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Churchill als aristokratischer Abenteurer
ОглавлениеMit Anfang zwanzig war Winston Churchill für kurze Zeit Thronerbe eines Herzogtums, und über ein halbes Jahrhundert später, als er sich aus dem öffentlichen Leben zurückzog, lehnte er das Angebot seiner Monarchin ab, ein weiteres zu übernehmen.1 Diese doppelte Verbindung zu den höchsten Rängen des britischen Hochadels mag nicht unbedingt seinen Ruhm begründet haben, macht ihn aber auf jeden Fall zu einer Ausnahmeerscheinung unter den britischen Premiers und erinnert uns einmal mehr daran, daß Churchill, so C. P. Snow, »der letzte Aristokrat war, der über dieses Land herrschte – nicht einfach nur an seiner Spitze stand«. In Blenheim Palace, das sich der Herzog von Marlborough Anfang des 18. Jahrhunderts in Oxfordshire erbauen ließ, traf er die beiden wichtigsten Entscheidungen seines Lebens – »geboren zu werden und zu heiraten, und weder das eine noch das andere habe ich je bereut«. In Blenheim verbrachte er den ersten Teil seiner Flitterwochen mit Clementine, und nach Blenheim, das er stets als sein zweites Zuhause betrachtete, kehrte er während seiner späteren Laufbahn immer wieder zurück. Sein ganzes Leben lang betrachtete er den Herzog von Marlborough als Oberhaupt seiner Familie und verehrte ihn als Träger des bedeutendsten Namens im Lande.2 Den Friedhof von Bladon, in unmittelbarer Nähe des riesigen Palasts seiner Vorfahren gelegen, erkor er sich zur letzten Ruhestätte, neben den Gräbern seines Vaters Lord Randolph Churchill und seiner Mutter Jennie.
Es nimmt also nicht wunder, daß Churchills Einstellungen ebenso aristokratisch waren wie sein Stammbaum. Seine Arroganz, sein Selbstbewußtsein, seine absolute Nonchalance hinsichtlich Konsequenzen, sein völliger Mangel an Interesse für die Gedanken und Gefühle anderer: All dies wurde von Beobachtern als ausdrückliches Zeichen seiner Herkunft aus der Oberschicht betrachtet – und bedauert. Ob Diener oder Sekretäre, Gärtner oder Wildhüter, Pferde oder Jagdhunde – alles galt ihm gleichermaßen als integraler Bestandteil der natürlichen Ordnung der Dinge. Für die Sitten und Gepflogenheiten des Mittelstands brachte er keinerlei Verständnis auf, und es ist wohl kaum ein Zufall, daß die meisten seiner politischen Gegner aus dieser gesellschaftlichen Schicht stammten: Joseph und Neville Chamberlain, Bonar Law, Stanley Baldwin und Clement Attlee.3 Er wußte buchstäblich nichts über das Leben normaler Männer und Frauen, die die Mehrheit der britischen Bevölkerung ausmachten. Nie betrat er ein Geschäft oder fuhr im Omnibus, und das einzige Mal, daß er die Londoner U-Bahn benutzte, geriet er auf die Circle Line und fuhr hilflos eine Runde nach der anderen, bis ihn nach mehreren Stunden ein Freund von dieser Tortur erlöste. Noch 1951 glaubte er, die meisten Menschen in Großbritannien lebten in »cottage homes« – ein Begriff, in dem sich auf enthüllende Weise sein paternalistisches Wohlwollen und seine aristokratische Ignoranz miteinander vermengen.4
Im Rückblick stilisierte sich Churchill gerne zum unterprivilegierten, benachteiligten Kind, das zudem unter dem Handicap einer unzureichenden Ausbildung zu leiden gehabt hatte; der Ruhm, zu dem er es in der Welt gebracht hatte, beruhte nach dieser Darstellung ausschließlich auf seinen eigenen Anstrengungen. Nun kann an seinem Ehrgeiz und Eifer nicht der geringste Zweifel bestehen, dennoch ist klar, daß er in den frühen Stadien seiner Karriere seine aristokratischen Verbindungen mit zielstrebigem Vorsatz und Erfolg schamlos ausnutzte. Als draufgängerischer und ruhmsüchtiger Militär trug er dafür Sorge, an die Grenze Indiens und in den Sudan versetzt zu werden, was ihm nicht nur dank seines eigenen unermüdlichen Lobbyismus gelang, sondern auch durch den Einsatz seiner Mutter, die, wie er später schrieb, »mit ihrem ganzen Einfluß und ihrer grenzenlosen Energie« seine Pläne förderte und seine Interessen wahrte.5 Mit denselben Mitteln erzielte er die besten Honorare für seine Reportagen aus dem Burenkrieg und die großzügigsten Vorschüsse für seine ersten Bücher. Als er seine Laufbahn als Kandidat der Konservativen begann, finanzierte ihm sein Cousin, der Herzog von Marlborough, teilweise die Wahlkampfkosten.6 Als er im Unterhaus die Fraktion wechselte, wurde ihm die Kandidatur für den Wahlkreis Manchester North-West angetragen, dank der Intervention seines Onkels, Lord Tweedmouth, zufällig eine wichtige Figur innerhalb der Liberal Party. In mancher Hinsicht mag der junge Winston ein Selfmademan gewesen sein; doch aufgrund seiner Geburt und seiner Beziehungen gehörte er auch zum exklusiven Zirkel der oberen Zehntausend Großbritanniens, und schon frühzeitig lernte er, hier seine Beziehungen zum eigenen Nutz und Frommen spielen zu lassen.
In der Figur Churchills gab es allerdings noch einen anderen Aspekt, der sehr viel tiefer ausgelotet zu werden verdient als bisher geschehen. Zu Beginn seiner Laufbahn profitierte er fraglos von der Förderung und Unterstützung, die ihm aus seinen adeligen Verbindungen erwuchs. Doch in der longue durée seines neunzigjährigen Lebens war die Aristokratie eine rückläufige Macht in der Politik, Gesellschaft und Geschichte Großbritanniens, und Churchill selbst war ausgesprochen ein Aristokrat seiner Zeit. Ähnlich wie zahlreiche andere Aristokraten des späten 19. Jahrhunderts entstammte er einer Familie, die verarmt, unbeständig und von Skandalen behaftet war, und manche seiner entfernteren Verwandten machten sogar eine noch unglücklichere Figur oder standen in Verruf. Es ging ihm nicht anders als vielen Männer seiner Generation aus gutem Hause: Seine Finanzen waren außerordentlich unsicher, er war häufig verschuldet und auf Leute angewiesen, die sehr viel reicher waren als er selbst. Wie andere verarmte Aristokraten sah er sich gezwungen, für Zeitungen zu schreiben und hagiographische Familienlegenden zu verfassen. Und in seinen inkonsequenten Haltungen, seiner unsicheren Parteiloyalität, seiner Ernüchterung über die Demokratie und seiner Bewunderung für autoritäre Herrschaftsformen verhielt sich Churchill nicht anders als viele desorientierte Adelige, die sich in der unwirtlichen, kalten Welt der Massenpolitik des 20. Jahrhunderts einfach nicht mehr zurechtfanden.
Betrachtet man ihn vor diesem breiteren historischen Hintergrund eines allgemeinen Niedergangs der Aristokratie, dann erscheint Churchill als sehr viel handgreiflicheres Produkt seiner Klasse und seiner Zeit, als oft wahrgenommen wird.7 Und was seine politische Karriere vor 1940 betrifft, so war das alles in allem für ihn eher ein Hindernis als eine Hilfe. Seine Blaublütigkeit mag ihm zu Beginn von Nutzen gewesen sein, doch später wurde sie zunehmend zu einem Passivposten. Es war ja nicht allein so, daß Churchill als Mann von schwankendem Temperament, fehlerhaftem Urteil sowie rhetorischen (und auch alkoholischen) Exzessen weithin beargwöhnt wurde, daß sein Ruf als Regierungsmitglied – Tonypandy, Antwerpen, die Dardanellen, Çanakkale, Rußland, Generalstreik, Indien – ständig umstritten gewesen wäre. Während des größten Teils seiner Laufbahn haftete ihm vor allem ein übler Beigeschmack von Anrüchigkeit und Zügellosigkeit an – er galt als besonders ungeratenes, wurzelloses, anachronistisches Produkt einer morschen und zunehmend diskreditierten aristokratischen Ordnung. Vor 1940 war es nicht leicht für ihn, als der Mann des Schicksals ernst genommen zu werden, für den er sich selber hielt. Viele Leute, die Bescheid wußten, sahen zu jener Zeit in ihm kaum etwas Besseres als einen unfeinen, geradezu deklassierten Abenteurer.