Читать книгу Athanor 3: Die letzte Bastion - David Falk - Страница 7
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ОглавлениеKurz nach Sonnenaufgang kam endlich der Totenpriester. Zu Athanors Bedauern war es der einzige Götterdiener unter den Flüchtlingen. Gern hätte er ihn gegen eine heilkundige Priesterin der Urmutter Kaysa eingetauscht, die wenigstens nützlich gewesen wäre. Aber wenn es dem Mann gelang, ihnen Sethon vom Hals zu schaffen, würde er ihn gnädiger beurteilen.
Als der Priester eintraf, lungerten schon Neugierige um das Anwesen herum und verdrehten sich die Hälse, um einen Blick auf ihren Kaysar oder die Regentin zu erhaschen. Die Geschichte von Sethons hinterhältigem Anschlag hatte sich ausgebreitet wie Flammen in einer Scheune. Der Totenpriester schien die Aufmerksamkeit zu genießen. Athanor beobachtete vom Dach aus, wie er durch die Schaulustigen stolzierte. Ähnlich wie die Drachenpriester, von denen Athanor ebenso wenig hielt, trug der Mann nur einen ärmellosen schwarzen Mantel und einen ebenso dunklen Rock, der fast bis zu den Knien reichte. Der Schädel schien jedoch nicht geschoren, sondern von Natur aus kahl, was wohl der umso dichtere, akkurat geschnittene Bart wettmachen sollte. Um den Hals und an den Armen glänzten goldene Amulette. Wer als Flüchtling so viel Zeit für sein Äußeres hatte, packte wohl kaum beim Wiederaufbau der Stadt mit an.
»Ich ertrage das nicht«, sagte Nemera neben ihm und deutete auf Sethons Überreste, ohne den Blick darauf zu richten. »Es raubt mir die Luft.«
Athanor fragte sich, ob es an der Nähe des Geists lag, die er in der Nacht gespürt hatte.
»Ich werde beim Bau des neuen Boots nach dem Rechten sehen«, beschloss Nemera. »Wenn ich zurückkomme, wird hoffentlich nichts mehr an … ihn erinnern.«
Mitfühlend strich er ihr über den Arm, bevor sie ging. Er wusste, er hätte sie umarmen oder küssen sollen, doch er war nie ein guter Heuchler gewesen. Er empfand einfach nicht genug für sie. Sie mochte klug, schön und im richtigen Augenblick tapfer sein, aber sie war nicht Elanya.
Als er Stimmen hörte, wusste er, dass sie unten dem Priester begegnet war. Kurz danach führte Laurion den Mann die Treppe herauf. Ehrerbietig fiel der Priester vor Athanor auf die Knie und berührte mit der Stirn beinahe den Boden. Athanor hörte das goldene Amulett, das dem Mann um den Hals baumelte, auf den Fliesen klappern. Es zeigte das Schiff, auf dem die Toten über den Ozean in die Alte Heimat fuhren, während die Armreife zu den Drachen geformt waren, die das heilige Boot angeblich beschützten.
»Euer ergebenster Diener liegt Euch zu Füßen, Herr«, verkündete der Priester. »Mein Herz fließt über vor Freude, Euch leibhaftig zu begegnen.«
»Schon gut, Ihr könnt Euch erheben. Wie heißt Ihr?«
Etwas umständlich stand der Dionier wieder auf. Als Mann von Rang hatte er wohl wenig Übung darin, vor anderen im Staub zu kriechen. »Mein Name ist Menep, Ehrwürdiger Kaysar.«
Athanor nickte. »Menep, ich habe Euch rufen lassen, weil Ihr Totenpriester seid und wir hier einen Toten haben.« Er bedeutete Menep, ihm zu den verkohlten Klumpen und rußigen Knochen zu folgen, für die sich nicht einmal die Krähen am Himmel interessierten. »Er war ein Schlächter und Leichenschänder, den ich den Hunden verfüttern würde, wenn wir noch welche hätten. Aber er bleibt selbst im Tod ein gefährlicher Mann, deshalb müsst Ihr dafür sorgen, dass sein Geist nicht länger umgeht.«
Menep erbleichte. »Ihr wünscht eine Bestattung in einer Gruft für … einen Nekromanten?«
Athanor ahnte, was in dem Priester vorging. Jahrelang hatten die Leichenschänder alles mit Füßen getreten, woran Menep glaubte, und seine Arbeit ins Gegenteil verkehrt.
»Wir wollen alles, was Ihr aufbieten könnt«, erklärte Laurion. »Besticktes Totenhemd, Amulette, Weihrauch und jeden Tag Gebete für die sichere Überfahrt seiner Seele.«
Da Athanor nicht viel über die dionischen Bestattungsriten wusste, vertraute er dem Magier und nickte.
»Aber, Herr«, wandte Menep ein, »Ihr seid es doch, der den Toten eine sichere Überfahrt gewährt. Wenn Ihr diesen Geist nicht zu bannen vermögt, wie sollte ich es da können?«
* * *
Orkzahn hatte den Jungen gefragt, woran Rotwange gestorben war, doch er hatte keine Antwort erhalten. Ergeben und stumm trottete das Kind hinter ihm her. Es sagte nichts, lächelte nicht und spielte nicht mit Ästen oder Steinen, wie es andere Kinder getan hätten. Es kam Orkzahn beinahe wie ein weiterer Untoter vor. Aber es atmete, und es aß, was er ihm reichte, also musste es lebendig sein.
Für gewöhnlich bekamen Waisen den Namen Mutterlos, bis sie sich einen anderen verdienten. Nach zwei Tagen des Schweigens fand Orkzahn Ohnewort passend. Sie näherten sich der Gegend, in der sich Stiernacken niedergelassen hatte, nachdem sie aus der elfischen Sklaverei zurückgekehrt waren. Vielleicht hatte Stiernacken den Vater des Jungen vertrieben. Da alle kampffähigen Trollmänner Dienst bei den Elfen verrichtet hatten, konnte es Rotwange nur mit einem Halbstarken oder einem alten Knochen getrieben haben. In beiden Fällen wäre es einem Kerl wie Stiernacken ein Leichtes gewesen, den Nebenbuhler auf Wanderschaft zu schicken.
Wenn man vom Oger spricht … Orkzahn straffte den Rücken. Die Schmerzen in seinen Nieren hatten nachgelassen, aber wenn er sich aufrichtete, spürte er sie noch immer. Wenigstens pisste er kein Blut mehr.
Stiernacken kam gerade das lang gezogene Tal herauf, das er für sich beanspruchte. In der Rechten trug er seine Keule, mit der Linken hielt er ein gebratenes Wildschwein auf seiner Schulter. Auch er hatte sich aus Theroia eine Drachentrophäe mitgebracht – drei Krallen, von denen jede einen passablen Dolch für Athanor abgegeben hätte. Doch der Troll trug sie an einer Schnur um den Hals, wenn er jemanden beeindrucken wollte.
Woher wusste er, dass heute jemand zu ihm kommen würde?
Als Stiernacken sie bemerkte, blieb er stehen und reckte sich ebenfalls. Allzu misstrauisch auszusehen, galt als Zeichen von Schwäche, aber ein Trollmann konnte nie wissen, ob ein Besucher als Freund kam oder es auf sein Jagdgebiet abgesehen hatte.
»Stiernacken! Alter Untotenfresser! Bringst du einer Freundin ein Geschenk?« Orkzahn grinste anzüglich, um seinem einstigen Kameraden die Anspannung zu nehmen. »Komm!«, forderte er Ohnewort auf, ihm zu folgen. »Er wird dir nichts tun, solange du bei mir bist.«
»Eigentlich war der Braten als Wegzehrung gedacht«, gab Stiernacken zurück und behielt ihn genau im Auge. Sein Freund war ein beeindruckend breitschultriger Troll. Vielleicht wäre er sogar ein paar Fingerbreit größer als Orkzahn gewesen, hätten ihn die Speck- und Muskelberge in seinem Nacken nicht in eine leicht gebeugte Haltung gezwungen. Haare und Bart waren zu braunem Gestrüpp verwachsen, in dem noch trockenes Moos von seinem Nachtlager hing. »Bist du unter die Weiber gegangen?«, fragte er mit einer knappen Geste in Ohneworts Richtung und grinste nun ebenfalls.
Orkzahn lachte. Andere hätten mit der Faust geantwortet, doch diese Männer wären niemals Anführer geworden. Ein Anführer wusste, wann es sich lohnte, zuzuschlagen. Sticheleien prallten an ihm ab wie Regen am Fels. »Das ist Ohnewort, Rotwanges Sohn. Seine Mutter ist tot.«
Stiernacken hob verwundert die borstigen Brauen. »Woran ist sie gestorben?«
»Er will’s mir nicht sagen.«
»Hm.« Stiernacken bedachte den Jungen mit einem missbilligenden Blick.
»Ich habe keine Wunden und kein Blut gesehen. Ich glaube nicht, dass sie überfallen wurde.«
»Wo hast du sie gefunden?«
»Hab ich nicht. Sie hat mir den Jungen gebracht und ist umgefallen. Aber sie war schon vorher tot.«
Ein Moment des Schweigens verging, dann riss Stiernacken die tief liegenden Augen auf. »Sie war ein Wiedergänger?«
Orkzahn nickte. »Genau wie die verfluchten Menschenkrieger in Theroia. Und am Tag zuvor haben sich sechs tote Orks wieder erhoben. Einer steckte sogar schon auf meinem Bratspieß.«
»Man muss sie essen, dann ist Ruhe«, versicherte Stiernacken.
Orkzahn nickte und wollte lieber nicht wissen, ob diese Bissen im Magen noch zuckten, bis sie verdaut waren.
»Deine Mutter natürlich nicht«, fügte Stiernacken mit einem Seitenblick auf den Jungen hinzu.
Eine Weile standen sie schweigend beisammen. Für Ohnewort wollte Orkzahn nicht die Hand ins Feuer legen, aber Stiernacken dachte zweifellos über das Gehörte nach. Sein Freund mochte kein besonders schlauer Kerl sein, aber manchmal kamen ihm so erstaunliche Einfälle wie der, die Untoten einfach zu essen. Man musste ihm nur Zeit lassen, eins und eins zusammenzuzählen.
»Da geht etwas vor«, sagte er schließlich. »Ich war nämlich gerade auf dem Weg zu dir.«
»Hast du auch Wiedergänger gesehen?«
»Nein. Aber vor ein paar Tagen hat mir Alte Eiche von einem Faun erzählt, den er erlegt hat.«
Orkzahn brummte zwiespältig. Der knorrige Alte Eiche verdiente Respekt dafür, einen der schwer zu fangenden Faune erwischt zu haben. Seit jeher wurden sie von den Trollen ebenso als Beute betrachtet wie Menschen und Elfen. Doch unter Athanors Befehl hatte er Seite an Seite mit den Faunen gegen das Untotenheer gekämpft, und nur eine Handvoll Faunkrieger hatte das Gemetzel überlebt. Ohne Männer war das Volk der Faune dem Untergang geweiht. Es kam ihm falsch vor, unter diesen Umständen noch Faune zu fangen. Aber sollte er Alte Eiche deshalb tadeln? Mit welchem Recht? Ich denke einfach zu viel.
»Ja, lecker«, schwärmte Stiernacken. »Ich war auch neidisch … Hm. Jetzt hab ich Hunger.« Er brach eine Keule vom gebratenen Wildschwein ab, das ihm noch immer über der Schulter hing, und bot sie mit einer auffordernden Geste Ohnewort an.
Der Junge zögerte und sah fragend zu Orkzahn auf.
»Essen wir«, stimmte Orkzahn zu, um Stiernacken endgültig von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen. Nur Oger fielen nach einer gemeinsamen Mahlzeit über ihren Gast oder den Gastgeber her. Einen Troll, der sich so hinterhältig benahm, würden sämtliche Frauen von ihrer Höhlenschwelle jagen.
Sie setzten sich in den Schatten der Bäume, und Stiernacken teilte seinen Proviant unter ihnen auf. Während Orkzahn gebratene Rippen knabberte, ging ihm Alte Eiches Fang nicht aus dem Kopf. »Du wolltest zu mir kommen, nur um mir von dem Faun zu erzählen?«
»Mhm«, machte Stiernacken mit vollem Mund. »Weil du in Theroia unser Anführer warst und so. Ich dachte, du solltest es wissen.«
Gab es eine Verbindung zwischen Rotwange, den untoten Orks und diesem Faun? Auf den ersten Blick konnte Orkzahn keine erkennen, und er war des vielen Nachdenkens leid.
Stiernacken entfuhr ein Brummen, als sei ihm gerade noch etwas eingefallen. »Das Wichtigste weißt du ja noch gar nicht.« Seelenruhig kaute er weiter, bis Orkzahn kurz davor war, die Worte aus ihm herauszuschütteln. »Alte Eiche war satt. Er hat den Faun also ausgeweidet und mit nach Hause genommen. Nachts bekommt er plötzlich eins auf den Schädel. Ziemlich derb. Ich hab die Beule gesehen. Er wacht davon auf, und vor ihm steht der Faun. Hat ihm den eigenen Knüppel auf den Schädel gehauen.« Stiernacken lachte, dass ihm Knochenkrümel in den Bart fielen. »So ein Dummkopf! Als ob ein Faun einen Troll erschlagen könnte!«
Orkzahn stimmte halbherzig ins Lachen ein. Hätte der untote Faun eine bessere Waffe in der Höhle gefunden, könnte Alte Eiche wohl nicht mehr mit der Geschichte prahlen. Noch ein Wiedergänger. Wenn das so weiterging, wanderten bald Heerscharen von Untoten in den Trollhügeln herum.
»Du hast recht. Da geht etwas vor«, bestätigte Orkzahn. Doch wie sollte er herausfinden, was hinter diesem Unheil steckte? Er verstand nichts von ruhelosen Geistern oder Zauberei. Vielleicht wusste Rotwange, warum sie nach ihrem Tod wieder aufgestanden war. »Wir brauchen einen Schamanen. Einen, der mit den Toten sprechen kann.«
* * *
Grimmig legte Athanor den Dolch vor sich auf den Tisch. Der Priester hatte die Klinge mitsamt den Knochen einsammeln wollen, doch Athanor hatte ihn daran gehindert. Auch wenn sich die goldenen Ornamente auf dem Griff im Feuer verformt hatten, war die Waffe noch immer von beträchtlichem Wert. Eisen war rar in Dion, und womöglich hatte nicht einmal ein Schmied überlebt, der eine stählerne Klinge fertigen konnte. Auch wenn Grabraub mehr denn je als verwerfliche Tat galt, wollte Athanor sichergehen, dass Nemera den Dolch nicht eines Tages am Gürtel eines Flüchtlings sah.
»Was wirst du damit tun?«, fragte Rhea und musterte die Waffe mit undeutbarer Miene.
»Ins Hafenbecken werfen.« Das würde das Beste sein. Wenn er sie irgendwo vergrub, buddelte sie womöglich jemand wieder aus.
»Warum schneidest du dem bösen Zauberer nicht die Kehle auf? Wie dem Elf, der meinen Käfer zertreten wollte.«
Athanor entfuhr ein frustriertes Knurren. »Ich kann den verfluchten Kerl doch nicht einmal sehen!«
»Aber du bist der Kaysar.«
»Fang du nicht auch noch an! Die anderen haben mich zu einem Gott ernannt. Ich habe nie behauptet, dass ich die Toten beherrsche.« Ich bin schließlich kein verdammter Nekromant! Mit einem Mal wünschte er, sie hätten wenigstens eines dieser Schweine am Leben gelassen. Vielleicht hätte einer von ihnen gewusst, was zu tun war. Unsinn. Wir könnten ihm niemals vertrauen.
»Er sagt, du hast ihm die Frau weggenommen.«
Athanor merkte auf. »Er ist hier? In diesem Raum?«
Rhea nickte. »Stimmt es, dass du sie ihm weggenommen hast?«
»Nemera wollte nicht seine Frau sein. Er ist ein Mörder und ein Lügner, dem du nicht glauben darfst.«
Plötzlich zitterte der Dolch so heftig, dass er leise auf der Tischplatte klapperte.
»Jetzt ist er wütend«, japste Rhea. »Er will dich umbringen!«
Die Klinge schoss über den Tisch. Athanor warf sich zur Seite, dass der Stuhl unter ihm kippte. Hastig rappelte er sich wieder auf. Der Dolch steckte einen Fingerbreit tief in der Wand.
* * *
Die Stadt Sarna lag in einer Bucht, deren natürlichen Schutz die Bewohner durch Mauern verstärkt hatten. Wie zwei bergende Arme ragten die beiden Molen ins Meer hinaus, doch an die Schiffe erinnerten nur noch verkohlte Maststümpfe, die aus dem Wasser ragten. Laurion hoffte, dass der Dolch im Durcheinander der Wracks und der versunkenen Ladung unauffindbar bleiben würde. Er teilte Athanors Misstrauen, was die Gier verzweifelter Menschen anging, und es war kaum zu vermeiden, dass sie jemand beobachtete. Aber auch ihm fiel kein besserer Ort ein, um die Klinge für immer verschwinden zu lassen.
Zwischen den beiden Hafenmauern erstreckte sich ein Stück Strand. Das Skelett eines zukünftigen Fischerboots lag dort, und die Zimmerleute, die sich auf Nemeras Geheiß zusammengefunden hatten, um dem einzigen Bootsbauer zur Hand zu gehen, brachten gerade die ersten Planken an. Ihr Hämmern hallte über den Strand. Die Regentin sah ihnen zu und ließ sich etwas erklären. Verglichen mit dem Gedränge hungriger Flüchtlinge, die beim Anlegen der Fischer stets schnell zusammenströmten, lag der Hafen geradezu ausgestorben da.
Nemeras Lächeln, als sie Athanor entdeckte, versetzte Laurion einen Stich. Es war, als ob Rhea und er neben dem Kaysar nicht existierten. Wie hätte er neben einem Gott auch bestehen können? Halbgott, wagte er einzuschränken. Wenn überhaupt. Unwillkürlich warf er Athanor einen Seitenblick zu, ob jener die ketzerischen Gedanken bemerkte. Von klein auf hatte man ihm beigebracht, an diesen fernen Kaysar zu glauben, aber es war doch offensichtlich, dass dieser Mann weder mystische Kräfte hatte, noch unsterblich war.
Nemera kam ihnen einige Schritte entgegen. »Ist es nicht großartig, wie schnell sie vorankommen?« Die Regentin strahlte vor Stolz, als hätte sie selbst Hammer und Hobel geschwungen. Sicher gab ihr der Bootsbau das Gefühl, etwas bewirken zu können. Laurion verstand sie nur zu gut.
»Ja, sehr hilfreich«, erwiderte Athanor im Vorübergehen.
»Seid Ihr denn nicht hergekommen, um nach dem Schiff zu sehen?«, fragte die Regentin irritiert.
»Nein.«
Laurion brachte es nicht über sich, Nemera so gekränkt stehen zu lassen. »Er kann es Euch vor den Männern nicht sagen«, raunte er ihr zu.
»Oh.« Nemera nickte verstehend und schloss sich ihnen an.
Als sie außer Hörweite waren, hielt Athanor ihr kurz das in grobes Leinen eingeschlagene Päckchen hin, das er in einer Hand trug. »Niemand soll wissen, was ich gleich versenken werde.«
»Was ist das?«
»Der Dolch.«
Die Regentin runzelte die Stirn. »Warum hast du ihn nicht dem Totenpriester gegeben?«
Athanor brummte nur.
»Der böse Zauberer hat das Messer auf den Kaysar geworfen«, sprang Rhea ein, während sie die wenigen Stufen auf eine der Hafenmauern emporstiegen. »Er will ihn umbringen, weil du jetzt seine Frau bist.«
Nemera erbleichte. »Aber wie … Kann er etwa …«
»Ich glaube, dass er nur Macht über diesen besonderen Dolch hat«, erklärte Laurion rasch. »Von Blutmagie verstehe ich zwar nicht so viel, aber er wurde mit dieser Klinge getötet, und ein Blutopfer setzt von allen Ritualen die stärkste Magie frei.«
»Bist du sicher, dass er nicht als Nächstes Athanors Schwert ziehen wird?«
Verlegen wich er ihrem Blick aus. »Ich kann es nicht gänzlich ausschließen. Niemand weiß, welche Zauber er beherrscht, und er kann sie immer noch anwenden. Wir müssen wohl eher fürchten, dass er wieder Untote beschwört, als Waffen zu lenken.« Nemeras Blick verriet ihm, dass er ihr damit nur noch mehr Angst machte, statt sie zu lindern.
»Aber du bist sicher, dass er den Dolch nicht aus dem Wasser fischen wird«, vergewisserte sich Athanor.
»Nicht, solange er an dem schweren Stein hängt. Über den Stein gebietet er nicht.«
Der Kaysar holte den Backstein, an den sie den Dolch mit mehreren Lederriemen geknotet hatten, aus dem Tuch. »Wollen wir hoffen, dass du recht hast«, sagte er und schleuderte den Stein ins Hafenbecken hinaus. Niemals hätte Laurion etwas so weit werfen können. Vielleicht war an den übermenschlichen Kräften doch etwas dran.
Platschend schlug der Stein auf und verschwand sofort unter der Oberfläche. Rasch sah Laurion zu den Handwerkern am Strand, doch es starrte niemand auffällig zu ihnen herüber.
»Das sollte das Letzte gewesen sein, was dich an ihn erinnern kann«, wandte sich Athanor an Nemera.
»Ich habe die Waschfrauen auch angewiesen, den Ruß von den Fliesen zu schrubben«, fügte Laurion eifrig hinzu. Der Fleck war zwar kaum von den Schäden durch das Drachenfeuer zu unterscheiden und würde sich nicht völlig entfernen lassen, aber der Versuch zählte.
»Geht er weg, wenn wir ihn vergessen?«, fragte Rhea mit kindlichem Ernst.
»Das darf …« Nemera verstummte beim Klang eines Horns.
Ein Drache! Schon hörte Laurion weitere Hörner in die Warnung einstimmen.
»Lauft zu den Zisternen und versteckt Euch!«, rief Athanor und rannte Richtung Palast davon. »Ich muss mich bewaffnen.«
Laurion wollte bereits loseilen, doch als sich Nemera nur zögernd in Bewegung setzte, rang er seine Angst nieder und wartete.
»Bestimmt ist es nur Akkamas, der zurückkehrt«, hoffte sie, klang aber selbst nicht überzeugt. Während sie Rhea bei der Hand nahm und eilig die Hafenmauer verließ, kehrte ihr besorgter Blick ständig zu dem unfertigen Boot zurück. Die Zimmerleute waren längst geflohen.
Laurion musste sich zwingen, Nemera nicht vor sich herzuschieben, damit sie schneller lief. »Herrin, auf diesem Strand bieten wir ein prächtiges Ziel!«
Noch einmal warnten die Hörner: Drachen in Sicht! Endlich rannte Nemera, aber sie blickte unglücklich zurück. »Sie werden es verbrennen. Es war alles umsonst!«
»Es ist nur ein Boot!«
Nemera sah so getroffen aus, dass Laurion seine Worte auf der Stelle bereute. Ein weiteres Schiff stand für mehr Nahrung, für eine Zukunft, und in der niedergebrannten Stadt gab es ohnehin kaum Holz … »Also schön.« Laurion blieb abrupt stehen. Überrascht hielt die Regentin inne, obwohl Rhea an ihrer Hand zog.
»Ich werde versuchen, das Boot zu retten«, versprach er, »aber bringt Euch endlich in Sicherheit!«
Nemera sah fragend aus. Sie öffnete bereits den Mund, besann sich jedoch, nickte nur und rannte endlich, so schnell Rhea konnte. Laurion zwang sich, ihr nicht nachzustarren, sondern zum Strand zurückzulaufen. Ich muss vollkommen bescheuert sein. Er hatte noch nie etwas so Großes vor den Blicken anderer verborgen, und ihm blieb nicht viel Zeit. Wie sollte er das schaffen? Wirkten Illusionen bei Drachen überhaupt? Sie tun es, fiel ihm ein. Sethon hatte den Großen Drachen in Gestalt des Obersten Priesters ermordet.
Gehetzt bückte er sich und schaufelte mit den Händen Sand, den er über das Schiffsskelett streute. Die wenigen Körner konnten es nicht tarnen, doch sie würden seinem Zauber einen Halt in der Wirklichkeit geben. Du bist Sand, flüsterte er dem werdenden Boot im Stillen zu. Mit aller Vorstellungskraft, die er im Lauf der Jahre erworben hatte, warf er einen Mantel aus Sand darüber, deckte es zu, als hätte der Wüstenwind eine Düne herbeigeweht. Immer deutlicher sah er nur noch Sand vor sich und ebnete ihn mit unsichtbaren Händen ein, bis nichts mehr an ein Schiff erinnerte. Er schloss die Augen und wandte sich ab. Jede hektische Bewegung, jeder falsche Gedanke konnte das Trugbild zerreißen, bevor es fest in der Welt verankert war. Erst als er ihm den Rücken zuwandte, öffnete er die Lider. Der Zauber wirkte am besten, wenn er ihn jetzt vergaß.
Eine Bewegung lenkte seinen Blick zum Himmel. Oh, verdammt … Über den Ruinen des Palasts schwebte der Drache. Er musste dort irgendetwas gesehen haben, denn er bäumte sich in der Luft auf und öffnete den Rachen wie zu einem Schrei. Doch Laurion hörte nichts. Ungläubig starrte er das Ungeheuer an. Die gewaltigen Schwingen waren zerrissen. Sie hingen in Fetzen, die bei jedem Flügelschlag flatterten wie makabre Fahnen. In der Schuppenhaut über den Rippen klaffte ein so großes Loch, dass Laurion dahinter den Himmel sah. Er ist tot. Und doch gleißte vor dem Maul ein Flammenstrahl auf.
* * *
Athanor hetzte in seine armselige Residenz. Das zweite Hornsignal bestätigte seine Ahnung, dass Akkamas nicht so unerwartet schnell zurückgekehrt war. Atemlos zog er das Kettenhemd über und gürtete sich mit den beiden Schwertern – dem zerbrochenen und dem dionischen. Es gab niemanden, der ihm Helm und Schild anreichte, denn die Bediensteten waren längst geflohen. Im Hinauslaufen packte er noch den Speer, obwohl keine dieser Waffen genügen würde, um einen Drachen vom Himmel zu holen. Muss sich das Biest eben zu mir auf den Boden bequemen, wenn es sterben will.
Das Palastviertel war bereits leergefegt. Athanor nahm Abkürzungen, sprang über Trümmer und schlitterte Schutthalden hinab zum Haus des Wassers. Je näher er dem von Brandspuren gezeichneten Gebäude kam, auf desto mehr Fliehende stieß er. Eltern taumelten unter dem Gewicht ihrer Kinder. Alte und Kranke mühten sich auf Helfer gestützt vorwärts. Alle rannten auf das Haus des Wassers zu, dessen säulengestützte Vorhalle eingestürzt war. Dahinter stand jedoch unversehrt das Portal zur inneren Halle, in der sich der Abgang zu den Zisternen verbarg. Hier hatte der Wasservogt darüber gewacht, dass niemand mehr von den kostbaren Vorräten nahm, als ihm zustand. Nur so konnte eine Stadt ohne Quellen den regenlosen Sommer überstehen.
Mahanael wartete bereits neben dem Eingang und hob grüßend eine Hand. Im gleichen Augenblick glitt ein dunkler Schemen über den Himmel. Im Laufen drehte sich Athanor, um den Drachen zu sehen. Das Ungeheuer flog so hoch, dass er gegen die Sonne blinzeln musste. Über dem Palast hielt es inne und stieß plötzlich hinab. Hatte sich dort etwas bewegt?
»Schneller!«, herrschte Athanor die Flüchtlinge an. »Rennt!«
»Was auch immer dort sein mag, wird ihn nicht lange ablenken«, sagte Mahanael voraus.
Einer der freiwilligen Stadtwächter verzog abfällig das Gesicht. »Bestimmt dieser goldgierige Krämer, der dort immer nach Schätzen wühlt. Als ob man den verfluchten Plunder essen könnte.«
Athanor sah nicht mehr hin. Wer auch immer sich dort herumtrieb, war jetzt verloren. Rasch zählte er die Bewaffneten durch, die sich wie verabredet eingefunden hatten. Keiner war auch nur annähernd so gut gerüstet wie ihr Kaysar, aber Athanor hatte unter ihnen aufgeteilt, was es noch an Waffen und Lederharnischen gab. Bis auf einen Wachmann und zwei überlebende Kämpfer der großen Schlacht bestand seine Truppe aus Handwerkern und Bauern. »Einer fehlt noch«, stellte er fest.
»Gütige Urmutter«, hauchte einer der Männer.
Die anderen starrten erschreckt zum Palast.
»Das ist kein gewöhnlicher Drache«, warnte Mahanael.
Alles ist besser als ein unsichtbarer Geist. Athanor ignorierte das helle Aufleuchten im Augenwinkel. Sollte das Biest nur seine Flammen an den einen dummen Kerl verschwenden. Rasch überblickte er den Platz vor dem Haus des Wassers. Noch immer kamen Nachzügler angerannt, doch es schienen die letzten zu sein. Bei Athanors Anblick schickten sie sich an, sich zu verneigen. »Wagt es nicht, in den Staub zu fallen! Lauft!«, brüllte er und entdeckte unter ihnen auch den fehlenden Wächter. Der Mann trug einen kleinen Jungen und setzte ihn hastig vor dem Portal ab.
»Es ist ein Wiedergänger.«
Mahanael sagte es so nüchtern, dass es einen Lidschlag dauerte, bis Athanor begriff. Ungläubig fuhr er herum. »Hadons Fluch!« Das zerfledderte Biest musste tatsächlich tot sein. Wozu hatten sie die verfluchte Echsenbrut besiegt, wenn die Ungeheuer einfach wieder aufstanden?
Der untote Drache wandte den Kopf in ihre Richtung.
»Hinter den Eingang!«, befahl Athanor. »Verteilt Euch! Sucht Deckung!« Er ließ die Männer voranlaufen, behielt den fliegenden Kadaver im Blick, der sie auch ohne Augen zu bemerken schien. Schon schoss der Drache auf sie zu. Athanor eilte durchs Portal und sprang dahinter zur Seite. Mahanael stand bereits auf der Lauer. Mit aufgelegtem Pfeil hielt er den Bogen bereit.
»Das wird nichts nutzen«, befand Athanor. Keine unserer Waffen wird das. Als es über der Schwelle plötzlich heller wurde, duckte er sich rasch hinter den Schild. »Zurück!«, bedeutete er Mahanael stumm. Stechende Hitze streifte seine Haut. Weiße Flammen tauchten die Halle in grelles Licht. Rückwärts eilte er die Wand entlang und spähte über den Schildrand. Da sie im ausgebrannten Saal keine Nahrung fand, löste sich die Feuerwolke auf. Außer der Treppe in der Mitte, die zu den Zisternen hinabführte, gab es nur noch leere Türöffnungen und steinerne Bänke an den Wänden. Seine Männer hatten dort Deckung gefunden und starrten teils ängstlich, teils grimmig zum Tor.
»Wir bräuchten Brandpfeile«, stellte Mahanael fest.
»Er würde ins Meer tauchen und zurückkommen. Damit gewinnen wir höchstens Zeit.« Athanor verfluchte den Drachen, der gerade den riesigen Schädel zum Tor hereinstreckte. In Theroia hatte er ein Geschütz der Zwerge und magisches Feuer gebraucht, um dem untoten Biest den Garaus zu machen. Beides gab es hier nicht – nicht auf ihrer Seite.
Abrupt wandte der Drache den Kopf in ihre Richtung. Mahanael bekam den abwesenden Blick, der verriet, dass er zauberte. Athanor spannte sich zum rettenden Sprung. Lautlos öffnete sich das zähnestarrende Maul zu einem neuen Flammenstrahl. Die gleißende Wolke blühte auf – und traf auf einen Windstoß, der sie in Fetzen riss. Zurückgepeitschte Flammen hüllten das Haupt des Ungeheuers ein. Knisternd fing die Schuppenhaut Feuer. Der Drache schüttelte so heftig den Kopf, dass der Hals gegen den Türsturz stieß. Beunruhigend knirschte es in der Mauer. Das untote Biest riss den Kopf zurück und verschwand aus Athanors Blick. Zwei Wächter brachen in Jubel aus, doch er brachte die Rufe mit einer Geste zum Verstummen. »Der löscht sich und kommt wieder!«
Betreten sahen sich die Männer an.
»Und was können wir dann gegen ihn tun?«, fragte der Wächter, der das Kind getragen hatte. Athanor erinnerte sich, dass der Mann Jäger war und die Vernichtung überlebt hatte, weil er nicht in der Stadt gewesen war.
»Wir müssen verhindern, dass er zum Meer fliegt, nachdem wir ihn in Brand gesteckt haben.«
»Und wie?«, wollte Mahanael wissen.
»Damit«, antwortete Athanor und zog das zerbrochene Schwert.
* * *
Einen Schamanen finden. Das sagte sich so leicht. Orkzahn wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Gemeinsam mit Stiernacken durchwanderte er die westlichen Trollhügel. Wie versprochen hatten sie Ohnewort zu Rotwanges Mutter gebracht, doch das schnippische alte Weib war keine Hilfe gewesen. Es wusste nicht, wo ein Schamane zu finden war. Seit vielen Jahren hatte es keinen mehr gesehen. Die meisten Schamanen waren im Krieg gegen die Elfen gefallen – allen voran die legendäre Steinherz, die das Herz der Trolle gehütet hatte. Nicht dass es jemals viele Schamanen gegeben hätte. Daran ließen die Erzählungen der Alten keinen Zweifel. Aber wer etwas von Zauberei verstand und dem Tod im Krieg entronnen war, hatte sich danach vor den Elfen verbergen müssen. Orkzahn war Jahrhunderte nach dem Krieg geboren worden, und wie fast alle anderen Trolle, die er kannte, hatte er noch nie einen Schamanen gesehen.
Je weiter er und Stiernacken sich von der theroischen Grenze entfernten, desto karger wurde die Landschaft. Der Wald verlor sich zu einzelnen Hainen, die felsige Anhöhen säumten wie ein Haarkranz die Glatze so manchen alten Trolls. Dazwischen wiegten sich golden schimmernde Gräser im Wind. Der Anblick wärmte Orkzahn das Herz. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht gespürt, wie fremd ihm die Wälder der Elfenlande in all den Jahren geblieben waren. Tief atmete er die ein wenig staubige Luft ein, die nach sonnenbeschienenen Felsen und Pinienharz roch. Obwohl er sich einen Lidschlag zuvor nicht alt oder schwach gefühlt hatte, kam er sich mit einem Mal doch jünger und kräftiger vor. Dieses Land war seine Heimat. Er gehörte hierher, und kein Elf der Welt würde ihn dazu bringen, es noch einmal zu verlassen. Das Herz der Trolle war zerbrochen. Sie hatten keine Macht mehr über ihn.
Es fiel ihm schwer, den Schatten der Untoten auf den windzerzausten Hügeln zu sehen. Und doch war das Unheil da. Im ersten Moment glaubte Orkzahn, dass nur der Wind wie das Ächzen Sterbender heulte. Er wollte gerade weitergehen, als Stiernacken innehielt und lauschte. »Hörst du das auch?«
Orkzahn nickte. Für einen Augenblick war es still, und es wisperte tatsächlich nur der Ostwind an seinen Ohren. Aber dann ertönte es erneut. Ein verendender Büffel? Ein Bär? Beute kam nicht ungelegen. Sie hatten seit dem Vorabend nichts mehr gegessen.
»Das kommt von dort«, stellte Stiernacken fest und marschierte bereits auf das Gesträuch zu, auf das er deutete. Nach guter Trollart brach er mitten durch das Geäst. Orkzahn grinste. Damit hatten sie es den Elfen jeden Tag ein wenig heimgezahlt, denn aus irgendeinem Grund hassten es die Spitzohren, wenn jemand achtlos Grünzeug zertrat. Für einen Troll war es aber unmöglich, im Wald keine Äste zu brechen oder ganze Pflanzen zu zermalmen. So ein Pech aber auch …
Als er neben Stiernacken aus dem Gestrüpp trat, verging Orkzahn das Grinsen. Vor ihnen lag ein junger Trollmann am Boden, und zwischen blutverkrustetem Haar klaffte ein Loch in seinem Schädel. Dennoch lebte der Fremde. Orkzahn hörte den röchelnden Atem. Die Haltung des Verwundeten und eine breite Schleifspur in Gras und Staub verrieten, dass er sich von irgendwoher an diese Stelle geschleppt hatte.
»Zäher Bursche«, stellte Stiernacken anerkennend fest.
»Muss ein starker Gegner gewesen sein«, meinte Orkzahn und sah die Spur entlang. Von einem Verfolger war noch nichts zu sehen. Neugierig beugte er sich zu dem Fremden hinab. »Hast du versucht, jemandem die Höhle abzunehmen?«
Der Verwundete stützte sich mühsam auf, um ihn anzublicken. »Das war kein gerechter Kampf. Ich hatte gewonnen!«
»Bei so einem Streit kann man schon mal den Kürzeren ziehen«, gab Stiernacken zurück. »Hast es wenigstens versucht.«
Orkzahn brummte. Selbst wenn der Junge die Wahrheit sagte, würde es an seinem Schicksal nichts ändern. Niemand überlebte eine solche Wunde, wenn kein Elf mit Heilzaubern eingriff. Aber es war besser zu wissen, ob sich ein Oger von einem Troll in der Gegend herumtrieb. Vor einem solchen Kerl musste man ehrliche Männer und Frauen warnen. »Was hat er getan?«
»Er war tot!«, brachte der Fremde aufgebracht hervor. »Ich hatte ihn besiegt, und er stand einfach wieder auf. Er stand einfach wieder auf!« Der Zorn schien dem Jungen neue Kraft zu verleihen, doch unter dem Schmutz war sein Gesicht kreidebleich.
»Ahnherrs Keule!«, fluchte Stiernacken. »Noch ein Untoter.«
Nickend richtete sich Orkzahn wieder auf. »Und bald noch einer.« Vielsagend deutete er auf den Fremden hinab, der in den Staub zurückgesunken war. Stiernacken erwiderte seinen Blick. Orkzahn wusste, dass sie dasselbe dachten. Nach alter Trollsitte mussten sie ausharren, bis der Verwundete tot war, und den Leichnam dann gegen einen Baum oder Felsen lehnen, als hätte er sich zum Sterben dort niedergesetzt. Wichtig war dabei, dass sein gebrochener Blick zum Berg der Ahnen wies, wo ihn die Geister der Vorfahren erwarteten. Doch wie lange würde die Leiche dort bleiben?
»Du hast recht«, sagte Stiernacken und beugte sich dabei hinab, damit der Fremde merkte, dass er zu ihm sprach. »Wer tot ist, hat verloren. Wir werden überall von seiner Schande erzählen.«
Orkzahn sah, wie mit der Wut die Anspannung aus dem hingestreckten Körper wich. Obwohl er bereits am Boden lag, fiel der Sterbende gleichsam in sich zusammen. Sein Dank war ein kaum hörbares Wispern. Ein paar Schritte entfernt setzten sie sich ins strohige Gras, um zu warten. Nachdenklich kratzte sich Orkzahn im Bart. »Wir müssen etwas unternehmen.«
Stiernacken brummte zustimmend und wiegte den Kopf dabei. »Es gibt zu viele Untote.«
Und sie machen den Lebenden streitig, was nur den Lebenden gehört. Wie sollte ein Mann noch eine Höhle in Besitz nehmen, wenn Wiedergänger sie ihm streitig machten? »Diese Untoten bringen den natürlichen Lauf der Dinge durcheinander.«
»Aber wir können sie nicht essen«, entschied Stiernacken. »Es sind Trolle.«
Orkzahn nickte. Das gehörte sich nicht. Es verstieß gegen den uralten Brauch, wie mit Toten zu verfahren war. »Irgendetwas müssen wir aber tun.«
Verstimmt pflügte Stiernacken mit dem Knauf seines Knüppels in der Erde herum.
»Es wäre dumm zu warten, bis er wieder aufsteht«, fügte Orkzahn hinzu. »Dann wird es nur schwieriger.«
»Iss ihn doch selbst!«, knurrte sein Freund. »Ich mach’s nicht.«
»Wer sagt denn, dass wir ihn essen müssen? Wir könnten ihn auch verbrennen.«
»Oh, das ist gut.« Stiernacken grinste erleichtert, bis ihm wieder etwas einfiel. »Es entspricht nicht dem Brauch. Tote setzt man hin und geht weg. Die Ahnen werden wütend sein und uns bestrafen.«
Der Einwand war nicht leicht von der Hand zu weisen. Wer die Geister der Ahnen gegen sich aufbrachte, dem bescherten sie Jagdpech oder hängten ihm eine Krankheit an. »Wir könnten ihnen opfern.« Wenn das nichts half, brauchten sie erst recht einen Schamanen, der für sie mit den Geistern sprach.
»Wir dürfen die Gebote der Ahnen nicht verletzen«, beharrte Stiernacken und stampfte mit dem Keulenknauf, um zu zeigen, dass er es endgültig meinte.
Orkzahn brummte unwillig. Wenn er Stiernacken nicht umstimmte, würde sich sein Freund verpflichtet fühlen, ihn von diesem Frevel abzuhalten. Jeder Troll verteidigte die Gebote der Ahnen – im Notfall auch mit Gewalt. Sollte er es auf einen Kampf mit Stiernacken ankommen lassen? Sobald ein Wiedergänger auftauchte, würden sie einander dringend brauchen.
Beunruhigt sah er wieder zu dem Sterbenden hinüber. Nach allem, was er wusste, konnten sich die Toten nicht sofort wieder erheben. Sein Ork hatte erst auf dem Bratspieß gezappelt, und Alte Eiches Faun war erst in der folgenden Nacht aufgestanden. Diese Zeit mussten sie nutzen, um ihn unschädlich zu machen. Wie konnte er Stiernacken schnell genug auf seine Seite bringen? »Ist es nicht so, dass die Wiedergänger gegen die Gebote der Ahnen verstoßen?«
Stiernacken runzelte die Stirn. »Das stimmt.«
»Ist es dann nicht richtig, das zu verhindern?«
»Hm.«
Orkzahn ließ ihm ein wenig Zeit, die Sache zu überdenken.
Sein Freund kratzte sich mit dem Knüppel an der Schläfe. »Wenn wir damit Frevel verhindern, dürfen wir die Gebote missachten?«
Irgendwie klang es nun falsch, aber genau das waren Orkzahns Gedanken.
»Das ist verwirrend.« Stiernacken sah aus, als hätte er Zahnschmerzen.
»Wir müssen es sogar tun«, folgerte Orkzahn. »Sonst sind wir daran schuld, was der Wiedergänger treibt.«
»Hm. Du bist wirklich klug. In schwierigen Zeiten ist es gut, einen Anführer zu haben.« Stiernacken erhob sich. »Verbrennen wir ihn!«
Orkzahn grinste verstohlen. Er kam sich ein wenig ogerhaft vor, aber wie sollte er sonst einen Sturkopf überzeugen?