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Die Botaniklektion

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Überall standen Schilder, wonach der Obstgarten Privatgrund war, aber Kitty Finch beteuerte, sie kenne den Bauern, niemand werde Hunde auf sie hetzen. Seit zwanzig Minuten zeigte sie ihm nun schon Bäume, denen es ihrer Ansicht nach »nicht so gut ging«.

»Haben Sie nur Augen für leidende Bäume?« Joe Jacobs schirmte seine Augen mit von Mückenstichen übersäten Händen ab und blickte unverwandt in ihre strahlendgrauen Augen.

»Ja, vermutlich.«

Er war sich sicher, im Gras ein Tier knurren zu hören, und sagte ihr, es klinge wie ein Hund.

»Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Hunde. Der Bauer besitzt in der Gegend von Grasse 2000 Olivenbäume. Er ist viel zu beschäftigt, als dass er die Hunde auf uns hetzen könnte.«

»Nun, so viele Olivenbäume halten ihn vermutlich ordentlich auf Trab«, murmelte Joe.

Seine schwarzen Haare, die zusehends zu silbernen Locken verblassten, kräuselten sich unordentlich um seine Ohren, und der verbeulte Strohhut rutschte ihm ständig vom Kopf. Kitty musste immer wieder ein paar Schritte zurücklaufen und ihn aufheben.

»Ach nein, 2000 ... das sind nicht viele Bäume ... ganz und gar nicht.«

Sie bückte sich, um die Feldblumen anzuschauen, die zwischen den weißen, kniehohen Gräsern wuchsen.

»Das hier ist Bellis perennis.« Sie rupfte etwas, was wie Blütenblätter von Gänseblümchen aussah, und stopfte es sich in den Mund. »Jede Pflanze gehört zu irgendeiner Familie.«

Sie vergrub ihr Gesicht in den Blumen, um die sich ihre Hände schlossen, und sagte ihm ihre lateinischen Namen. Er war beeindruckt, wie zärtlich sie die Pflanzen zwischen den Fingern hielt und mit welcher Vertrautheit sie über sie sprach, als wären sie tatsächlich eine Familie mit allerhand Problemen und ungewöhnlichen Eigenschaften. Und dann erzählte sie ihm, ihr größter Wunsch sei, einmal im Leben die Mohnfelder in Pakistan zu sehen.

»Wissen Sie«, gestand sie nervös, »ich habe ein Gedicht darüber geschrieben.«

Joe blieb stehen. Deshalb war sie also hier.

Junge Frauen, die ihm nachstellten und wollten, dass er ihre Gedichte las – und er war sich jetzt sicher, dass sie zu dieser Sorte gehörte –, fingen immer so an: Sie hätten da ein Gedicht über ein ganz außergewöhnliches Thema geschrieben. Sie gingen nebeneinander her und trampelten einen Pfad ins hohe Gras. Er wartete, dass sie den Mund aufmachte, ihr Anliegen vorbrachte, dass sie sagte, wie sehr seine Bücher sie beeinflusst hätten, erklärte, wie sie ihn ausfindig gemacht habe, und schließlich fragte, ob er nicht eventuell, sofern seine Zeit es erlaube, bitte, bitte so freundlich sein könnte, ihren bescheidenen, von ihm inspirierten Versuch zu lesen?

»Sie haben also alle meine Bücher gelesen, und jetzt sind Sie mir bis nach Frankreich hinterhergefahren«, sagte er schroff.

Ihre Wangen und ihr langer Hals wurden von einer neuen Welle des Errötens erfasst.

»Ja. Rita Dwighter, die Besitzerin der Villa, ist eine Freundin meiner Mutter. Rita sagte mir, sie hätten das Haus für den ganzen Sommer gebucht. Sie lässt mich in der Nebensaison umsonst hier wohnen. Diesmal konnte ich nicht kommen, weil SIE es in Beh Beh Beh Beschlag genommen haben.«

»Jetzt ist aber nicht Nebensaison, Kitty. Den Juli rechnet man gemeinhin zur Hochsaison, oder?«

Dem Akzent nach kam sie aus dem Londoner Norden. Sie hatte schiefe Vorderzähne. Wenn sie nicht gerade stotterte und errötete, sah sie aus wie in einer dunklen Werkstatt in Venedig aus Wachs geformt. Sie mochte eine Botanikerin sein, aber sie verbrachte offenbar nicht viel Zeit an der frischen Luft. Wer auch immer ihr Schöpfer sein mochte, war sehr geschickt. Sie konnte schwimmen und weinen und erröten und Sachen wie »in Beschlag genommen« sagen.

»Setzen wir uns in den Schatten.«

Er deutete auf einen großen Baum mit Felsbrocken drum herum. Eine fette, braune Taube ließ sich drolliger Weise auf einem dünnen Ast nieder, der aussah, als würde er unter ihrem Gewicht jeden Augenblick nachgeben.

»Ja, gut. Das ist übrigens ein Haaah-aselnussbaum.«

Er eilte voraus, ehe sie den Satz zu Ende gesagt hatte, setzte sich und lehnte den Kopf an den Stamm. Da sie zu zögern schien, klopfte er auf den Platz neben sich und wischte Zweige und Blätter zur Seite, bis sie sich neben ihn setzte und ihr ausgewaschenes blaues Baumwollkleid über den Knien glattstrich. Er konnte ihr Herz nicht so sehr hören, als vielmehr unter ihrem dünnen Kleid förmlich schlagen spüren.

»Wenn ich Gedichte schreibe, denke ich immer, dass man sie hören kann.«

In der Ferne klingelte eine Glocke. Es klang wie eine Ziege, die irgendwo im hohen Gras des Obstgartens umherstreifte und graste.

»Warum zittern Sie?« Ihre Haare rochen nach Chlor.

»Na ja, meine Hände sind ein wenig zittrig, weil ich meine Tabletten abgesetzt habe.«

Kitty rückte ein Stück näher. Er wusste nicht recht, wie er das deuten sollte, bis er sah, dass sie einer Karawane roter Ameisen aus dem Weg gehen wollte, die unter ihren Waden hindurch krabbelten.

»Warum nehmen Sie Tabletten?«

»Oh, ich habe beschlossen, sie eine Zeitlang nicht zu nehmen. Wissen Sie ... es ist ganz schön, sich zur Abwechslung mal wieder elend zu fühlen. Wenn ich die Tabletten nehme, fühle ich gar nichts.«

Sie schlug nach den Ameisen, die über ihre Knöchel krabbelten.

»Ich habe auch darüber geschrieben ... Es heißt ›Rosen pflücken auf Seroxat‹.«

Joe tastete nach einem Stück grüner Seide in seiner Hosentasche und putzte sich die Nase. »Was ist das, Seroxat?«

»Sie wissen, was das ist.«

Er hatte die Nase in sein seidenes Taschentuch vergraben.

»Erzählen Sie’s mir trotzdem«, schniefte er.

»Seroxat ist ein sehr starkes Antidepressivum. Ich nehme es seit vielen Jahren.«

Kitty starrte in den Himmel, der gegen die Berge anbrandete. Er ertappte sich, wie er nach ihrer kalten, zitternden Hand griff und sie fest in seinem Schoß hielt. Sie hatte alles Recht, über seine Frage empört zu sein. Ihre Hand zu halten war das stumme Eingeständnis, dass er um ihre Vertrautheit mit seinen Gedichten wusste, denn er hatte seinen Lesern alles über seine Jugendjahre unter Medikamenteneinfluss erzählt. Mit 15 hatte er die Pulsadern seiner linken Hand ganz leicht mit einer Rasierklinge gestreift. Nichts Ernstes. Nur ein Experiment. Die Klinge war hart und kühl. Sein Handgelenk war weich und warm. Man sollte die beiden nicht gegeneinander antreten lassen, aber als Teenager sah er bei diesem Spiel keinen Haken. Etwas hatte bei ihm ausgesetzt. Der Arzt, ein alter ungarischer Mann mit Haaren in den Ohren, war nicht der Ansicht, dass dieses Aufeinandertreffen ein alltägliches Versehen war. Er hatte Fragen gestellt. Der ungarische Doktor wollte biographische Fakten hören.

Namen und Orte und Daten. Die Namen seiner Mutter, seines Vaters und seiner Schwester. Welche Sprachen sie gesprochen hätten und wie alt er gewesen sei, als er sie zuletzt gesehen habe? Als Antwort war Joe Jacobs im Sprechzimmer in Ohnmacht gefallen, und so waren seine Jugendjahre in einem einzigen pharmazeutischen Nebel verschwunden. Oder, wie er es in seinem berühmtesten Gedicht beschrieben hatte, das mittlerweile in 23 Sprachen übersetzt war: Eine böse Fee bot mir einen Handel an: »Gib mir deine Geschichte, dann gebe ich dir etwas, was sie dir abnimmt.«

Als er sich zu ihr wandte, um ihr Gesicht zu sehen, aus dem die Röte jetzt gewichen war, waren ihre Wangen nass.

»Warum weinen Sie?«

»Schon gut.« Ihr Ton war nüchtern.

»Ich bin froh, dass ich Geld spare und es nicht für ein Hotelzimmer ausgeben muss, aber ich habe nicht erwartet, dass Ihre Frau mir das freie Zimmer anbieten würde.«

Drei schwarze Fliegen landeten auf seiner Stirn, aber er ließ ihre Hand nicht los, um sie zu verscheuchen. Er gab ihr das Stück Seide, das er als Taschentuch benutzte.

»Wischen Sie sich die Nase ab.«

»Ich will Ihr Taschentuch nicht.« Sie warf ihm das Stück Seide zurück in den Schoß. »Und ich hasse es, wenn jemand zu mir sagt, ich soll mich abwischen. Als wäre ich ein dreckiger Fußboden.«

Er war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, dass auch das eine Zeile aus einem seiner Gedichte war. Nicht ganz so, wie er es geschrieben hatte, aber ziemlich ähnlich. Ihm fiel auf, dass sie am linken Knöchel einen langen Kratzer hatte, und sie sagte, das sei die Stelle, wo seine Frau sie im Pool am Fuß gepackt habe.

Die Ziege kam näher. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, klingelte die Glocke. Wenn sie stehenblieb, war die Glocke stumm. Sie machte ihn unruhig. Er streifte eine kleine grüne Grille von seiner Schulter und setzte sie auf ihre geöffnete Hand.

»Ich vermute, Sie haben etwas geschrieben und hätten gerne, dass ich es lese. Habe ich Recht?«

»Ja. Es ist nur ein Gedicht.« Wieder sprach sie in nüchternem Ton. Sie ließ die Grille frei und sah zu, wie sie ins Gras sprang und verschwand. »Genaugenommen ist es ein Zwiegespräch mit Ihnen.«

Joe hob einen Zweig auf, der vom Baum heruntergefallen war. Die braune Taube über seinem Kopf spielte mit dem Feuer. Sie hätte jederzeit auf einen dickeren Ast umziehen können, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Er sagte, er werde ihr Gedicht am Abend lesen, und wartete darauf, dass sie ihm dankte.

Er wartete. Auf ihren Dank. Für seine Zeit. Für seine Aufmerksamkeit. Für seine Großzügigkeit. Dafür, dass er sie vor Mitchell in Schutz genommen hatte. Für seine Gesellschaft und für seine Worte, die Gedichte, die sie mehr oder weniger dazu gebracht hatten, ihm im Familienurlaub aufzulauern wie eine Stalkerin. Ihr Dank blieb aus.

»Ach ja,« – er starrte auf ihre blassen, mit zerquetschten Ameisen übersäten Schienbeine – »dass Sie, ähm, Medikamente nehmen und so weiter ... behalte ich natürlich für mich.«

Sie zuckte die Achseln. »Also ehrlich gesagt wissen es Jürgen und Dr. Sheridan und alle im Dorf sowieso. Außerdem nehme ich sie ja nicht mehr.«

»Ist Madeleine Sheridan Ärztin?«

»Ja.« Sie verkrampfte die Zehen. »Sie hat gute Kontakte zur Klinik in Grasse. Also tun Sie lieber so, als wären sie glücklich und hätten Ihr Leben im Griff.«

Er lachte, und um ihn noch einmal zum Lachen zu bringen, damit er wie jemand wirkte, der glücklich ist und sein Leben im Griff hat, erzählte sie ihm, dass nichts, absolut gar nichts ein Geheimnis blieb, sobald Jürgen davon erfuhr. »Wie alle Menschen, die nichts für sich behalten können, legt er die Hand aufs Herz und beteuert, seine Lippen seien versiegelt. Aber Jürgens Lippen sind niemals versiegelt, weil immerzu ein riesiger Joint dazwischensteckt.«

Joe Jacobs wusste, dass er ihr mehr Fragen stellen sollte. Wie seine Frau, die Journalistin. Nach dem Warum, dem Wie, dem Wann, dem Wer und allem anderen, was das Leben besser verstehen hilft. Aber sie hatte ihm ja ein paar Dinge erzählt. Auf dem Weg zum Obstgarten hatte sie ihm erzählt, ihren Job, im Victoria Park in Hackney Blätter zusammenzurechen und den Rasen zu mähen, habe sie an den Nagel gehängt. Eine Jugendgang habe sie mit einem Messer bedroht, weil ihre Beine gezuckt hätten, solange sie die Tabletten nahm, und sie somit eine leichte Beute gewesen sei.

Wieder klingelte die Glocke.

»Was ist das?« Kitty stand auf und spähte in das hohe Gras.

Joe sah, wie sich unter ihrem Kleid die einzelnen Wirbel abzeichneten. Als ihm schon wieder der Hut vom Kopf rutschte, hob sie ihn auf, klopfte ihn mit ihren grünen Fingernägeln ab und hielt ihn Joe hin.

»Oh!«

Kitty rief »Oh!«, weil sich in diesem Augenblick etwas im hohen Gras bewegte und pink und silbern aufblitzte. Etwas kam auf sie zu. Das Gras schien sich zu teilen, und dann stand, barfuß und im Kirschdruckbikini, Nina vor ihnen. An den Zehen trug sie das Geschenk von Jürgen, die fünf Zehenringe aus Indien, an denen kleine Glöckchen angebracht waren.

»Ich hab dich gesucht.« Sie starrte ihren Vater an, der anscheinend Kitty Finch die Hand hielt. »Mama ist nach Nizza gefahren. Sie sagte, sie müsse ihre Schuhe reparieren lassen.«

Kitty blickte auf die Uhr an ihrem schmalen Handgelenk.

»Aber die Schuster in Nizza haben um diese Zeit geschlossen.«

Drei knurrende Hunde kamen aus dem Gras gesprungen und umkreisten sie. Als der Bauer auftauchte und den schwitzenden englischen Dichter zur Rede stellte, weil er unbefugt sein Grundstück betreten habe, riss die hübsche junge Engländerin das Band von ihrem Hut und reichte es dem finster dreinblickenden Dichter.

»Wischen Sie sich die Stirn ab«, sagte sie, und dann forderte sie den Bauern auf Französisch auf, er solle seine Hunde zurückpfeifen.


Als sie wieder an der Villa ankamen, ging Joe unter den Zypressen hindurch in den Garten, wo er einen Tisch und einen Stuhl aufgestellt hatte, um im Schatten zu schreiben. Seit zwei Wochen bezeichnete er diese Ecke als sein Arbeitszimmer, und alle wussten, dass er hier nicht gestört werden durfte, selbst dann nicht, wenn er auf seinem Stuhl einschlief. Zwischen den Ästen der Zypressen hindurch sah er, dass Laura auf dem ausgebleichten Korbstuhl am Pool saß. Mitchell brachte ihr gerade eine Schüssel Erdbeeren.

Schläfrig schaute er Laura und Mitchell dabei zu, wie sie in der prallen Sonne ihre Erdbeeren aßen, und bald schon fand er sich am Rande des Schlafes wieder. Es war ein seltsames Gefühl, »sich« am Rande des Schlafes »wiederzufinden«. Als ob er sich jemals irgendwo »wiederfinden« könnte. Wenn, dann sollte es gefälligst ein angenehmer Ort sein, ein Ort ohne Kummer oder drohende Gefahr; ein Tisch im Schatten eines alten Baumes, im Kreis seiner Familie; eine Gondel, die durch die Kanäle Venedigs gleitet, während er fotografiert; ein leeres Kino, in dem er, eine Dose Bier zwischen den Beinen, allein einen Film anschaut. Ein Auto auf einer Gebirgsstraße um Mitternacht, nach einem Schäferstündchen mit Kitty Finch.

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