Читать книгу Was das Leben kostet - Deborah Levy - Страница 7

4 Leben in Gelb

Оглавление

Ich reiste umher und identifizierte mich Abend für Abend mit dem reizvollen Gedanken einer allgemeinen Destrukturation und, zugleich, eines Neuaufbaus.

Elena Ferrante, Die Geschichte des verlorenen Kindes (2018)

Im November jenes Jahres zog ich mit meinen Töchtern in eine Wohnung im sechsten Stock eines riesigen heruntergekommenen Wohnblocks auf einem Hügel in Nordlondon. Angeblich war hier eine umfassende Instandsetzung vorgesehen, doch wann sie beginnen sollte, stand in den Sternen. Noch drei Jahre nach unserem Einzug waren die Böden der Gemeinschaftsflure graues Industrieplastik. Die Unmöglichkeit, ein riesiges altes Gebäude zu sanieren und zu renovieren, schien mir auf trübsinnige Weise passend für diese Zeit der Auflösung und des Zerfalls. Der Prozess der Instandsetzung, die Wiederherstellung und Reparatur von etwas, in diesem Fall eines an allen Ecken und Enden bröckelnden Art-déco-Gebäudes, war die falsche Metapher für diese Phase meines Lebens.

Ich wollte die Vergangenheit nicht wiederherstellen. Was ich brauchte, war ein vollständiger Neuaufbau.

Es war ein bitterer Winter. Die zentrale Heizanlage war zusammengebrochen. Es gab im ganzen Haus keine Heizung, kein warmes Wasser, manchmal auch kein kaltes. Ich hatte drei Halogenstrahler in Betrieb und unter dem Spülbecken einen Notvorrat von zwölf großen Flaschen Mineralwasser. Wenn das Wasser versiegte, gab es auch keine Toilettenspülung. Ein namenloser Hausbewohner hatte einen Zettel an die Aufzugtür geklebt. HILFE. Bitte! In den Wohnungen ist es unerträglich kalt, könnte bitte jemand etwas TUN? Meine ältere Tochter, die im ersten Semester studierte, witzelte, dass das Studentenleben im Vergleich dazu der reinste Luxus sei. Nachdem sie zum Studium fortgegangen war, wachte ich wochenlang in den frühen Morgenstunden mit dem mulmigen Gefühl auf, dass irgendwas nicht stimmte. Wo war mein erstgeborenes Kind? Und immer dauerte es eine Weile, bis mir wieder einfiel, dass wir alle in ein anderes Leben unterwegs waren.

Der Versuch, ein altes Leben einem neuen Leben einzupassen, war ein sinnloses Unterfangen. Der alte Kühlschrank war zu groß für die neue Küche, das Sofa zu groß fürs Wohnzimmer, die Betten hatten das falsche Format für die Schlafzimmer. Die meisten meiner Bücher waren in Kisten verpackt und lagerten zusammen mit der restlichen Habe aus dem Familienhaus in der Garage. Schmerzlicher war, dass ich in einer Zeit, in der ich beruflich so ausgelastet war wie nie in meinem Leben, kein Arbeitszimmer mehr hatte. Ich schrieb, wo immer es ging, und war ansonsten darauf konzentriert, meinen Töchtern wieder ein Zuhause zu schaffen. Ich könnte behaupten, dass es diese Phase meines Lebens war, die mir die größten Opfer abverlangte, nicht die Jahre in unserer Kernfamilieneinheit. Aber ein neues Zuhause einzurichten, einen Raum für eine Mutter und ihre Töchter zu schaffen, war derart mühsam und anstrengend, derart umfassend und interessant, dass ich zu meiner Überraschung feststellte: Es bekam mir, das Chaos jener Zeit; ich funktionierte sehr gut.

Ich dachte klar und fokussiert; der Umzug auf den Hügel und meine neue Lage hatten etwas in mir freigesetzt, das unterdrückt und eingesperrt gewesen war. Mit fünfzig, in einem Alter, in dem angeblich die Knochen ihre Robustheit verlieren, wurde ich körperlich stark. Ich hatte Energie, weil mir nichts anderes übrig blieb, als Energie zu haben. Ich musste schreiben, um meine Kinder zu versorgen, und ich musste alles Schwere selber schleppen. Freiheit ist nie umsonst. Wer je um Freiheit gerungen hat, weiß, was sie kostet.

Ich schleppte zwei riesige steinerne Blumentöpfe aus dem Garten des Familienhauses herbei und stellte sie auf den Balkon vor meinem Schlafzimmer. Der Balkon hatte das Format eines langen, schmalen Küchentisches; es gab gerade genug Platz für ein winziges rundes Tischchen und zwei Stühle. Die Töpfe wirkten wie zwei Ozeandampfer, die in einem Weiher ankern. Sie gehörten nicht hierher. Nicht in dieses neue Leben unter dem Himmel mit weiten Ausblicken über London. Die trostlosen Wände der Gemeinschaftsflure waren irgendwann in den Siebzigern in einem gesprenkelten Grau gestrichen worden, vermutlich passend zu dem grauen Plastik, unter dem der frühere grüne, räudig gewordene Teppichboden verschwunden war. In diesen Fluren brannte Tag und Nacht Licht, ein gleichbleibend trübes Zwielicht. Manchmal fühlte man sich wie in einer Fruchtblase, als schwämme man in einer grauen Membran; geradezu psychedelisch. Meine Freunde fanden, diese Flure könnten direkt aus Shining stammen.

Ich begann sie »Flure der Liebe« zu nennen.

Jeder Lieferant, der zum ersten Mal an unsere Tür kam (es gab dort mehr als hundert Wohnungen), wirkte leicht panisch und desorientiert, wenn ich aufmachte. Wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man sich einreden, die Flure seien eine Version von Don Drapers New Yorker Wohnung aus Mad Men – nach Eintreten einer kleineren Katastrophe: kein Erdbeben, aber vielleicht ein Erdstoß, der den derzeitigen Bewohnern des Gebäudes einen flüchtigen Eindruck davon vermittelte, wie es früher hier gewesen war. Hatte man dann aber die Wohnung betreten, war es hell und luftig, zumal im Vergleich zu unserem düsteren viktorianischen Familienhaus. Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung lebten wir mit dem Himmel, mit seinen silbrigen Nebelschwaden und ziehenden Wolken und Monden in wandelnder Gestalt.

Manchmal, wenn ich nachts im Wintermantel auf dem Balkönchen saß und schrieb, schienen mir die Sterne sehr nah. Ich hatte das büchergefüllte Studio meines früheren Lebens gegen einen winterlichen Sternenhimmel eingetauscht. Zum ersten Mal genoss ich den britischen Winter.

Ich hatte zwei blühende Erdbeerbäumchen geschenkt bekommen, die gern auf dem Balkon lebten. Wie schaffte es diese immergrüne Pflanze, im November scharlachrote Beeren hervorzubringen? Anscheinend ist die Spezies noch vor der letzten Eiszeit entstanden; vielleicht ist sie deshalb gestählt und liebt die Kälte. In manchen Nächten arbeitete ich in meinem Schlafzimmer, wie eine Studentin, nur ohne Bier, Chips und Joints. In meinem früheren Leben hatte ich frühmorgens geschrieben, jetzt war ich Morgen- und Nachtmensch geworden. Wann schlief ich in dieser Phase eigentlich? Nach der vielen Schlepperei war es ein Schock, über den Rhythmus eines einzelnen Satzes zu grübeln. Drei Tage nach dem Einzug landete in den frühen Morgenstunden, kurz vor Tagesanbruch, eine riesige schläfrige Biene auf meinem Bildschirm. Gleichzeitig hörte ich es um die Glühbirne meiner Lampe summen, und als ich aufblickte, waren weitere fünf Bienen im Zimmer, die wesentlich lebendiger waren als die auf dem Bildschirm dösende dicke Zarin. Ich hatte seit jeher Begegnungen mit Bienen und habe mich oft gefragt, weshalb die Protagonisten der Märchen, wenn sie durch Wald und Flur streifen, so gut wie nie von Insekten gestochen oder gebissen werden. Das Rotkäppchen zum Beispiel müsste, lange vor der Verspeisung durch den Wolf, auf seinem kuchen- und weinbeladenen Gang durch Buchen- und Fichtenwald zum Häuschen der Großmutter von Insekten geplagt worden sein und mückenzerstochene Schienbeine gehabt haben. Und was ist mit den Ameisen, Spinnen, Zecken und Bremsen, mit denen es und wir das Leben teilen? Woher kamen diese Londoner Winterbienen? Vielleicht hatten sie erst die Erdbeerbäumchen besucht, ehe sie hereingeflogen kamen. Es schien mir ein gutes Zeichen, dass die Bienen mein Glück und Elend mit mir teilen wollten. Und ich mit ihnen? Ich schaltete die Lampe aus, dann den Laptop und ging aus dem Zimmer. Als ich mich im Wohnzimmer, wo sich noch zwölf unausgepackte Kisten an der Wand stapelten, aufs Sofa legte, kam mir ein Gedicht von Emily Dickinson in den Sinn. Man könnte sagen, es flog mich aus dem Nichts heraus an, aber das Nichts gibt es ja nicht. Meine Dickinson-Bände lagerten alle in Bücherkisten, die in der Garage vor sich hin gammelten. Diese Kisten waren es, die mir durch den Sinn gegangen waren.

Ruhm ist wie Bienen

Kann singen –

Kann stechen –

Ah ja, auch fliegen.

Ich wünschte, der Ruhm hätte Emily Dickinson noch zu Lebzeiten beflügelt. Ich wusste, wie Zermürbung sich anfühlt – und Hoffnung, dieses gefiederte Wesen, das immerfort singt, wie Dickinson sagt, aller Entmutigung und Vernachlässigung zum Trotz. Emily Dickinson war zur Einsiedlerin geworden. Ob sie sich für ihren Griff nach Freiheit, ihre Auflehnung gegen jede Art der Herrschaft bestrafte? Noch eins ihrer Gedichte fiel mir ein, aus dem Nichts, das immer irgendwas ist, und darin kam das Wort »Gattin« vor. Ich wusste nur noch die erste Zeile:

Gattin bin ich – das liegt hinter mir –

Ich dachte darüber nach, was genau hinter ihr lag, und dann schlief ich ein, in Jeans und Stiefeln wie ein Cowgirl, nur dass meine Prärie der Himmel war.

In diesem Winter aßen meine Tochter und ich gern Orangen zum Frühstück. Wir schälten und zerlegten die Frucht am Abend vorher, machten einen Sirup aus Wasser und Honig und stellten alles zusammen in den Kühlschrank. Experimentierfreudig geworden, probierten wir auch Kardamomsamen und Rosenwasser aus, aber das war ein bisschen wie Blumen zum Frühstück. Den Bienen hätte es vielleicht geschmeckt, aber allzu heimisch sollten sie sich bei uns auch wieder nicht fühlen. Inzwischen besaß ich eine dieser Vogeluhren, die zwölf verschiedene Vogelstimmen erklingen lassen, zu jeder Stunde eine andere. Morgens um sieben stimmte der Zaunkönig ins Gezwitscher der realen Vögel draußen in den dunklen Winterbäumen ein. Um vier Uhr nachmittags, wenn der Buntspecht zu trommeln und bohren anfing, war es schon wieder dunkel. Wenn ich abends heimkam und durch die grauen Flure der Liebe ging, hörte ich manchmal schon vor unserer Wohnungstür die Nachtigall singen.

Solange meine ältere Tochter an der Universität war, waren wir von einer vierköpfigen auf eine zweiköpfige Familie geschrumpft. Weil es mir schwerfiel, mich an den leeren Tisch und die mangelnde Lautstärke zu gewöhnen, legte ich mir eine Leihfamilie zu, die ich kannte und die in derselben Straße wohnte, und lud sie sonntags häufig zum Essen ein. Damit waren wir zu sechst, und unsere Kleinstfamilie blies sich zu etwas Größerem, Lauterem auf. Es waren kluge Leute, diese Leihfamilie. Es war ihnen klar, dass es mir um die Erweiterung meiner eigenen Familie ging, aber sie waren auf konspirative Weise diskret und verloren kein Wort darüber. Sie erschienen gut oder schlecht gelaunt, je nachdem, wer seine Sportschuhe oder seinen Hausschlüssel oder das Mobiltelefon verloren hatte. Wir machten uns über das Essen her, tranken viel Wein, und sie lachten über meine Vogeluhr. Da sie meist um eins kamen, brachte ihnen der Buchfink ein Ständchen, und wenn sie gingen, rief die Schleiereule.

Wenn ich nicht schrieb, unterrichtete und Kisten auspackte, befasste ich mich mit den verstopften Rohren unter dem Waschbecken im Bad. Dazu musste ich erst einmal alles auseinanderschrauben, was sich auseinanderschrauben ließ, dann stellte ich einen Eimer unter den Siphon und wusste nicht, wie es weiterging. Von einem Nachbarn, einem Kardiologen, der eine Etage tiefer wohnte, hatte ich ein geheimnisvolles Gerät ausgeliehen, das einem Staubsauger ähnelte, aber Drähte hatte, die in das Abflussrohr eingeführt wurden. Es war früh am Morgen, und ich trug eine blaue Handwerkerjacke (hierzulande auch französische Postlerjacke genannt) über dem Nachthemd. Die blaue Postlerjacke für einen Klempnerjob zu tragen war keine bewusste Entscheidung, überhaupt nicht; sie hing einfach am Türhaken im Bad, und sie wärmte. Der Kontrast zwischen robuster Funktionsbaumwolle und hauchdünnem Nachthemd schien mir meine Lage ausgezeichnet zusammenzufassen, aber welches Fazit ich ziehen sollte, war mir nicht klar. Seitdem ich nicht mehr mit der Gesellschaft verheiratet war, befand ich mich im Übergang zu etwas oder jemand anderem. Zu was, zu wem? Wie soll ich dieses sonderbare Gefühl von Auflösung und Wiederzusammensetzung beschreiben? Wörter müssen den Geist öffnen. Wenn Wörter den Geist verschließen, können wir sicher sein, dass jemand zu nichts reduziert wurde.

Zum Vergnügen (es war sonst niemand da) begann ich über die Gattung des weiblichen Nachtgewands im Verhältnis zur Klempnerei nachzudenken. Mein aktuelles Nachthemd war aus schwarzer Seide und gattungsmäßig wohl recht sinnlich. Ich hätte darin lustwandeln oder mich damit verkleiden können, zumal Weiblichkeit ohnehin eine Maskerade ist. Ich stellte fest, dass schwarze Seide innerhalb der Gattung weiblicher Nachtwäsche ein Klassiker ist. Zur Vervollständigung der Kombi trug ich außerdem meine »Schamanenlatschen«, wie meine Töchter sie nennen: knöchelhohe schwarze Wildlederstiefelchen mit üppiger, unangenehm echt wirkender Kunstpelzverbrämung, die am einen Schuh herunterhing wie ein kleiner Schwanz und mir um den Knöchel schlug, als ich durch die Wohnung ging und nach einem Gerät suchte, das sich Saugglocke nennt. Die Schuhe waren ein Geschenk meines besten Freunds, der fand, ich hätte eine gewisse »Dämmung« nötig, wie er sagte – was ein Klempner- oder jedenfalls Heimwerkerbegriff für das Verdecken von Bloßgelegtem und Wundem sein mag. Ich schätzte die Pelzstiefelchen mit ihrer wohligen Wärme und ihren magischen Eigenschaften (meine Phantasievorstellung war wohl, dass ich die Tiere eigenhändig gehäutet hatte); sie und die Postlerjacke schienen ein Kontrapunkt zu dem schwarzen Seidennachthemd zu sein.

Ich war die Frau. Ich war der Mann.

Vielleicht war ich Schamane?

Das war eine Dimension, die ich weiter ausloten wollte. Der Schamane trug gern Frauenkleidung. Er hatte die oberste Stellung im Tempel inne. Ich hatte gehört, dass die Schamanin in Korea männliche Kleidung tragen darf, um eine männliche Präsenz in sich zu empfangen. Könnte meine blaue Postlerjacke diese Funktion übernehmen? Der Schamane muss in andere Welten reisen, so wie ich ins Innere des Systems unter dem Waschbecken vordringen musste, um zu verstehen, welche Beziehung zu den verstopften Rohren in Badewannennähe bestand. Meine Hände kribbelten – vielleicht um mir Kraft für den vor mir liegenden Heimwerkerjob zu geben. Was nach längerer Ausschachtung mithilfe des geheimnisvollen Geräts und der Saugglocke zum Vorschein kam, war ein dicker schleimiger Klumpen aus Menschenhaar. Die Klempnerei ist der Archäologie nicht unähnlich. Der Haarklumpen war ein aus der Tiefe gebaggertes menschliches Artefakt. Die Saugglocke war ein Objekt der Schönheit und Zweckmäßigkeit. Als das Wasser wieder ungehindert ablief, ließ ich den Haarklumpen in einsamem Triumph rotieren. Mir kam der Gedanke, dass sich das alte Rom nicht nur ergraben, sondern auch erklempnern ließe, und mir war sofort klar, dass ich unbedingt ein eigenes Exemplar dieses geheimnisvollen Geräts besitzen musste. Der Kardiologe hatte mich auf ein Glas Wein eingeladen, wenn ich ihm sein Werkzeug zurückbrächte. Konnte sein, dass ich eines Tages das Risiko einer Neuverliebung einginge, an den Kardiologen aber würde ich mein Herz nicht verlieren.

Am selben Tag legte ich im Bad einen Kleingarten an. Ich pflanzte einen hohen Kaktus und andere Sukkulenten und stellte sie auf die Ablage neben der Wanne. Sie waren stachelig, manche starrten vor scharfen weißen Dornen. Der Dampf vom heißen Wasser schien sie in erotische Raserei zu versetzen, denn sie wuchsen mit beachtlichem Tempo.

Während in meinem neuen Zuhause alles im wahrsten Sinn schrumpfte (die Sukkulenten ausgenommen), blähte mein Leben sich auf. In dieser schwierigen Phase nahm ich jeden Auftrag an, der mir angeboten wurde, und zuckte zusammen, wenn Rechnungen durch den Briefschlitz fielen. Mit der Zeit wurde mir klar, dass es einfach genügend Richtiges brauchte. Richtig waren das Licht und der Himmel und der Balkon. Richtig waren meine Kinder, die sich in der neuen Geschichte zurechtfanden, sie zu gestalten und sich anzueignen begannen, und dies auch in engem Kontakt mit ihrem Vater. Richtig war eine Wohnung voller singender Teenager, wie an den Tagen, an denen meine Jüngere nach der Schule ihre Freundinnen mitbrachte. Falsch war, keinen ruhigen Platz zum Schreiben zu haben. Falsch war, ohne Tiere zu leben. Aber wie sollten wir in einer Wohnung im sechsten Stock ein Tier halten? Wir dachten über einen Goldfisch nach, mussten aber zugeben, dass er es in einem Teich weitaus besser hätte. Meine Tochter wollte eine Maus haben. Dazu kam es nicht. Wir dachten über einen Papagei nach, aber auch dazu kam es nicht. Irgendwann hatte sie vor, im Park ein Eichhörnchen zu fangen und heimzubringen.

Kam es dazu? Bürstete sie ihm jeden Morgen vor der Schule den Schwanz? Sie wünschte es sich, aber es passierte nicht. Stattdessen lag sie im Bett, las den Großen Gatsby und teilte mir anschließend mit, F. Scott Fitzgerald sei kein besonderer Schriftsteller. Manchmal tröstet ein Tier besser als ein Buch.

Meine Freundin Gemma sagte: »Nimm doch dein Schlafzimmer als Arbeitszimmer. Bau dir einen Schreibtisch. Bau dir Bücherregale. Hol die Kisten aus der Garage und pack deine Bücher aus. Versuch mit Farbe zu leben.« Damit meinte sie nichtweiße Wände. »Gelb wäre doch was«, beharrte sie. »Gelb heitert auf und weitet unseren Blick.« Bei ihrem Vorschlag fiel mir ein, wie ich in unserem früheren Haus die Decke des Schlafzimmers in einer Farbe gestrichen hatte, die sich English Skylight nannte. Danach sah die Zimmerdecke aus wie ein dumpf-bleierner Himmel. Selbst wenn draußen die Sonne schien, war es drinnen regnerisch. Jeden Tag und jede Nacht.

Also gut, in meinem neuen Leben würde ich mich zur Farbe bekennen.

Ich strich die Wände meines Zimmers gelb. In einem Secondhand-Laden erstand ich üppige orangefarbene Seidenvorhänge. Ich hängte einen afrikanischen Wandschmuck aus gefärbten Hühnerfedern auf; sie waren pink. Er sah aus wie ein Schirm und war mindestens einen halben Meter breit und hatte etwas von einer riesigen, weit geöffneten Blüte. Die Federn waren so zusammengenäht, dass man ihn auf- und zuklappen konnte; an die Wand genagelt aber war er immer ausgebreitet und offen, während ich emotional verschlossen war. Ich brauchte einen Schutzschild gegen den Zorn aus meinem alten Leben. Es war eine Blüte, die mich beschirmte.

Eine meiner Heldinnen war die einundachtzigjährige südafrikanische Künstlerin Esther Mahlangu, eine Autodidaktin, die das Malen mit Hühnerfedern als Zehnjährige nach dem Vorbild von Mutter und Großmutter begonnen hatte. Mit ihren perlenbestickten Kleidern, den klimpernden Reifen um Handgelenke, Hals und Knöchel war sie selbst ein wandelndes Kunstwerk. Ich hätte gern mit ihr geredet, aber was hätte ich sagen sollen –

Esther, ich weiß nicht, wie ich in lauter Gelb leben soll. Ich weiß nicht, wie ich mein Leben leben soll.

Die gelben Wände trieben mich in den Wahnsinn. Die orangefarbenen Seidenvorhänge gaben mir das Gefühl, morgens mit einem Hautausschlag aufzuwachen.

Ich hängte den Schild ab und strich alles bis auf eine Wand wieder weiß. Den Schild ersetzte ich durch einen gerahmten Siebdruck mit einem Oscar-Wilde-Zitat. Dann nahm ich das Mottenproblem in der Küche in Angriff. Die Motten waren wie eine Erscheinung aus einem Roman von García Márquez – winzige blinde flatternde Dämonen, für die das backpulverhaltige Mehl und die Haferflocken in meinen Küchenschränken das reinste Schlaraffenland waren.

Anscheinend saßen die Motten gern auf den beiden Fotos, die ich mit Magneten an der Kühlschranktür befestigt hatte. Das eine zeigte die sechzigjährige britische Bildhauerin Barbara Hepworth, die sich, ein Schnitzmesser in der Hand, über die riesige Holzkugel beugt, an der sie arbeitet. 1931, nach der Geburt ihres ersten Kindes, begann sie kompakte Körper aufzubohren; sie erzeugte Löcher. Die Plastik, sagte Hepworth, sei die »dreidimensionale Umsetzung einer Idee«.

Das andere Foto zeigte die neunzigjährige Bildhauerin Louise Bourgeois, die sich, ein eisernes Bildhauerwerkzeug in der Hand, über die taillenhohe weiße Kugel beugt, an der sie arbeitet. Auf dem Foto trägt sie eine Chiffonbluse unter einem schwarzen Kittel, ihr silbernes Haar ist zum Knoten aufgesteckt, in den Ohren hängen kleine Goldreifen. Entgegen der herrschenden Mode erklärte Bourgeois, sie mache Kunst, weil ihre Gefühle größer seien als sie.

Ja, Fühlen ist manchmal qualvoll. Ich hatte die letzten paar Monate versucht, gar nichts zu fühlen. Bourgeois hatte in jungen Jahren in der Tapisserie-Werkstatt ihrer Eltern nähen gelernt. Die Nadel war für sie ein Objekt der psychologischen Reparatur – was sie reparieren wolle, sagte sie, sei die Vergangenheit.

An der Vergangenheit sterben wir entweder, oder wir werden Künstler.

Proust war demselben Gedanken nachgegangen und hatte dafür eine Formulierung gefunden, die in dieser Phase meines Lebens noch besser zu mir passte:

Ideen sind Ersatz für Kümmernisse; in dem Augenblick, da diese sich in Ideen verwandeln, verlieren sie einen Teil ihrer schädlichen Wirkung auf unser Herz.

Während ich mit Motten, verschiedenen Kümmernissen und der Vergangenheit haderte, die mich tagtäglich quälten, blickte ich auf diese beiden Künstlerinnen, die schief an der Kühlschranktür hingen. Die besondere Qualität ihrer Konzentration, mit der sie ruhig die Form umsetzten, die sie sich ausgedacht hatten, verlieh ihnen in meinen Augen eine grenzenlose Schönheit. Diese Art von Schönheit war alles, was für mich zählte. In der ungewissen Zeit, in der ich mich befand, war das Schreiben eine der wenigen Tätigkeiten, bei denen ich mit der Angst vor der Ungewissheit, der Angst vor der völlig offenen Zukunft fertigwurde. Eine Idee tauchte auf, kam meines Weges, war vielleicht aus einem Kummer gekrochen, aber ob sie meiner vagabundierenden, gar meiner konzentrierteren Aufmerksamkeit standhielte, war unklar. Einer beliebigen Anzahl von Ideen quer durch alle Dimensionen der Zeit auf den Grund gehen zu können ist das große Abenteuer des Schreibens. Aber ich hatte keinen Ort zum Schreiben.

Was das Leben kostet

Подняться наверх