein Krieger der Hiruma marschierte so stramm herein, dass die Absätze seiner Stiefel auf den hölzernen Bodendielen klackten. Er verbeugte sich vor Akemi, flüsterte Doreni etwas zu, worauf dieser brummte, und zog sich zurück.

Doreni wandte sich an Akemi. »Ich habe eine Inventur unserer Lager vornehmen lassen, Daimyo«, sagte er. »Es ist, wie ich befürchtet hatte. Nach den Verlusten, die die Karawane erlitten hat, können wir nur hoffen, dass der Winter nicht zu lange anhält.«

»Wir haben genug«, antwortete Akemi, ohne den Blick von Haru zu nehmen.

»Vielleicht. Wenn wir es uns gut einteilen.« Auch Doreni sah nun wieder Haru an. »Aber es wird knapp.«

»Eure Sorge wurde zur Kenntnis genommen, Leutnant Doreni. Wir werden uns zu gegebener Zeit darum kümmern und es ist auch nicht das erste Mal, dass wir das tun.«

»Wir sollten aber nicht dazu gezwungen sein.«

Der herausfordernde Unterton in seiner Stimme ließ Ochiba vortreten.

»Ruhig Blut, Hauptmann Ochiba«, sagte Akemi. »Wir müssen offen über diese Sache sprechen. Wie es aussieht, steht sehr viel auf dem Spiel.«

»Mehr, als notwendig gewesen wäre«, wandte Doreni ein.

»Wir verstehen Euch sehr gut«, antwortete Akemi. »Aber ich glaube, wir sind uns auch einig, dass die Frage, worum es sich bei dieser Stadt handelt, dringender ist als der langfristige Zustand unserer Lagerhallen.«

»Dann erlaubt mir, das weiter auszuführen, Daimyo«, sagte Doreni. »Wir haben nur den Bericht von Kakeguchi Haru, um zu entscheiden, was wir tun sollen. Wenn ich gewisse Situationen auf dem Schlachtfeld bedenke, habe ich Zweifel an der Richtigkeit seiner Ausführungen.«

»Wollt ihr damit sagen, dass er eine ganze Stadt halluziniert hätte?« In Barakos Stimme schwang Ärger mit.

Sie hat mich verteidigt! Haru wurde ganz schwindelig.

Doreni kam aus dem Konzept. »Nein, das wollte ich natürlich nicht.«

»Er hat Euch genau das berichtet, was wir gesehen haben«, warf Ishiko ein.

»Ihr seid eine ehrenhafte Bushi«, sagte Doreni. »Ihr steht Eurem Kommandanten bei. Aber Loyalität kann auch fehlgeleitet sein und in solchen Fällen führt sie zu schweren Fehlern. Oder möchte mir da jemand widersprechen?« Er machte eine Pause. Als niemand etwas sagte, fuhr er fort: »Dann, bei allem gebührenden Respekt, reicht dieser Bericht nicht aus, so leid es mir tut.«

»Sicher, sicher.« Junji klang ungeduldig. Er schien kaum auf die Spannungen im Raum zu achten. »Aber erst einmal sollten wir uns alles anhören, was Leutnant Haru zu sagen hat.«

»Leutnant Dorenis Zweifel sind verständlich.« Haru lächelte und sah, wie ein Hauch von Beunruhigung über das Gesicht des Hiruma huschte. Doreni war nicht darauf gefasst gewesen, dass er so selbstsicher sein würde. »Mir sind meine Fehler in der Vergangenheit bewusst. Deshalb habe ich das hier aus der Stadt mitgebracht.« Er zog den Talisman aus seinem Beutel und ließ ihn an seiner Kette vor der Versammlung baumeln. Er glänzte matt und reflektierte den Schein des Feuers.

Alle Anwesenden starrten das Jadestäbchen an. Junji trat einen Schritt vor, dann noch einen wenn auch zögerlichen Schritt. Näher schien er nicht herangehen zu wollen. »Wo habt Ihr das gefunden?«, wollte er wissen.

»In einem Wachturm.« Haru hoffte, dass Junji bestätigen würde, wie wichtig seine Entdeckung war. Das Problem war, dass Junji sich ungern auf irgendetwas festlegte.

»Aber wo genau?«, fragte der Mönch.

»Es hing vom Dach herab.«

»Einfach so, frei zugänglich?«

»Ja. Ich kann nicht sagen, warum es da hing, aber das tat es nun mal.«

»Sagt es Euch etwas?«, fragte Akemi an Junji gewandt.

»Nein, Daimyo, nichts.« Er kam nun doch näher und streckte zögernd die Hand aus. »Darf ich?«

»Bitte.« Haru legte Junji das Amulett in die Hand.

Bei der Berührung zuckte der Mönch leicht zusammen, als hätte er erwartet, dass es ihn verbrenne, und stattdessen eine Bewegung gespürt. Er sah auf den Anhänger hinab. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand fuhr er die spiralförmige Verzierung nach. »Zähne«, murmelte er und schüttelte angewidert den Kopf.

Akemi stand auf und kam zusammen mit den anderen näher. Sie alle drängten sich um Junji.

»Das Muster ist unangenehm«, stellte Barako fest.

»Und doch faszinierend«, murmelte Ochiba.

»Ja.«

»Es ist von derselben Art wie das Muster, das ich dort überall gesehen habe«, sagte Haru. »Es wiederholt sich nicht, aber es … es windet sich. Genau so.« Er bemühte sich, Autorität in seine Stimme zu legen. »Meiner Meinung nach ist es ein Sinnbild für die Stadt, vielleicht ein Hinweis darauf, was sie früher einmal war.«

»Woraus besteht es?«, wollte Akemi wissen.

»Aus weißer Jade, oder?« Vor plötzlicher Unsicherheit zog sich Haru der Magen zusammen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Junji. »Ich weiß es nicht.«

»Wir müssen mehr herausfinden.« Akemi klang sehr besorgt.

»Ja!«, stimmte Haru zu. »Ja, das müssen wir!« Sein Herz schlug vor Triumph schneller. Genau das hatte er erhofft. Endlich hatte er etwas Bedeutendes für Morgenröte zustande gebracht. Lass dir diesen Moment nicht entgleiten! »Jetzt, da wir wissen, dass es die Stadt gibt, dürfen wir sie nicht ignorieren. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Der Winter ist angebrochen und wenn wir noch lange zögern, ist es zu spät. Wir können nicht bis zum Frühling warten.«

»Was schlagt Ihr also vor?«, fragte Ochiba.

»Wir müssen sofort zurückkehren, und zwar mit einer ganzen Truppe. Daimyo, ich bin bereit, die Expedition zu leiten.«

Akemi schüttelte den Kopf. »Niemand geht dorthin.«

»Aber …«

Sie hob eine Hand. » Vorerst geht niemand. Ich stimme zu, dass die Stadt untersucht werden muss. Sie stellt eine potenziell schwere Bedrohung dar. Aber ich werde niemanden dorthin entsenden, niemanden, solange wir nicht alles in unserer Macht Stehende getan haben, um mehr zu erfahren. Für den Anfang werden wir die entsprechenden Rituale vollziehen.«

Haru neigte den Kopf. »Natürlich.« Außerdem würde jedes Mitglied der Karawane auf Wunden, Prellungen oder andere Formen von Verletzung untersucht werden, ganz besonders Ishiko und er selbst. Morgenröte war nicht bedeutend genug, dauerhaft einen Kuni-Shugenja zu beherbergen, und es war schon einige Zeit her, seit das letzte Mal einer von ihnen die Burg besucht hatte, also würde Junji die Untersuchungen vornehmen.

Akemi wandte sich an den Mönch: »Ich überlasse Euch den Anhänger. Haben wir irgendeine Möglichkeit, herauszufinden, um welche Stadt es sich handelt? Sie kann doch nicht zum ersten Mal entdeckt worden sein.«

Junji nickte. »Das halte ich auch für unmöglich. Ich sehe, was ich finden kann.« Immer noch betrachtete er das Amulett. »Ich glaube nicht, dass es sich um weiße Jade handelt. Das Material sieht ihr sehr ähnlich, aber irgendetwas stimmt nicht. Wir sollten alle Vorsichtsmaßnahmen gegen Einflüsse aus den Schattenlanden verstärken.«

»Das werden wir.« Akemi nahm ihren Stock und entfernte sich von der Plattform, ein deutliches Zeichen, dass das Gespräch beendet war. »Verdoppelt die Wachen«, befahl sie. »Wir alle sollten wachsam sein. Dieser Anhänger ist vielleicht nicht das Einzige, was aus dieser Stadt zu uns kommt.«

Ochiba, Barako und Doreni neigten rasch die Köpfe zum Zeichen, dass sie verstanden hatten. Haru genoss den Ausdruck auf Dorenis Gesicht. Aller hämischer Triumph war daraus gewichen. Er blickte immer noch finster drein, aber nicht mehr mit der zuvor so theatralisch zur Schau gestellten Missbilligung.

Barako hat sich für mich eingesetzt!

Haru wandte sich in ihre Richtung, um ihr zu danken, aber sie marschierte bereits hinter Ochiba aus dem Raum und drehte sich nicht noch einmal zu ihm um.

Legend of the Five Rings: Fluch der Ehre

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