Читать книгу Was das Leben kostet - Deborah Levy - Страница 4
1 Big Silver
ОглавлениеEin Happy End hängt ganz davon ab, wo wir die Geschichte enden lassen, meinte Orson Welles. An einem Abend im Januar saß ich in einer Bar an der Karibik-Küste Kolumbiens, aß Kokosreis mit Fisch, und am Tisch neben mir war ein braungebrannter tätowierter Amerikaner. Er war Ende vierzig, hatte mächtige Muskelarme und sein Silberhaar zu einem Knötchen am Hinterkopf zusammengezwirbelt. Er unterhielt sich mit einer jungen Engländerin, die neunzehn sein mochte. Sie hatte erst für sich gesessen und gelesen, war aber, nach anfänglicher Unschlüssigkeit, der Einladung an seinen Tisch gefolgt. Zuerst bestritt er das Gespräch allein. Nach einer Weile unterbrach sie ihn.
Was sie sagte, war interessant, eindrücklich und merkwürdig. Sie erzählte, dass sie in Mexiko tauchen gewesen war, und als sie nach zwanzig Minuten wieder an die Oberfläche kam, tobte über dem Wasser ein Unwetter. Das Meer war in brodelndem Aufruhr, und sie hatte Angst, sie könnte es nicht mehr bis zum Boot schaffen. Hauptsächlich handelte ihre Geschichte von einem radikalen Wetterumschwung zwischen Anfang und Ende eines Tauchgangs, daneben aber ging es um eine unausgesprochene Kränkung. Die junge Frau beließ es bei ein paar Andeutungen (es war jemand an Bord, von dem sie sich eigentlich Hilfe erwartet hätte) und warf ihm dann einen prüfenden Blick zu, wie um sich zu vergewissern, ob er begriffen hatte, dass das Unwetter eine Metapher war. So groß war sein Interesse allerdings nicht; stattdessen versetzte er mit einem Manöver des Knies dem Tisch einen Stoß, der ihr Buch abstürzen ließ.
Er sagte: »Du redest gern, oder?«
Sie schwieg nachdenklich, kämmte währenddessen mit den Fingern ihre Haarspitzen und beobachtete zwei Jugendliche, die auf dem kopfsteingepflasterten Platz den Touristen Zigarren und Fußballshirts verkauften. Es war anscheinend nicht so einfach, diesem sehr viel älteren Mann klarzumachen, dass die Welt auch ihre Welt war. Er war ein Risiko eingegangen, als er sie an seinen Tisch eingeladen hatte. Immerhin brachte sie ein ganzes eigenes Leben, eine eigene Libido mit. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie sich nicht für die Nebenfigur und ihn für die Hauptfigur halten könnte. Insofern hatte sie eine Grenze in Frage gestellt, eine soziale Hierarchie zum Einsturz gebracht, gegen die üblichen Rituale verstoßen.
Sie wollte wissen, was das sei, was er da mit Tortillachips aus seiner Schale fischte. Ceviche, sagte er, in Limettensaft marinierter roher Fisch; auf der Speisekarte als sexvice angepriesen – »Wird mit Kondom serviert«, sagte er. Ihr Lächeln zeigte mir, dass sie entschlossen war, sich unerschrockener zu präsentieren, als sie sich fühlte; eine Frau darzustellen, die ohne weiteres auf eigene Faust reisen und abends allein in einer Bar sitzen, lesen und Bier trinken konnte; eine, die ein unmöglich kompliziertes Gespräch mit einem Fremden wagen konnte. Sein Angebot, das Ceviche zu kosten, nahm sie an; dem Angebot, mit ihm an einem einsamen Strand nicht weit von hier – »abseits der Felsen«, versicherte er – bei Dunkelheit schwimmen zu gehen, entzog sie sich.
Nach einer Weile sagte er: »Ich mag Tauchen nicht. Nur für Gold ginge ich tief unters Wasser.«
»Oh«, sagte sie. »Witzig, dass du das sagst. Gerade dachte ich, mein Name für dich wäre The Big Silver.«
»Wieso Big Silver?
»So hieß das Tauchboot.«
Er schüttelte den Kopf, verblüfft, und verlagerte seinen Blick von ihren Brüsten zu der Leuchtanzeige an der Tür, auf der »EXIT« stand. Wieder lächelte sie, aber es war kein echtes Lächeln. Wahrscheinlich war ihr klar, dass der Aufruhr, den sie von Mexiko nach Kolumbien mitgebracht hatte, nach Beschwichtigung verlangte. Sie entschied sich, ihre Aussage zurückzunehmen.
»Nein, Big Silver wegen deinen Haaren und dem Brauenpiercing.«
»Ich bin einfach ein Vagabund«, sagte er. »Ich lass mich treiben.«
Sie zahlte und bat ihn, das Buch aufzuheben, das er auf den Boden befördert hatte. Dafür musste er sich unter den Tisch bücken und mit dem Fuß danach angeln. Es dauerte eine Weile, und als er mit dem Buch in der Hand wieder auftauchte, war sie weder dankbar noch unhöflich. Sie sagte lediglich »Danke«.
Während die Kellnerin Teller mit Krebsscheren und Fischgräten abräumte, musste ich an ein Oscar-Wilde-Zitat denken: »Sei du selbst; alle anderen sind bereits vergeben.« Auf sie traf das nicht ganz zu. Sie musste Freiheiten für sich in Anspruch nehmen, die einem Big Silver selbstverständlich waren – ihm fiel es schließlich nicht schwer, so zu sein, wie er war.
Du redest gern, oder?
Über unser Leben zu reden, wie wir es empfinden, ist eine Freiheit, die wir uns meistens verbieten, aber ich hatte den Eindruck, dass die Worte, die sie sagen wollte, in ihr brodelten und ihr selber so rätselhaft waren wie allen anderen.
Später, als ich schreibend auf meinem Hotelbalkon saß, dachte ich darüber nach, wie sie den sich treiben lassenden Big Silver aufgefordert hatte, zwischen den Zeilen ihrer unausgesprochenen Kränkung zu lesen. Sie hätte die Geschichte mit der Beschreibung des wundersamen Unterwasserlebens in der stillen Tiefe vor dem Unwetter enden lassen können; es wäre ein Happy End gewesen. Aber sie beließ es nicht dabei. Sie stellte ihm (und sich) eine Frage: Glaubst du, dass mich die Person auf dem Boot im Stich gelassen hat? Für ihre Geschichte war The Big Silver der falsche Leser, aber alles in allem, dachte ich, wäre sie vielleicht die richtige Leserin für meine.