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Einleitung

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»Charakter und Stellung eines Politikers werden zu seinen

Lebzeiten nach Parteimaßstäben beurteilt. Ist er tot,

endet auch alles, was er im Namen der Partei erreicht hat.

Weder Lob noch Tadel von Parteigängern vermögen seinen

Ruf letzten Endes zu beeinträchtigen. Die Waagschalen,

in denen er gewogen wurde, sind zerbrochen. Spätere Jahre

lassen ihre eigenen Maße und Gewichte entstehen.«

WINSTON S. CHURCHILL, Lord Randolph Churchill (1907)

»Den Menschen ist es – zu ihrem Glück – nicht gegeben, den

künftigen Lauf der Ereignisse in nennenswertem Umfang

vorherzusehen oder vorauszusagen. In einer bestimmten Phase

scheinen sie richtig, in einer anderen falsch gelegen zu haben.

Und schließlich, wenn der zeitliche Abstand groß genug

geworden ist, stellt sich alles wieder in einem anderen Lichte

dar. Es gibt eine neue Proportion, eine andere Werteskala.«

WINSTON S. CHURCHILL, The Unrelenting Struggle (1942)

Rein zufällig steht das Jahr 2005 im Zeichen mehrerer Churchill-Jubiläen: Zum vierzigsten Mal jährt sich sein Todestag, zum fünfzigsten sein Rücktritt als britischer Premierminister und zum sechzigsten das Kriegsende in Europa sowie seine Niederlage bei den englischen Parlamentswahlen von 1945. Anders ausgedrückt bedeutet dies, daß es im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nur noch wenige Zeitgenossen gibt, die sich tatsächlich an Churchills Größe (oder Unzulänglichkeiten) erinnern (bzw. sie vergessen) können, und ihre Zahl wird von Jahr zu Jahr kleiner. Wer Churchills Reden von 1940 bewußt gehört hat, muß heute mindestens Anfang siebzig sein. Die überlebenden Veteranen und Veteraninnen des Zweiten Weltkriegs werden keine Versammlungen mehr abhalten, nachdem die Gedenkfeiern zum Sieg der Alliierten in Europa und Japan in diesem Jahr zum letzten Mal stattfinden. Und heute gibt es kaum noch eine Handvoll Menschen, die Churchill in seiner Zeit und auf dem Zenith seiner Laufbahn persönlich erlebt haben.

Bereits wenige Monate nach Churchills Tod im Januar 1965 erschienen die ersten Memoiren und Tagebücher seiner Freunde und Kollegen, unter anderem die von Violet Bonham Carter, Lord Moran, Sir John Colville und Harold Macmillan; doch vierzig Jahre später wird das Genre zwangsläufig immer mehr zum Auslaufmodell.1 Die offizielle Churchill-Biographie, von seinem Sohn Randolph Churchill begonnen und von Martin Gilbert vollendet, erschien zwischen 1966 und 1988 in acht dicken Bänden und ist damit die umfassendste Lebensbeschreibung, die je über eine britische Persönlichkeit des öffentlichen Lebens verfaßt wurde (und die Herausgabe der Begleitbände ist noch nicht einmal abgeschlossen).2 Ende der sechziger Jahre wurde Churchill zum Gegenstand mehrerer aktueller Neubewertungen, von denen einige ihm freundlich gesinnt waren, andere dagegen ausgesprochen kritisch.3 Inzwischen sind die offiziellen Regierungsdokumente, die Papiere seiner Zeitgenossen sowie sein eigenes riesiges Archiv sämtlich zugänglich geworden, das letztere angemessenerweise im Churchill College in Cambridge; hinzu kommt, daß dank einer großzügigen Subvention des Heritage Lottery Fund in Höhe von mehreren Millionen Pfund ein Großteil des vorhandenen Materials bereits digitalisiert werden konnte. In der Folge kam es zu einer nicht enden wollenden Flut von Artikeln, Monographien, Biographien und Sammelbänden, die zusammengenommen das größte Korpus wissenschaftlicher Untersuchungen über einen einzelnen Briten darstellen. Die heute bereits Tausende von Titeln umfassende Churchill-Bibliographie schwillt allmonatlich, ja tagtäglich immer weiter an, und niemand kann realistischerweise hoffen, mit alldem Schritt zu halten.4

Daraus wird eines ersichtlich: Mit dem Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert hat Churchill die Sphäre der Erinnerung verlassen, um in die der Geschichtsschreibung einzugehen, ist er vom subjektiven Gegenstand persönlicher, unmittelbarer Reminiszenz zum objektiven Gegenstand distanzierter, unvoreingenommener Forschung geworden. Genau dieser Trend läßt sich anhand von vier herausragenden Publikationen jüngeren Datums belegen. Roy Jenkins verfaßte seine Churchill-Monographie als Politikerkollege und Biograph, der Churchill persönlich kennengelernt und mit ihm (ebenso wie Tony Benn) vorübergehend gemeinsam im Unterhaus gesessen hatte: Insofern handelte es sich um den aufrichtigen Tribut eines Grand Old Man der englischen Politik an einen anderen. Der fast zeitgleich erschienene Titel von George Best war dagegen die Arbeit eines professionellen Historikers mit ganz anderem Erkenntnisinteresse. Denn Best, der Churchill schon in seiner Kindheit als Held verehrt hatte und ihn auch in späterer Zeit stets bewunderte, schrieb das Buch, weil er herausfinden wollte, wie der große Mann auf nachfolgende Generationen wirkt, die 1940 noch nicht dagewesen waren.5 Jenkins wie Best erlebten Churchill in den Tagen seines großen Ruhms, doch spätere Generationen von Historikern wollen wissen, wie es Churchill eigentlich gelang, sein außergewöhnliches Ansehen in der – nationalen wie internationalen – Öffentlichkeit zu erringen. John Ramsden hat untersucht, was nicht nur Churchill selbst, sondern auch viele andere Menschen unternahmen, um seinen Ruf in der gesamten englischsprachigen Welt zu verbreiten und zu fördern. Und David Reynolds hat dargelegt, daß Churchill seine History of the Second World War weitgehend zum Zweck der Selbstrechtfertigung schrieb und zur Vorbereitung seines politischen Comebacks.6

Die drei Essays des vorliegenden Bandes verstehen sich als Beiträge zur wissenschaftlichen – nicht mehr bloß reminiszierenden – Auseinandersetzung mit der Figur Churchills und ihrer Neubewertung, wie sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt eingesetzt hat. Der erste untersucht die unangenehme Seite in Churchills Charakter und Karriere, die sich weitgehend seinem familiären Hintergrund und seiner anrüchigen Verwandtschaft verdankte: Aus ihr erklärt sich nicht nur das allgemeine Mißtrauen, das ihm 1940 bei seiner Berufung zum Premierminister entgegengebracht wurde, sondern sie macht auch die wundersame Wandlung verständlich, die sein Ruf in den sich anschließenden Jahren erfuhr. Der zweite Aufsatz beleuchtet Churchills wechselhafte Beziehungen zur britischen Monarchie – von Königin Viktoria bis zu Königin Elisabeth II. – sowie zu anderen gekrönten Häuptern in Europa und dem Nahen Osten: Es wird deutlich, daß seine Einstellungen zu ihnen – wie auch ihre zu ihm – vielfältiger und facettenreicher waren als bislang oft angenommen wurde. Der dritte Essay schließlich widmet sich Churchills Rhetorik: Auch hier zeigt sich, daß die Dinge komplexer und zweideutiger waren als oft vermutet, denn über einen Großteil seiner Karriere hinweg erzielten seine Worte sehr viel weniger Wirkung, als sie kurzzeitig in den (relativ wenigen) unvergeßlichen Reden entfalteten, die er 1940 hielt.

Die wichtigste Erkenntnis, die sich aus diesen Essays ergibt, ist, daß Churchill eine vielfältigere, interessantere, schillerndere Figur war, als seine unkritischen Bewunderer wie auch seine langjährigen Gegner zu seinen Lebzeiten zu würdigen wußten. Das Ansehen des Churchill von vor 1940 unterschied sich radikal vom Ansehen des Churchill nach 1940: Jener war in vieler Hinsicht ein suspekter Versager (der freilich die Fähigkeit besaß, Fehler auszubügeln); dieser war fast über jede Kritik erhaben (wenn auch nicht für diejenigen, die ihn sehr gut kannten). Zudem operierte Churchill während seiner außerordentlich langen und widersprüchlichen Laufbahn immer wieder auf vielen verschiedenen Ebenen, ob in seinen Reden, seinen offiziellen Dokumenten, seinen Memoranden, seinen Unterhaltungen, seinen Büchern oder seinen journalistischen Arbeiten. Je nachdem, welches Publikum er vor sich hatte und welche Zwecke er verfolgte, probierte er unterschiedliche Argumente aus. Seine Rhetorik war oft herausfordernd und aggressiv, doch er bevorzugte die gütliche Einigung und den Kompromiß und glaubte stets, daß »langes Palaver besser ist als langer Krieg«.

Dies ist fraglos nicht der Churchill, auf den sich britische Premierminister und amerikanische Präsidenten in jüngster Zeit so gerne als Kronzeugen berufen, wenn sie Argumentationshilfe benötigen für gnadenlose Militäraktionen gegen Diktatoren und Aggressoren oder stichhaltige Gründe für eine transatlantische Allianz um jeden Preis. Das ist bedauerlich, aber auch nicht überraschend. Denn der dreidimensionale Churchill, den Historiker über eine Generation lang freigelegt haben, ist noch längst nicht in der allgemeinen Wahrnehmung und im politischen Bewußtsein verankert. Im Laufe seiner erstaunlich langen und abwechslungsreichen Karriere war Churchill ja tatsächlich vieles: Radikaler und Konservativer, Klassenkämpfer und Nationalheld, Retter seines Landes und Staatsmann in der Zeit des Niedergangs.7 Zu diesem anhaltenden Prozeß der Neubewertung Churchills sollen auch diese drei Essays ihren Beitrag leisten.

David Cannadine

Institute of Historical Research,

University of London

Winston Churchill

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