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ОглавлениеObwohl er sich viel einbildete auf das herzogliche Blut, das in seinen Adern floß, gehörten Churchills Familie und seine Vorfahren nicht unbedingt zu den Leuten, mit denen sich ein auf untadeligen öffentlichen Leumund bedachter Politiker, freiwillig eingelassen hätte. Die Marlboroughs hatten nämlich jede Menge Leichen im Keller. Der erste Herzog mochte ein »begnadeter General« gewesen sein, doch er war auch ein Mann von zweifelhafter politischer und persönlicher Moral. Viele Viktorianer, die mit Macaulays History of England groß geworden waren, betrachteten ihn denn auch als verrufen und nicht gerade vertrauenswürdig: Er hatte Jakob II. verraten, gegen Wilhelm III. konspiriert und mit skrupelloser Zielstrebigkeit nach Macht und Reichtum gejagt.8 Seitdem waren die Marlboroughs entweder unglücklich oder unauffällig oder beides gleichzeitig gewesen. Viele von ihnen waren unstet, depressiv und übellaunig. Der dritte, vierte und fünfte Herzog waren selbst nach den Normen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts verschwenderisch, und keiner von ihnen hatte in den öffentlichen Angelegenheiten seiner Zeit eine irgendwie bedeutsame Rolle gespielt. Gladstones scharfe Worte von 1882 brachten wahrscheinlich die allgemein verbreitete spätviktorianische Einstellung zum Ausdruck: »Seit John von Marlborough hat es keinen einzigen Churchill gegeben, der Moral oder Prinzipien besessen hätte.«9 Und in den kommenden achtundfünfzig Jahren sollte das auch die gängige Meinung bleiben.
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts schienen die Marlboroughs also stetig und in nahezu selbstzerstörerischer Weise auf den Abgrund zuzusteuern. In auffälligem Gegensatz zu seinen Vorfahren war Churchills Großvater, der siebte Herzog, der den Titel 1857 erbte, ein frommer Mann von edler Gesinnung, verheiratet mit der beeindruckenden Lady Frances Anne, Tochter des dritten Lord Londonderry. Doch gemessen an herzoglichen Standards, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts galten, waren die Marlboroughs alles andere als reich, und aufgrund der zahlreichen Extravaganzen seiner Vorgänger befand sich der Besitz, den der siebte Herzog erbte, in prekärer Situation. Wider Willen sah er sich deshalb gezwungen, einen Großteil des Vermögens zu zerstreuen, das er gerne gesichert hätte. 1862 veräußerte er den Familienbesitz in Wiltshire und Shropshire, und zwölf Jahre später trennte er sich von seinem Grundbesitz in Buckinghamshire, den Baron Ferdinand de Rothschild für 220.000 Pfund erwarb. Familienerbstücke gingen denselben Weg wie vorväterliche Schollen: 1875 wurden die Juwelen der Marlboroughs für 35.000 Guineen versteigert, und Anfang der 1880er Jahre entledigte man sich der herrlichen Sunderland Library für 56.581 Pfund, nachdem die notwendige Gesetzesvorlage das Parlament passiert hatte.10
Dieser Prozeß der Zersplitterung des Familienbesitzes setzte sich unter dem achten Herzog, Churchills Onkel, fort, der 1883 das Erbe antrat und schon bald den größten Teil der einmaligen Sammlung alter Meister in Blenheim für 350.000 Pfund versetzte. Doch damit endete auch schon die Parallele zwischen Vater und Sohn, denn der achte Herzog war eine der verrufensten Gestalten, die den höchsten Rang des britischen Hochadels je entwürdigt haben. Als Jugendlicher flog er aus Eton und erwarb sich schon bald einen wohlverdienten Ruf als ungehobelter, unberechenbarer, unverantwortlicher und unbeherrschter Verschwender. 1876 geriet seine Affäre mit der verheirateten Lady Aylesford zu einem öffentlichen Skandal; der Prince of Wales bezeichnete ihn als »größten lebenden Lump«; und 1881 wurde er Vater eines unehelichen Kindes von ihr.11 Zwei Jahre später ließ sich seine erste Frau von ihm scheiden, und damit war die gesellschaftliche Schande des neuen Herzogs komplett. 1886 spielte er eine prominente Rolle im sensationellen Scheidungsverfahren von Lady Colin Campbell, seiner ehemaligen Geliebten, und kurz darauf heiratete er Lilian Hammersley, eine reiche Amerikanerin, was ihn in die Lage versetzte, Blenheim mit elektrischer Beleuchtung und Zentralheizung ausstatten zu lassen. Nicht minder unberechenbar als seine Libido war die Politik des achten Herzogs. Anfang der 1880er Jahre war er nacheinander Liberaler, extremer Radikaler und Konservativer und verfaßte eine Reihe gleichermaßen wirrer Artikel, in denen er die Reform der Lords und der Bodengesetze forderte sowie die Erhaltung »einer Klasse erblich geschulter Staatsmänner, die Verbindung zum Land haben«. Er starb, wie er gelebt hatte, in der Tradition eines Bösewichts aus einem Schauerroman: Er wurde in seinem Labor in Blenheim gefunden, »mit einem schrecklichen Ausdruck im Gesicht«.12
Dies war der traurige Zustand, den »Sunny« Marlborough, Churchills Cousin, während seiner langen Amtszeit als neunter Herzog (1892 – 1934) zu ändern gedachte; doch ihm war nur sehr beschränkter Erfolg beschieden. Politisch verlief seine Karriere im Sande: Von 1899 bis 1905 bekleidete er kleinere Regierungsposten unter Salisbury und Balfour, stimmte 1911 gegen die Parliament Bill, die den Einfluß des Oberhauses radikal beschnitt, und entwickelte sich in den Zwischenkriegsjahren zu einem paranoiden, antisemitischen Reaktionär.13 In der Ehe erging es ihm nicht besser. Seine erste Heirat mit Consuelo Vanderbilt war offenkundig aus reinen Geldgründen arrangiert worden; die beiden trennten sich 1906 und ließen sich 1920 scheiden. Seine zweite Frau, Gladys Deacon, war eine böhmische Abenteurerin, die zuvor seine Geliebte gewesen war. An der Ehe ging ihre Beziehung zugrunde, und 1931 ließen sie sich scheiden.14 Finanziell nutzten die Vanderbilt-Millionen dem Herzog insofern, als er die Gärten und Terrassen in Blenheim wieder instand setzen lassen konnte, doch am Ende seines Lebens stand er im Begriff, die Familienarchive an die Yale University zu verkaufen, und zum Zeitpunkt seines Todes war er buchstäblich bankrott. In gesellschaftlicher Hinsicht blieben die Marlboroughs untragbar. Das Scheitern der beiden Ehen des Herzogs wurde in den Medien ausführlich besprochen, ebenso seine Aufnahme in die römisch-katholische Kirche. Weder Eduard VII. noch Georg V. empfingen ihn bei Hof, und sie lehnten es auch ab, das jährliche Geschenk der Blenheim-Flagge entgegenzunehmen. Die meisten Herzoginnen weigerten sich, seine zweite Frau anzuerkennen, und in der Grafschaft Oxford sowie in kirchlichen Kreisen wurde der Herzog seinerseits mit kaum verhohlener Herablassung betrachtet.15
Noch berüchtigter war Lord Randolph, Churchills Vater, im Verlauf seines kurzen, tragischen Lebens. Schon zu seiner Zeit als Student in Oxford hatte er ein krankhaftes Vergnügen am Spielen und Trinken an den Tag gelegt und immer wieder über seine Verhältnisse gelebt. Seine Ehe mit Hennie Jerome, ebenfalls Amerikanerin, war von unziemlichen Geldstreitigkeiten begleitet; Anfang der 1880er Jahre war er stark verschuldet und befand sich in Abhängigkeit von Geldverleihern und Finanzierungsvermittlern; und am Ende seines Lebens stand er bei den Rothschilds mit knapp 70.000 Pfund in der Kreide. Was für so viele Churchills galt, traf bei ihm in noch stärkerem Maße zu: Er war unberechenbar und unbeherrscht und litt wahrscheinlich an einer Syphilis, die zu einer allgemeinen Paralyse führte und ihn langsam, aber sicher und auf erniedrigende Weise tötete.16 Gesellschaftlich waren die Churchills zwischen 1876 und 1884 verfemt, nachdem Lord Randolph sich im Streit mit dem Prince of Wales wegen des Aylesford-Skandals impulsiv auf die Seite seines Bruders geschlagen hatte. Politisch galt er als unsicherer, prinzipienloser Abenteurer, dessen beleidigendes Auftreten sowohl von Gladstone als auch von Salisbury gerügt wurde. Sein unvermittelter Rücktritt als Schatzkanzler im Januar 1887 bestätigte lediglich die weitverbreitete Ansicht, er sei ein skrupelloses Scheusal von einer an Irrsinn grenzenden Unausgeglichenheit. Als der junge Winston am Ende seiner Jungfernrede im Unterhaus von seinem Vater als »einer gewissen grandiosen Erinnerung« sprach, dürften viele Abgeordnete Schwierigkeiten gehabt haben, hierin den ganz anderen Lord Randolph wiederzuerkennen, den sie noch selbst erlebt hatten.17
Churchills Mutter war nicht minder untragbar. Obwohl berühmt für ihre Schönheit und sehr bewundert ob ihrer öffentlich gezeigten Loyalität gegenüber Lord Randolph in dessen letzten jämmerlichen Jahren, war sie genauso verschwenderisch, unstet und verantwortungslos wie ihr Gatte. Ihre Ehe wurde schon bald zu einer reinen Vernunftehe, es war allgemein bekannt, daß sie zahlreiche Affären hatte (vor allem mit Graf Charles Kinsky), und 1886 – 1887 gab es immer wieder Gerüchte über die bevorstehende Scheidung des Paars. Nach dem Tod Lord Randolphs zeigte sie keinerlei Neigung, ihren Lebenswandel zu mäßigen, und 1898 sah sie sich zur Tilgung ihrer Schulden gezwungen, ein Darlehen von 17.000 Pfund aufzunehmen. Auf diese Finanzkrise reagierte sie in der für aristokratische Damen in ihrer Situation typischen Weise. Sie gab kurzfristig eine Zeitschrift heraus, die Anglo-Saxon Review (die allerdings kein Geld einspielte), und schrieb ihre Erinnerungen: Nach ihrem eigenen Eingeständnis waren sie freilich »in erster Linie durch das interessant, was ungesagt blieb«.18 1900 ehelichte sie schließlich ihren langjährigen Geliebten George Cornwallis-West, der zwanzig Jahre jünger war als sie, das heißt kaum älter als ihr eigener Sohn. In der Gesellschaft wurde diese Verbindung allgemein mißbilligt, und dreizehn Jahre später endete sie denn auch mit der Scheidung. Unerschrocken heiratete sie zum dritten Mal, und zwar den ebenfalls zwanzig Jahre jüngeren Montagu Porch. Und einmal mehr löste ihr Verhalten weithin Spott, Ungläubigkeit und Verwunderung aus.19
Im Gegensatz dazu war Clementine Hozier, Churchills Frau seit 1908, von nobler Gesinnung und besaß ein sehr viel vernünftigeres Urteil über Männer und Ereignisse als ihr Gatte. Dabei war Clementine alles andere als eine wohlhabende Erbin, deren Vermögen Churchills politische Karriere hätte befördern können; vielmehr hatte sie ihre Jugend in vornehmer Armut verbracht. Ihr Vater Henry Hozier – wahrscheinlich nicht einmal ihr leiblicher Vater – war ein unangenehmer, unattraktiver Geselle, der sich von ihrer Mutter Blanche hatte scheiden lassen und die Familie in erbärmlichen materiellen Verhältnissen zurückließ. Als Tochter des Earls of Airlie stammte Blanche ihrerseits von einer der eher verarmten schottischen Adelsfamilien ab. Tatsächlich war der Haushalt so mittellos, daß Clementine es sich kaum leisten konnte, an den kostspieligen Festlichkeiten der Londoner High Society teilzunehmen, und bis sie Winston kennenlernte und heiratete, verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt mit Französischunterricht zu 2 Shilling, 6 Pence die Stunde. Doch damit nicht genug: Blanche Hozier war nicht nur Ehebrecherin, sondern auch eine unverbesserliche Spielerin, und gerade diese Eigenschaft vererbte sich auf Clementines Schwester Nellie und ihren Bruder William. Nachdem Bill Hozier 1921 beschlossen hatte, mit der Spielerei gänzlich aufzuhören, nahm er sich in einer billigen Pariser Absteige das Leben.20 Es war keineswegs der erste Skandal dieser Art, von dem Clementine sich reinwaschen mußte: Vor ihrer Verlobung mit Winston war sie bereits zweimal verlobt gewesen, und als Lord Percy, der Erbfolger des Herzogs von Northumberland, 1909 in Paris tot aufgefunden wurde, ging das Gerücht, er sei ein ehemaliger Liebhaber Clementines gewesen und auf Anweisung Churchills ermordet worden.21
Die Person, von der – völlig grundlos – gemunkelt wurde, sie habe diese erstaunliche Tat begangen, war Churchills jüngerer Bruder Jack (in Wirklichkeit ein harmloser, unauffälliger Mensch, der sich nie in öffentliche Angelegenheiten einmischte). Winston blieb ihm sein Leben lang eng verbunden, doch wie diese Geschichte zeigt, kam auch Jack ins Gerede, was dem Ruf seines älteren Bruders in der Tat abträglich war. Von Aussehen und Temperament her waren sich beide ausgesprochen unähnlich, und in weiten Kreisen hielt sich die (fälschliche) Vermutung, daß Jack und Winston nur Halbbrüder seien und Jacks Vater in Wirklichkeit der fünfte Earl of Roden sei. Schließlich war allgemein bekannt, daß Lady Randolph im Laufe ihrer Ehe zahlreiche Affären hatte und daß ihr Gatte, nachdem seine Syphilis diagnostiziert worden war, keine sexuellen Beziehungen mehr mit ihr hatte.22 Um an etwas Geld zu kommen, das er dringend benötigte, schlug Jack eine Laufbahn als Börsenmakler ein. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt dies gemeinhin noch als eine Karriere, die einem Gentleman nicht geziemte, und 1907 mußte Jack seine Vermählung mit Lady Gwendeline Bertie verschieben, da deren Mutter, die Gräfin von Abingdon, seine finanzielle Ausstattung für nicht standesgemäß hielt. Es war dies nicht das letzte Mal, daß Jack aufgrund seines Berufs in Schwierigkeiten geriet. Als Churchill Schatzkanzler wurde, entbehrte es nicht einer gewissen Peinlichkeit, daß sein Bruder mit Aktien an der Börse handelte, und im Zweiten Weltkrieg mußte er sich Kritik gefallen lassen, weil er Jack in Downing Street Nr. 10 unterbrachte, nachdem dessen Haus in London bombardiert worden war, und ihn als Premierminister zum ständigen Mitglied seines Stabs machte.23
Doch dies war nichts im Vergleich zu den Peinlichkeiten, die Churchills drei Kinder Randolph, Diana und Sarah ihm in den dreißiger Jahren bereiteten. Sie waren undiszipliniert, stritten sich mit ihren Eltern herum und wurden allesamt Alkoholiker. Diana vermählte sich 1932 mit John Bailey, dem Sohn von Sir Abe Bailey, einem mit ihrem Vater befreundeten südafrikanischen Bergbaumagnaten. Ihre Eltern sprachen sich gegen die Ehe aus, die drei Jahre später durch Scheidung beendet wurde. 1935 heiratete Diana Duncan Sandys, doch auch diese Ehe wurde später geschieden, und 1963 nahm sie sich das Leben. Ihre jüngere Schwester Sarah versuchte ihr Glück am Theater und wurde 1935 Tänzerin in einer der Revuen von C. B. Cochrane. Während ihres Engagements verliebte sie sich in Vic Oliver, einen zweimal geschiedenen, aus Österreich stammenden Schauspieler, der siebzehn Jahre älter war als sie. Ihre Eltern waren finster entschlossen, die Ehe mit diesem »unsteten Vagabunden« zu verhindern, doch Sarah lief von zu Hause fort, um zu Oliver nach New York zu ziehen, und die beiden wurden am Weihnachtstag 1936 ordnungsgemäß getraut.24 Auf beiden Seiten des Atlantiks gab es einen gewaltigen Medienrummel, der Churchill in politischen Kreisen eher schadete. Als die Camrose-Presse im Herbst 1938 für seine Rückkehr ins Kabinett warb, merkte die Truth bösartig an, jetzt brauche nur noch Vic Oliver Minister zu werden, dann sei die Komödie komplett – ein Seitenhieb, den Churchill nie vergeben geschweige denn vergessen sollte.25
Aber auch Diana und Sarah waren noch Engel im Vergleich zu ihrem ungehobelten, verzogenen, launenhaften, eigensinnigen, verantwortungslosen und streitsüchtigen Bruder Randolph. Er brach sein Studium in Oxford ab, begann zu trinken und zu spielen, verschuldete sich und erwarb sich den zweifelhaften Ruf des aggressivsten und flegelhaftesten Partygasts von ganz London. Eine Zeitlang begeisterte er sich für die Ideen Oswald Mosleys und der New Party, und später schrieb er eine Zeitungskolumne, in der er die Ansichten seines Vaters über Indien mit einer taktlosen Emphase vertrat, die nur kontraproduktiv sein konnte. Am schädlichsten für Churchill waren – in den Augen der Tory-Führung und der Regierung – Randolphs direkte politische Aktivitäten.26 Anfang 1935 trat er bei den Nachwahlen in Wavertree als inoffizieller Kandidat eines ultrarechten Programms der Konservativen an. Es kam zu einem aufsehenerregenden Wahlkampf, in dem Randolph als hemmungsloser Mosleyaner attackiert wurde, was dazu führte, daß sich die Tory-Wähler spalteten und ein eigentlich sicherer Sitz an Labour verlorenging. Einen Monat später unterstützte er einen zweiten inoffiziellen, problematischen Kandidaten der Konservativen in Toxteth East: Richard Findlay, ehemaliges Mitglied der British Union of Fascists. Im Januar 1936 kandidierte Randolph selbst – wiederum ohne Erfolg – in einer von großem Medienecho begleiteten Nachwahl in der schottischen Grafschaft Ross and Cromarty gegen Malcolm MacDonald, der nicht nur Mitglied der Regierung war, sondern auch der Sohn des ehemaligen Premierministers Ramsay MacDonald.27
Die bedingungslose Loyalität, mit der Churchill zu seiner unmittelbaren Familie hielt – ungeachtet ihrer dynastischen Verfehlungen – , war eine seiner sympathischsten Eigenschaften. Wie die meisten Aristokraten förderte er die Interessen seiner Angehörigen mit demselben unermüdlichen Eifer, den sie früher bei der Unterstützung seiner eigenen an den Tag gelegt hatten. Sowohl Lady Violet Bonham Carter als auch Sir John Colville vertraten denn auch die Ansicht, Churchills Gewohnheitssünde sei das angemessen aristokratische Laster des Nepotismus.28 Bereits als konservativer Parlamentsneuling versuchte er – wenn auch vergeblich – Kolonialminister Joseph Chamberlain zu überreden, den neunten Herzog von Marlborough zum Generalgouverneur von Australien zu ernennen; und 1915 setzte er sich hartnäckig dafür ein, daß der Herzog trotz seiner Trennung von Consuelo zum Lord Lieutenant von Oxfordshire ernannt wurde.29 Obwohl er es zutiefst mißbilligte, daß Randolph »das Leben eines eigennützigen Schnorrers führt, der sich jeden Shilling leiht, den er in die Finger bekommen kann, und ihn ausgibt«, tat er sein äußerstes, um ihm zu helfen. Ein Freund von ihm, Professor Lindemann, verschaffte Randolph einen Platz am Christ Church College in Oxford, und zwei andere, Lord Beaverbrook und Brendan Bracken, besorgten ihm Jobs als Journalist. 1933 beglich Churchill Schulden seines Sohns in Höhe von 1.600 Pfund, und später unterstützte er ihn auch als Wahlkampfredner in Wavertree (allerdings nicht in Ross and Cromarty).30
Churchills Ruf kann es freilich kaum zuträglich gewesen sein, daß so viele Angehörige seiner unmittelbaren Familie so oft und aus so unerquicklichen Gründen für Schlagzeilen sorgten. In jeder Generation seiner engsten Verwandten gab es zu viele Schulden, wurde zuviel gespielt und zuviel getrunken. Selbst gemessen an den relativ lockeren Maßstäben der Jahre vor oder nach dem Ersten Weltkrieg war in dieser Familie das Ausmaß an Untreue, Scheidungsfällen, Unberechenbarkeit, Sexskandalen, gesellschaftlicher Ächtung und Ungnade bei Hofe unverhältnismäßig hoch. So gesehen lieferten die Marlboroughs ein Paradebeispiel für den Niedergang und die Degeneration einer herzoglichen Dynastie: Lord Randolph hätte direkt aus Trollopes Roman The Way We Live Now entstammen können, der neunte Herzog war ein Charakter von Proustscher Erbärmlichkeit, und die Possen, mit denen Diana, Sarah und Randolph die Schlagzeilen eroberten, wären einer Romanfigur Evelyn Waughs würdig gewesen – mit dem Randolph wohl auch nicht von ungefähr eine lebenslange Haßliebe verband. Dies verstärkte die allgemein vorherrschende Ansicht, sämtliche Churchills seien unbeständig, unseriös und unzuverlässig, kurz, ohne jedwede Moral oder Prinzipien, wie Gladstones vernichtendes Urteil gelautet hatte.
Angesichts der unappetitlichen Verwandten, die ihn umgaben, leuchtet es durchaus ein, wieso zahlreiche Zeitgenossen zu dem Schluß kommen mußten, Churchill selbst sei ebenfalls anrüchig und unzuverlässig. 1885 hatte der fünfzehnte Earl of Derby Lord Randolph als »durch und durch unglaubwürdig« kritisiert: »Wohl kaum ein Gentleman und wahrscheinlich mehr oder weniger verrückt.« Dreißig Jahre später beschrieb Derbys Neffe Lord Randolphs Sohn mit ganz ähnlichen Worten: »Er ist absolut unglaubwürdig, so wie auch schon sein Vater.« Er war nicht der erste – und auch nicht der letzte – , der derart vernichtende und abträgliche Vergleiche anstellte. Als er Churchills Leistung auf seinem ersten ministeriellen Posten, im Kolonialministerium, zusammenfaßte, bemerkte der Staatssekretär über ihn, er sei »äußerst unangenehm im Umgang und wird, fürchte ich, Ärger machen – genau wie sein Vater«.31 Natürlich ging die Zahl derjenigen, die sich noch an Churchills Vater erinnern konnten, im Laufe der Zeit zurück – doch in den dreißiger Jahren wußte jeder über Churchills Sohn Bescheid. Und irritierend große Ähnlichkeiten gab es offenbar auch zwischen Winston und Randolph II. So schrieb Sam Hoare 1934: »Ich weiß nicht, wer der Beleidigendere oder Bösartigere von beiden ist, Winston oder sein Sohn. Es geht jedoch das Gerücht, daß sie sich andauernd streiten und im wesentlichen nur eine Gemeinsamkeit haben, nämlich die phantastische Menge Champagner, die jeder von ihnen allabendlich zu trinken pflegt.«32