Читать книгу Was das Leben kostet - Deborah Levy - Страница 5
2 Der Sturm
ОглавлениеWindstille. Sonnenschein. Ich schwamm unter Wasser. Und als ich zwanzig Jahre später wieder auftauchte, stellte ich fest, dass ein Unwetter ausgebrochen war, ein brodelnder Aufruhr, und ein wütender Sturm peitschte Wellen über mir auf. Zuerst war ich nicht sicher, ob ich es noch zum Boot schaffen würde, dann wurde mir klar, dass ich es nicht zum Boot schaffen wollte. Chaos sei das, was wir am meisten fürchten, heißt es oft, aber ich glaube heute, insgeheim ist das Chaos unsere größte Sehnsucht. Wenn wir nicht mehr überzeugt sind von der Zukunft, die wir planen, nicht von dem Haus, für das wir uns verschuldet haben, nicht von dem Menschen, der neben uns schläft, dann kann es schon sein, dass uns ein Unwetter (das sich seit langem am Himmel zusammenbraut) der Person näher bringt, die wir in der Welt gern wären.
Das Leben bricht auseinander. Wir versuchen es in die Hand zu nehmen, versuchen es zusammenzuhalten. Bis uns irgendwann klar wird, dass wir es gar nicht zusammenhalten wollen.
Als ich um die fünfzig war und mein Leben eigentlich einen Gang hätte zurückschalten, stabiler und vorhersehbarer werden sollen, wurde alles schneller, instabiler, unvorhersehbarer. Mein Boot war meine Ehe, und ich war sicher, dass Zurückschwimmen Ertrinken bedeuten würde. Meine Ehe ist auch das Gespenst, das für immer durch mein Leben spuken wird. Meine Sehnsucht nach dauerhafter Liebe, die ihre Protagonisten nicht kleiner macht, als sie sind, wird mich mein Leben lang begleiten. Bestimmt war ich nicht oft Zeugin einer Liebe, die das alles zustande gebracht hätte – also ist mein Ideal womöglich ohnehin nur ein Phantom. Welche Fragen stellt mir das Phantom? Es sind jedenfalls politische Fragen, aber Politiker ist das Phantom nicht.
Auf einer Reise durch Brasilien sah ich einmal eine Raupe, die so dick wie mein Daumen war und sehr farbenfroh: Sie trug ein symmetrisches Muster aus blauen, roten und gelben Quadraten und sah aus wie ein Werk von Mondrian. Ich traute meinen Augen nicht. Noch seltsamer war, dass sie zwei Köpfe zu haben schien, einen vorn und einen hinten, beide knallrot. Ich musste sie immer wieder ansehen, um mich zu vergewissern, dass mein Eindruck wirklich stimmte. Vielleicht war mit meinem Kopf nicht alles in Ordnung, vielleicht hatte ich einen Sonnenstich, oder der rauchschwarze Tee, den ich morgens schlückchenweise trank, wenn ich den fußballspielenden Kindern auf dem Platz zusah, wirkte halluzinogen. Später erfuhr ich, dass der zweite, falsche Kopf der Raupe vermutlich zur Irreführung ihrer Fressfeinde diente. Ich selber konnte mich zu dieser Zeit nie entscheiden, wie herum ich schlafen wollte. Lag etwa das Kopfkissen so, dass ich nach Süden blickte, schlief ich erst in dieser Position, drehte später aber alles um und schlief mit dem Kopf nach Norden. Irgendwann legte ich mir zwei Kissen ins Bett, eines ans Kopfende, eines ans Fußende. Kann sein, dass dies die äußere Erscheinungsform von Zwiespalt, unklarem Denken, innerer Zerrissenheit war.
Wenn die Liebe Sprünge bekommt, dringt die Nacht ein. Und die dauert endlos. Sie ist voller zorniger Gedanken und Vorwürfe, und die quälenden Selbstgespräche verstummen auch nicht, wenn es hell wird. Das war für mich eigentlich das Schlimmste: dass meine Gedanken quasi beschlagnahmt waren und nur noch um IHN kreisten. Das war nichts weniger als eine Besitzergreifung. Mein privates Unglück wurde mir zum ständigen Begleiter – wie Beckett meinte, als er schrieb, Leid wachse sich zu etwas aus, »das man lebenslang erweitern kann … wie eine Briefmarken- oder Eiersammlung«.
Als ich nach London zurückkehrte, schenkte mir mein türkischer Zeitungshändler einen Schlüsselring mit einem Fellbommel. Ich wusste nichts damit anzufangen und hängte ihn an meine Handtasche. So ein Bommel hat etwas sehr Erhebendes. Einmal, als ich mit einem Kollegen im Hyde Park spazieren ging, hüpfte der Bommel leichtherzig auf und nieder, während wir durchs abgefallene Herbstlaub pflügten. Er war ein Freigeist, stürmisch vergnügt, halb Tier und halb etwas anderes. So viel fröhlicher als ich! Mein Kollege trug einen schmalen Ring, einen rautengemusterten Goldreif, in den ein winziger schläfriger Diamant eingebettet war. »Den Ehering hat meine Frau für mich ausgesucht«, sagte er. »Er ist viktorianisch, eigentlich nicht mein Stil, aber er erinnert mich immer an sie.« Und dann sagte er: »Meine Frau hat wieder einen Unfall gebaut.« Aha, dachte ich, während wir unter den goldenen Bäumen dahingingen, sie hat keinen Namen. Sie ist eine Gattin. Ich fragte mich, warum mein Kollege so oft die Namen der Frauen vergaß, die er auf Veranstaltungen traf. Eine Frau war für ihn immer jemandes Frau oder Freundin, als sei dies das Einzige, was ich wissen müsste.
Wer sind wir, wenn wir keinen Namen haben?
Ich weinte wie eine Frau, als klar war, dass meine Ehe am Ende war. Ich habe schon einen Mann wie eine Frau weinen sehen, aber habe ich je eine Frau wie einen Mann weinen sehen? Den Mann, der wie eine Frau weinte, sah ich auf einer Beerdigung, und es war kein Weinen im eigentlichen Sinn, sondern ein Wehklagen, Heulen, Schluchzen; er weinte sehr dicke Tränen. Seine Schultern zuckten, sein Gesicht war fleckig, er verbrauchte ein Papiertaschentuch nach dem anderen, um sich die Augen zu trocknen, und jedes löste sich alsbald auf. Von seinem Zwerchfell kamen seltsame Töne und Geräusche. Es war eine sehr ausdrucksvolle Trauer.
Ich hatte das Gefühl, dass er in dem Moment für uns alle mitweinte. Die anderen weinten mit mehr Zartgefühl für ihre Umgebung. Als ich mich später beim Leichenschmaus mit ihm unterhielt, sagte er, dieser Tod habe ihn erkennen lassen, dass sich in seinem eigenen Leben »die Liebe ins Gästebuch eingetragen hat, aber nie eingezogen ist«.
Was habe ihn nur daran gehindert, mutiger zu sein, fragte er. Währenddessen nippten wir an exzellentem irischem Whiskey, einer Lieblingsmarke des außergewöhnlichen Mannes, den wir begraben hatten. Ob er und der Verstorbene ein Liebespaar gewesen seien, wollte ich wissen. Ja, sagte er, phasenweise, über viele Jahre hinweg, aber das Risiko, sich rückhaltlos aufeinander einzulassen, seien sie nie eingegangen. Nie hätten sie sich zu ihrer Liebe bekannt. Weil er so aufrichtig war, konnte ich selber freier sprechen, als er mich fragte, weshalb meine Ehe Schiffbruch erlitten habe. Nachdem ich eine Weile geredet hatte, sagte er: »Ich glaube, du bist besser dran, wenn du ein anderes Leben anfängst.«
Ich stellte mir das Gespräch vor, das ich mit dem Vater meiner Kinder nie geführt hatte, wenn eines Tages die bei der Havarie des Boots über Bord geschleuderte und auf den Meeresgrund gesunkene Black Box gefunden würde, die es aufgezeichnet hatte. An einem verregneten Dienstag in ferner Zukunft würde die Black Box von künstlichen Lebewesen entdeckt, die sich ringsum zusammendrängten, um den traurigen, starken Stimmen schmerzerfüllter Menschen zu lauschen.
Das Beste, was ich je tat, war, nicht zurückzuschwimmen. Aber wo sollte ich hin?