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Kapitel Drei

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Die Schreie der Händler erfüllten die bedrückende Dunkelheit. Die Wehklagen erklangen dicht neben ihm, aber es war so finster, dass Haru die Kaufleute nicht sehen konnte. Er musste für sie ebenso unsichtbar sein. Einige Augenblicke lang konnte er sich in Vergessen hüllen und nicht daran denken, wie grandios er gescheitert war und wie hoch der Preis sein musste. Einige Augenblicke lang, auch wenn er es sich nicht gern eingestand, konnte er sich in der Illusion ausruhen, nicht verantwortlich zu sein. In dieser Leere brauchte er nichts mehr zu tun.

»Ich bin hier, Leutnant Haru«, sagte Ishiko.

Sein Name war gefallen. Die Illusion war vorbei. Er wurde aufgefordert, seine Pflichten wieder aufzunehmen.

»Und ich bin hier«, meldete Hino. »Eikei ist bei mir.«

Von Fujiki hörte er nichts.

»Licht«, befahl Haru.

Nach einiger Fummelei gelang es Chen, seine Laterne zu entzünden. Ihrem Lichtschein folgten weitere, als auch andere der überlebenden Händler ihre Laternen fanden, und man erkannte allmählich, wo sie sich befanden.

Die Karawane stand in einer tiefen Höhle. Der Eingang, von der Lawine vollständig blockiert, hatte einen Durchmesser von etwa fünf Metern. Dahinter stieg die Decke an, während die Höhle sich immer tiefer in den Felsen grub, bis sie ein hoher Spalt war, wie von einer gewaltigen Axt gehauen. Nach etwa fünfzehn Metern wurde der Durchgang wieder schmaler, bis er nur noch eine etwa eineinhalb Meter breite Kluft war, die im Herzen des Berges verschwand.

Haru atmete tief ein und begann dann, gemeinsam mit seinen Bushi eine Inventur vorzunehmen und die Verluste zu zählen.

»Etwas mehr als die Hälfte der Karawane ist geblieben«, fasste Ishiko zusammen, als sie fertig waren.

Er nickte. Der Rest der Karawane war weg, genau wie Fujiki. Niemand sagte, dass sie Glück gehabt hatten, nicht mehr verloren zu haben. Die Schande des Verlusts war zu groß.

Haru ergriff eine Laterne und ging an den Kaufleuten vorbei zum Eingang. Dort erwartete ihn eine solide Wand aus Schnee.

»So schnell werden wir hier nicht wieder herauskommen«, sagte Ishiko.

»Das brauchen wir auch nicht«, antwortete Haru. »Hier drinnen sind wir sicher vor dem Unwetter. Wir haben genug zu essen und Wasser können wir einfach schmelzen.« Sie könnten fast unbegrenzt in dieser Höhle überleben. »Und wir graben uns nach draußen, so lange es auch dauert. Wenn der Sturm vorbei ist, ziehen wir weiter. Falls nicht, warten wir ab. Teile die Arbeiter in Schichten ein. Jede gräbt eine Stunde. Das wird sie ablenken.« Er wandte sich den Händlern zu. »Wir sind in Sicherheit«, wiederholte er, lauter diesmal. »Die Gefahr ist vorbei. Wir werden uns einen Weg bahnen, damit wir bereit sind, sobald wir unsere Reise fortsetzen können.« Er wählte seine Worte mit Bedacht und stellte den Schnee als einen hilfreichen Schutz dar, nicht als eine undurchdringliche Mauer, die sie hier drinnen festsetzte.

Haru und seine Bushi führten die Grabungsteams an. Er wollte mit diesem Eifer ein Zeichen setzen und mit seiner ruhigen Entschlossenheit noch einmal betonen, dass sie nichts zu befürchten hatten.

Das zumindest redete er sich selbst ein.

Und es funktionierte. Die Entscheidung war richtig gewesen. Haru übernahm die erste Schicht und nutzte einen der Spaten aus den Vorräten der Karawane. Er selbst zerstörte mit den ersten Spatenstichen die Makellosigkeit des Schnees. Die unversehrte weiße Mauer war ein zu bedrückender Anblick gewesen. Zu endgültig. Indem er auf diese Wand einstach, verwandelte er sie zurück in Schnee. Vor ihnen lag eine lange, harte Aufgabe, aber sie schien nicht mehr unmöglich. Die Kaufleute in seiner Schicht bearbeiteten die Wand mit Feuereifer.

Das Gejammer, das in der Dunkelheit zunächst erklungen war, verstummte. Die Händler beklagten nicht mehr ihre Verluste. Sie waren dankbar, unter den Überlebenden zu sein. Und sie dankten ihrem Retter.

»Leutnant Haru«, sagte Chen, während er den Schnee hinter sich schaufelte, »wir stehen für immer in Eurer Schuld. Eure Voraussicht hat uns gerettet.«

Haru brummte und arbeitete weiter. Dabei musste er die Zähne zusammenbeißen, um den Händler für seine Schmeicheleien nicht zusammenzustauchen. Ich verdiene euren Dank nicht.

»Leutnant Haru …«, begann Chen erneut.

Sei endlich still! »Spart Euren Atem für die Arbeit«, sagte Haru kühl, aber er verlor nicht die Fassung.

Chens Dankesworte trafen ihn. Sie durchdrangen den Panzer, den Haru durch die harte Arbeit um seine Gedanken aufbauen wollte.

Voraussicht. Welch bittere Ironie. Wäre Chen nicht solch eine rückgratlose Kreatur, hätte Haru ihn im Verdacht gehabt, ihn verspotten zu wollen. Wie angenehm wäre es gewesen, wie schön, sagen zu können, dass er von dieser Höhle gewusst hatte, dass sie von Anfang an sein Ziel gewesen war. Stattdessen hatte er es nur dem Glück, oder dem Schicksal, zu verdanken. Beides beschämte ihn. Er konnte nicht sagen, mit welchem er sich unwohler fühlte.

Chen schwieg jetzt, aber es war zu spät. Haru bearbeitete den Schnee, als sei er seine Wirklichkeit gewordenen Schuldgefühle. Vor Anstrengung schwitzte er. Seine Muskeln schmerzten, als er sich selbst zu bestrafen versuchte, indem er seinen Spaten jedes Mal so voll lud, dass er ihn gerade noch heben konnte. Seine Gedanken brachte das nicht zur Ruhe.

Immer wieder sah er Barakos Gesicht vor sich. Sie sah ihn nicht so an, wie er es sich so oft gewünscht hatte, voller Zärtlichkeit. Stattdessen sah er nur Verachtung in ihren Augen. In Wirklichkeit hatte er auch das noch nie erlebt. Nie hatte in ihrem Blick etwas anderes als respektvolle Gleichgültigkeit gelegen.

Haru machte sich nichts vor, was ihn und Barako anging. Er würde, wenn es so weit war, die Frau heiraten, die seine Mutter für ihn auswählte, aus politischen Gründen und um ihr Geschlecht zu erhalten. Barako war Kriegerin, keine Hofdame. Sie diente unter Ochiba, der Kommandantin der Wache der Burg der Morgenröte.

Doch die Tatsache, dass eine Heirat mit Barako keinen politischen Vorteil brächte, war nur ein Hindernis. Ein weiteres war Harus Inkompetenz. Seine Leistungen auf dem Schlachtfeld waren ihrer einfach nicht wert. Nichts, was er bisher getan hatte, hatte ihm ihren Respekt eingebracht, und schon gar nicht ihre Bewunderung. Dieser neutrale, gleichgültige Blick schmerzte. Er hätte ganze Berge versetzt, damit sie ihm gegenüber einmal eine andere Emotion zeigte.

Na, das habe ich ja jetzt geschafft. Ich habe einen Berg über uns hereinbrechen lassen.

Nein, was Barako anging, gab er sich keinerlei Illusionen hin. Aber er konnte träumen. An diese Träume hatte er gedacht, als er die Karawane aus ihrer relativen Sicherheit hinaus auf den offenen Felskamm getrieben hatte. Und er stellte sich jetzt ihren Blick vor, wenn er Morgenröte endlich erreichte, mit bestenfalls einer halben Karawane. Die Verachtung, die darin liegen würde, war ein weiterer Traum, ein Albtraum. Er war auch nicht realer als die Zärtlichkeit, die er sich gewöhnlich vorstellte. Barako war ein Musterbild an Ehre. Sie würde ihn ebenso wenig ihre Enttäuschung spüren lassen wie irgendwelche verbotenen Leidenschaften.

Das heißt nichts. Sie kann nichts zeigen, was sie nicht empfindet.

Haru schaufelte noch schneller. Sei endlich still!, rief er stumm, diesmal an sich selbst gerichtet, nicht gegen Chen. Vergiss es einfach. Es spielt keine Rolle. Es wird nie eine Rolle spielen. Deine Träume waren albern. Und nun sind sie endgültig ausgeträumt. Versuch, so viele wie möglich nach Hause zu bringen. Nur das zählt noch.

Haru stürzte sich in die Arbeit. Gern hätte er sich der totalen Erschöpfung hingegeben. Je mehr die Gedanken an Barako und an seine Schmach ihn heimsuchten, desto entschlossener arbeitete er, um sie loszuwerden. Er grub in einem erbarmungslosen Rhythmus, bis sich die Höhle wie ein Heizofen anfühlte. Die Kälte des Winters war in weite Ferne gerückt. Nur gelegentlich spürte er sie noch im Nacken, ein winziger kalter Fleck. Er zerrte an seiner Wahrnehmung. Die Kälte, die durch den Schweiß drang, ließ seine Haut prickeln.

Kurz bevor seine Schicht endete und als Barako, trotz all seiner Bemühungen, noch einmal vor seinem inneren Auge stand, hörte er das Flüstern. Nah und fern, ein Hauch an seinem Ohr und ein Echo in den Sternen. Sobald er aufhörte, sich zu bewegen, verschwand auch das Flüstern.

Das war ihre Stimme.

Nein, war es nicht. Du hast es nicht richtig gehört. Du hast ja nicht einmal verstanden, was gesagt wurde. Du musst dich verhört haben.

Als seine Schicht vorüber war, zog Haru sich weiter in die Höhle zurück, weg von den Kaufleuten und anderen Bushi. Mit etwas Abstand zum Arbeitslärm begann er seine Wache und lauschte auf das Flüstern.

Er hörte es nicht noch einmal. Aber er entdeckte, warum sich sein Nacken kalt angefühlt hatte. Ein Luftzug wehte aus den Tiefen der Höhle, nur gelegentlich und so sacht, dass er ihn gar nicht bemerkt hätte, wenn die Luft nicht so eisig gewesen wäre. Der Luftzug kam in größeren Abständen, wie ein langsamer Seufzer des Berges.

Während Haru in die Dunkelheit der Höhle blickte, fragte er sich, wie weit der schmale Felsspalt an ihrem Ende reichen mochte.

Ishiko hatte das Kommando über diese Grabungsschicht inne. Haru beobachtete sie, wartete dabei darauf, dass ihn der nächste kalte Luftzug streifte, und lauschte immer noch auf das Flüstern. Allmählich verlor er sein Zeitgefühl. Plötzlich zuckte Ishiko zusammen, sah sich erschrocken um und grub dann weiter.

Haru hatte nichts gehört. Er warf einen Blick auf die anderen Bushi. Eikei war nach wie vor bewusstlos und zu schwer verletzt, um von Nutzen zu sein. Hino schlief, um Kräfte zu sammeln, bevor sie mit Schaufeln und Wachehalten dran war. Haru wartete, bis die Sanduhr, die er von einem der Wagen genommen hatte, das Ende seiner Schicht anzeigte. Nach seiner Schätzung war es die Stunde des Ochsen.

Ishiko weckte Hino und kam dann zu Haru, um ihn bei der Wache abzulösen.

»Was habt Ihr eben gehört?«, fragte Haru.

Ishiko zögerte. Aber er hatte ihr gar nicht erst die Möglichkeit gelassen, zu behaupten, dass sie nichts gehört hätte. »Ich dachte, ein Flüstern gehört zu haben«, sagte sie schließlich.

»Und was wurde geflüstert?«

»Keine Ahnung. Ich muss mich geirrt haben.«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Haru.

Sie nickte, um ihm zu zeigen, dass die Botschaft angekommen war.

Erneut spürte er den Atem des Berges in seinem Nacken. »Was haltet Ihr von diesem Luftzug?«, fragte er.

»Ich bin nicht sicher. Vielleicht kommt er von einem anderen Eingang?«

»Genau das dachte ich auch.« In Gedanken versuchte Haru, das Wispern von dem Luftzug zu trennen. Es gab andere Erklärungen, aber weder er noch Ishiko wollten sie aussprechen. Noch nicht. »Wir sollten untersuchen, wie weit diese Höhle reicht«, fügte er hinzu. »Und wo sie hinführt.«

Ishiko nickte.

Kurz sagten sie Hino Bescheid. Dann nahm Ishiko eine der Laternen und sie begaben sich tiefer in die Dunkelheit hinein. Die Höhle schrumpfte hier zu einem Tunnel zusammen. Eine Decke konnten sie nicht erkennen. Ishiko hielt die Laterne hoch. Über ihnen schloss sich der Felsspalt nicht. Er schien bis zum Gipfel des Berges zu reichen.

Schon bald war die Passage gerade einmal anderthalb Meter breit. Gelegentlich bog sie um scharfe Kurven, wurde dann aber wieder gerade und sie gelangten Richtung Westen immer tiefer ins Innere des Berges. Die Geräusche der Grabungsarbeiten drangen schon bald nur noch gedämpft zu ihnen. Kurz darauf waren sie vollends verstummt. Haru und Ishiko waren allein, zwei Ameisen, die durch einen Haarriss im Gestein krabbelten.

In unregelmäßigen Abständen traf sie der kalte Luftzug.

»Ist er hier stärker?«, fragte Haru.

»Mir kommt es so vor«, erwiderte Ishiko.

Die ganze Zeit lauschte Haru auf das Flüstern. Er wollte es noch einmal hören, es begreifen. Gleichzeitig hoffte er, es nicht mehr zu hören, damit er es als Illusion abtun konnte, die Ishiko und er irgendwie zu unterschiedlichen Zeitpunkten geteilt hatten.

Die Luft im Inneren des Berges war still und bedrückend, als würde etwas darin lauern.

Nach etwa einer halben Stunde begann Haru, sich zu sorgen, dass der Tunnel so beständig westwärts führte. Außerdem ging es bergab, schon seit Ishiko und er die Karawane verlassen hatten, und inzwischen war die Neigung steiler geworden.

Offenbar dachte Ishiko ähnlich. »Wenn wir so weitergehen …«

»Ich weiß.« Sie befanden sich jetzt tief im Inneren der letzten Gebirgskette vor der Kaiu Kabe, der Zimmermannsmauer vor den Schattenlanden, jenem Ort der Dunkelheit, wo alles Böse weilte. Dort wohnten all die hungrigen Toten und die dämonischen Oni unter der Herrschaft des gefallenen Kami Fu Leng.

»Wir sind noch weit entfernt«, sagte Haru.

Er versuchte, die genaue Position der Karawane zu bestimmen. Morgenröte lag südlich der Burg der Vergessenen, etwa auf halbem Wege von dort zur Burg Hida. Da der Karawane noch fast ein Tagesmarsch bevorstand, konnte Haru sich ausrechnen, dass sie sowohl im Norden als auch im Süden einen deutlichen Abstand zu einem der zwölf Kaiu-Wachtürme hatten. Sie befanden sich parallel zu einem der Segmente der Ringmauer dazwischen. Es war unmöglich, jeden einzelnen Abschnitt dieser langen Strecke ständig zu patrouillieren. Also waren diese Teile der Kaiu Kabe am verwundbarsten gegenüber Angriffen von den Monstern der Schattenwelt.

Aber selbst wenn der Tunnel ganz durch den Berg verlief – und Haru wollte noch immer nicht so recht daran glauben –, hätten sie immer noch den Wall vor sich. Er hatte wahrlich mit genug echten Katastrophen zu kämpfen, da musste er nicht auch noch welche dazuerfinden.

Dass es so weit hinabging, störte ihn allerdings. Er konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie der Spalt tiefer und tiefer und tiefer ging, unter den Fuß des Berges, und schließlich unter der Mauer hindurch verlief.

Ist das möglich? Es ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber unmöglich ist es nicht.

Was, wenn es so ist? Eine solche Lücke in unserer Verteidigung zu entdecken wäre hervorragend.

Damit könnte er die Schande des Versagens von sich abwenden. Er könnte im Triumph zurückkehren und auch den Respekt und das Ansehen, das er verdiente, wiedererlangen. Er hätte etwas Entscheidendes zum Überleben der Kakeguchi beigetragen, vielleicht sogar zum Erhalt des Walls selbst.

Zu viel Fantasie. Vergiss es und konzentrier dich!

Genug in Wunschbildern geschwelgt. Sich solchen Träumen hinzugeben war eine seiner größten Schwächen. Er lebte zu sehr für seine Hoffnungen. Auf dem Schlachtfeld war ihm das schon mehr als einmal zum Verhängnis geworden. Ochiba und Barako hatten jedes Mal das Desaster für die Familie Kakeguchi noch abwenden können. Und sein Vater. Die Hoffnung, sich in den Augen seiner Mutter, und noch viel mehr in Barakos Augen, beweisen zu können, hatte dazu geführt, dass er die halbe Karawane verloren hatte. Und worauf hoffte er jetzt? Auf etwas Großes und Schreckliches? Wenn er hier tatsächlich etwas derart Bedeutendes fand, dann wäre es auch etwas, das zwei einzelne Samurai unmöglich besiegen konnten.

Ganz bestimmt nicht zwei Samurai unter deiner Führung. Also bleib bei der Sache und mach dir lieber über tatsächliche Konsequenzen Gedanken.

Konsequenzen. Sollte dieser Gang tatsächlich bis in die Schattenlande führen, dann war die Höhle alles andere als eine sichere Zuflucht für die Karawane. Aber das wusste er nicht. Es war genauso gut möglich, dass Ishiko und er einen weiteren Spalt in einer Felswand fanden, der ihnen vielleicht weiterhalf, vielleicht auch nicht, und damit hatte es sich.

Wieder spürte er den Luftzug. Diesmal war er stärker, da war Haru sich sicher. Es war mehr als ein eisiger Hauch an seiner Wange. Eine Brise wehte ihn an. Und da hörte er das Wispern.

Abrupt blieb Haru stehen und legte die Hand auf das Heft seines Katana. »Habt Ihr das gehört?«, fragte er Ishiko. »Das Flüstern?«

»Nein. Konntet Ihr es verstehen?«

Haru schüttelte den Kopf. Aber das stimmte nicht ganz. Obwohl der Luftzug kein Geräusch machte, versteckten sich die geflüsterten Silben irgendwo darin, unter der Kälte. Ihre Anwesenheit ließ sich erahnen, aber nicht ihre Form. Und doch waren es zwei Silben.

Ein Seufzen wie vor Hunger. Aaaaaaaaaaah …

Ein durchtriebenes Stöhnen. Uuuuuuuuuuuh …

Das war nicht mein Name. Ich habe nicht meinen Namen gehört. Ich suche nur nach einem Muster.

Aaaaaaah … uuuuuuuh …

Nicht mein Name. Nicht mein Name.

Er würde Ishiko erst davon erzählen, wenn er sich sicher war. Es war besser, wenn sie unvoreingenommen auf das Flüstern lauschte.

Es dauerte etwas, bevor der Luftzug wiederkam. Diesmal war er stärker als je zuvor, kälter und er hielt länger an.

Ishiko sog scharf die Luft ein.

Haru blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Ihr habt nicht Euren Namen gehört.«

Ishiko starrte ihn an. »Woher wusstet Ihr …?«

»Weil ich vorhin nicht meinen Namen gehört habe.«

Sie nickte langsam.

»Das ist das erste Mal, dass Ihr das Flüstern gehört habt, seit wir die Karawane verlassen haben?«, fragte Haru.

»Ja. Habt ihr das gerade eben nicht gehört?«

Er schüttelte den Kopf.

»Vielleicht sind es nicht unsere Namen.« Ishiko klang eher hoffnungsvoll als überzeugt.

»Aber es ist real«, stellte Haru fest.

»Meint Ihr, wir sollten weitergehen, Leutnant Haru?«

»Ich denke, wir sollten wissen, worin diese Bedrohung besteht. Falls es überhaupt eine ist. Wir gehen vom Schlimmsten aus. Vielleicht haben wir ja unrecht.«

»Dann glaubt Ihr, dass es für die Karawane eine größere Gefahr bedeuten würde, wenn wir nicht weitergehen?«

»Das glaube ich.« Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst und denke an die Folgen meiner Taten. Die Entscheidung fühlte sich richtig an.

Sie gingen weiter, immer noch Richtung Westen, immer noch abwärts. Die Brise schwoll bald zu einem Wind an, der immer häufiger wehte, bis er schließlich unablässig blies. Die Atemzüge, die Haru zuvor gespürt hatte, entpuppten sich nun als derart kräftige Windstöße, dass nicht einmal all die Kurven und Wendungen des Gangs sie komplett abhalten konnten.

»Wir müssen nah an einem Ausgang sein!« Haru musste die Stimme erheben, um das schrille Heulen des Windes zu übertönen.

Schnee wurde von irgendwoher hereingeweht. Die Flocken flogen mit schneidender Kälte durch den Tunnel. Geflüster war nicht mehr zu hören, aber das Fauchen des Windes klang manchmal wie Stimmen.

Je weiter Haru und Ishiko gingen, desto stärker wurde der Wind. Haru musste sich regelrecht dagegenstemmen. Der Wind zerrte an ihm, wie eine physische Barriere, die ihn aufzuhalten versuchte. In der Kälte verzog Haru das Gesicht zu einer frierenden Grimasse. Sie legte sich beißend auf Nase und Wangen, schneidend und schmerzhaft, und nagte an ihm, bis sein Gesicht taub wurde.

Hier wurde der Tunnel wieder enger. Haru konnte gerade noch hindurchschlüpfen. Seine Schultern streiften die mit Raureif bedeckten Wände. Immer noch heulte der Wind. Vor Anstrengung atmete Haru hörbar.

Er folgte dem Tunnel um eine Linkskurve und sah plötzlich den Ausgang vor sich. Der Wind pfiff einmal mehr um ihn und der Schnee nahm ihm die Sicht. Er konnte lediglich erkennen, dass er nicht an einer Klippe herausgekommen war, sondern dass sich Felsboden vor ihm erstreckte. Nach ein paar weiteren Schritten stand er vollständig im Freien.

Jetzt, da er nicht mehr durch den Tunnel brauste, hatte der Wind an Stärke verloren. Er zog sich zurück, wie besiegt.

Haru wischte sich den Schnee aus den Augen.

Ishiko stellte sich neben ihn. »Was …?«, begann sie, dann starrte sie nur auf das, was vor ihnen lag.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Haru. Sein Mund fühlte sich trocken an und seine Stimme klang heiser.

Legend of the Five Rings: Fluch der Ehre

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