Читать книгу Bitte, gib nicht auf. - Denise Docekal - Страница 10
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Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder ziemlich ausgeruht. Und ich war nicht allein.
Adam lag neben mir – in meinem Bett. Und er lag nicht nur neben mir, er schlief neben mir und hatte einen Arm um meine Mitte geschlungen.
Oh verdammt.
Vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken, schob ich seinen Arm zur Seite und richtete mich auf. Draußen war es bereits dunkel und ich hatte keine Ahnung wie spät es war, da ich in meiner Wohnung nirgendwo eine Uhr angebracht hatte. Und mein Handy war immer noch ausgeschaltet.
Also tapste ich auf leisen Sohlen aus meinem Zimmer und in die Küche, um mir ein kaltes Glas Wasser zu holen. Das brauchte ich gerade, um meine Nerven zu beruhigen.
Ich war allen Ernstes in Adams Armen eingeschlafen. Nicht nur, dass er der erste Mann war – außer Markus natürlich – mit dem ich mir ein Bett geteilt hatte, nein, es war verdammt nochmal Adam!
Seit zwei Jahren zickten wir uns nur gegenseitig an, versuchten den anderen zu provozieren und beleidigten uns am laufenden Band. Warum lag er nun in meinem Bett? Warum hatte er mich getröstet?
Oh mein Gott, er hatte mich getröstet! Weil ich schon wieder vor ihm zusammengebrochen war. Dieser Mann löste irgendetwas in mir aus, was mich jedes Mal dazu brachte, das Gefühl der Taubheit aufzugeben.
Das war sicher nicht gesund.
„Mary?“, Adam trat zu mir in die dunkle Küche. Ich hatte nicht mal das Licht angemacht, weil ich Angst hatte, dass ihn das wecken würde. Und ich dann mit ihm reden müsste. Tja, mein Plan war nicht ganz aufgegangen.
„Warum stehst du hier im Dunklen?“, er klang noch ein wenig verschlafen.
„Ich ...“, ja, warum denn?
‘Weil du mich aus dem Konzept bringst’, dachte ich, würde mir aber eher die Zunge abbeißen, bevor ich es aussprach.
„Es ist drei Uhr morgens. Du solltest dir noch eine Mütze Schlaf gönnen.“
Ich wollte jetzt aber nicht schlafen. Ich war gerade vieles, aber nicht müde.
„Passt schon.“, murmelte ich und stellte mein Glas ab: „Meinem Kopf geht’s besser.“, tat es wirklich: „Du kannst ruhig heimgehen.“, bitte verschwinde!
„Was ist mit dir?“, er sprach total leise: „Wie geht’s dir?“
Diese Frage wurde mir schon lange nicht mehr gestellt. Wahrscheinlich, weil die meisten Menschen vor meiner Antwort Angst hatten.
„Ging mir schon besser.“, antwortete ich genauso leise. Und es war die Wahrheit.
„Willst du darüber reden? Also über Markus.“
Augenblicklich schüttelte ich den Kopf. Das tat ich nun schon sechs Monate lang. Ich wollte mit niemanden über Markus reden. Weil ich mir dann eingestehen müsste, dass Markus wirklich ...
„Bist du dir sicher? Du hast nicht mal über meine Frage nachgedacht.“, Adam kam ein wenig näher, ließ das Licht aber abgeschaltet. Nur die Straßenbeleuchtung von draußen ließ mich grobe Umrisse erkennen.
„Es tut ... weh über ihn zu reden. Ich kann das noch nicht.“
Adam nickte. Er schien meine Antwort tatsächlich zu akzeptieren.
„Okay. Darf ich dich was anderes fragen?“
Wie war es denn bitte dazu gekommen, dass ich mich von Adam um drei Uhr morgens in meiner Küche ausfragen ließ?
Da ich nicht antwortete, sprach er einfach weiter: „Warum brauchst du die Antidepressiva?“
„Was denkst du denn?“, ich lachte verächtlich.
„Wolltest du dir was antun?“, seine Stimme war klar, trotzdem hatte ich kurz das Gefühl, mich verhört zu haben. Das hatte mich bisher wirklich noch niemand gefragt.
Nicht mal meine Therapeutin.
Aber es traf einen kleinen, wunden Punkt.
„Nicht wirklich.“, murmelte ich. Das war auch wieder die Wahrheit. Ich hatte nie ernsthaft vorgehabt, mir selbst etwas zu tun. Hatte ich wirklich nicht. Ich hatte aber schon mit dem Gedanken gespielt. Einfach, weil ich Markus so sehr vermisste. Weil ich meine zweite Hälfte vermisste.
„Okay.“, Adam schluckte laut: „Hast du hier zufällig irgendwo Kaffee? Ich habe das Gefühl, immer noch im Halbschlaf zu stecken.“
„Du musst wirklich nicht hierbleiben, Adam. Meine Kopfschmerzen sind nur noch ganz leicht.“
„Schon klar, aber einen Kaffee würde ich trotzdem gerne haben.“
„Willst du nicht wieder schlafen gehen? Der wird dich doch nur hochputschen.“
„Mary, ich bitte dich inständig um einen Kaffee, falls du einen hier hast.“, langsam klang er fast verärgert.
Und hier war er wieder. Der Adam Winter, wie ich ihn kannte.
Nickend wandte ich mich um und holte einen Kaffeebecher aus dem Schrank und startete anschließend die Kaffeemaschine.
Wenn ich schon dabei war, machte ich mir auch gleich selbst einen.
Als ich Adam seinen Becher überreichte, zuckte ich entschuldigend die Schultern: „Ich habe leider sonst nichts da. Ich war bisher noch nicht einkaufen.“, nicht mal Milch hatte ich gekauft, weshalb ich mich daran gewöhnt hatte, meinen Kaffee schwarz zu trinken.
„Man merkt, dass du dir noch nicht so viel Mühe gegeben hast, was das Einrichten betrifft. Sieht aus, als wärst du erst vor ein paar Stunden eingezogen.“, um das zu unterstreichen, wies er auf die Kartons im Eingangsbereich.
„Ich konnte mich bisher noch nicht durchringen.“, gab ich zu.
„Verständlich.“, Adam trank seinen Kaffee auf einen Zug leer, stellte die Tasse ab und klatschte in seine Hände: „Dann gehen wir’s mal an.“
Ich dachte, das wäre das Zeichen gewesen, dass er jetzt ging. Das dachte ich wirklich. Immerhin ging er auch in den Eingangsbereich. Aber anstatt sich seine Schuhe anzuziehen, bückte er sich, um einen der Kartons hochzuheben. Er schien gelesen zu haben, dass es auf dem Deckel ganz fett „Küche“ stand, denn er trug den Karton zu mir, um ihn auf der Theke abzustellen.
Ich konnte ihn bei dieser Handlung nur verwirrt ansehen. Selbst als er das Klebeband abriss, um den Karton zu öffnen, war ich immer noch starr.
Was machte er da?
„Ist es okay, wenn ich Licht mache? Das wird sich im Dunkeln als ein wenig kompliziert erweisen.“
„Ich ...“, ich konnte nichts antworten. Adam schien das als ein „Ja“ aufgefasst zu haben, denn er machte, nach kurzer Suche nach dem Lichtschalter, die Deckenbeleuchtung an. Kurz kniff ich die Augen zusammen. Meine Augen hatten sich bereits an das Dunkle hier gewohnt – ich schaltete wirklich selten abends und nachts Licht an – wodurch das Grelle in meinen Augen schmerzte. Adam ignorierte meinen verkniffenen Gesichtsausdruck und machte sich daran, den Karton auszupacken. Immer wieder fragte er mich, wohin ich was haben wollte.
„Wohin mit den Töpfen?“ „Was soll ich mit den Geschirrtüchern machen?“ „Wie willst du Kochlöffel angeordnet haben?“
Keine zwanzig Minuten später war die Küche eingerichtet und der Karton war leer.
„Was soll das?“, endlich fand ich meine Sprache wieder.
„Wir richten dich jetzt ein.“
„Es ist drei Uhr morgens.“, rief ich, als ob das alles erklären sollte.
Adam sah auf seine Uhr am Handgelenk: „Eigentlich ist es schon fast vier.“, er zuckte mit den Schultern: „Jetzt hat es doch auch keinen Sinn mehr, nochmal schlafen zu gehen.“, er deutete auf die weiteren acht Kisten: „Welcher Raum ist als nächstes dran?“
Und so machten wir uns für die kommenden zwei Stunden daran, meine Wohnung einzurichten. Wir arbeiteten uns von Raum zu Raum – meine Eltern hatten wirklich jede einzelne Kiste beschriftet – bis wir wieder in meinem Schlafzimmer angelangt waren.
Als wir beim letzten Karton angekommen waren, konnte ich schon ahnen, was sich darin befand. Ich wollte Adam noch davon abhalten ihn zu öffnen, aber ich war zu langsam. Als ich Adam hart schlucken hörte, wusste ich auch, dass meine Annahme über den Inhalt des Kartons, stimmte.
„Ähm, willst du hier Bilder aufhängen?“
Ich schüttelte den Kopf.
Dazu konnte ich mich wirklich noch nicht durchringen.
Adam nickte verständnisvoll und verschloss den Karton wieder. Anschließend hob er ihn hoch und packte ihn in die hinterste Ecke meines Kleiderschrankes. Dabei fiel sein Blick auf die wenigen Klamotten, die sich darin befanden: „Ich hatte eigentlich immer gedacht, dass ihr Mädels sehr viel mehr Kleidung besitzen würdet.“, Adam kratzte sich am Hinterkopf.
„Wirf doch nicht alle Frauen in einen Topf!“, dieser verdammte Sexist.
Als er meinen schnaubenden Tonfall hörte, drehte er sich lachend zu mir um: „Oh, tut mir leid, Eure Hoheit. Bisher hat sich dieses Vorurteil einfach immer bestätigt.“
„Vielleicht warst du bisher auch mit nur einem Typ Frau zusammen.“, gab ich bissig zurück, dann nickte ich zu dem Reisekoffer, der bei meinem Schreibtisch stand: „Dort sind noch ein paar Klamotten von mir drinnen.“
Adam nickte und ging zu dem Koffer.
Wow, Moment mal.
„Hey!“, rief ich, als er den Koffer auf mein Bett warf und anfing ihn zu öffnen.
„Was denn?“, mal wieder saß Adam der Schalk in den Augen: „Glaubst du, dass ich noch nie Slips und BHs gesehen habe? Jetzt stell dich nicht so an, Mary. Ich habe gerade deine Tampons ins Badezimmer gestellt.“
Meine Wangen liefen rot an. Verdammt, das hatte ich gar nicht mitbekommen.
Adam öffnete meinen Koffer vollständig und wir fingen an meinen Kleiderschrank einzuräumen. Da ich noch nie viel Kleidung besessen hatte, ging das recht zackig und nach einer halben Stunde waren wir fertig.
Ich stellte den Koffer neben meinen Schrank und atmete tief ein. Unglaublich, wir hatten es wirklich geschafft. Meine Wohnung war eingerichtet.
Bei diesem Gedanken kamen mir sofort wieder die Tränen und mal wieder fing ich vor Adam an zu schluchzen. Er tat genau dasselbe, wie vor ein paar Stunden. Er nahm mich in den Arm und ließ mich an seiner Brust weinen.
Eine Stunde, bevor unsere erste Vorlesung starten würde, verabschiedete sich Adam leise von mir und ließ mich noch versprechen, vor dem Buchladen auf ihn zu warten, damit wir gemeinsam fahren könnten. Ich wollte es ihm zu Beginn nicht versprechen – weil ich mir nicht sicher war, ob ich es schaffen würde, auf die Uni zu fahren – aber Adam beharrte darauf, wodurch mir nichts anderes übrigblieb, als einzuwilligen.
Sobald die Tür hinter Adam ins Schloss gefallen war, fühlte ich mich automatisch wieder einsam. Es war mir gar nicht aufgefallen, aber er hatte es wirklich geschafft, meine Einsamkeit und den damit verbundenen Schmerz für ein paar Stunden verblassen zu lassen. Nun kam der Schmerz wieder – heftig, sodass ich für einen Moment das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.
Dann sah ich mich in meiner Wohnung um. Alles war eingerichtet. Sie sah nun tatsächlich bewohnt aus. Selbst meine Kleidung hing säuberlich im Kleiderschrank, sodass ich eigentlich nicht mehr an Markus‘ T-Shirts gebunden war.
Sodass ich eigentlich auch nicht mehr an Markus gebunden war.
Den Gedanken schüttelte ich schnell wieder ab. Ich würde immer an ihn gebunden sein, er war immerhin mein Zwillingsbruder. Er war mein Zwillingsbruder gewesen.
Bevor ich mich weiter an meinen eigenen Gedanken aufhing, entschied ich mich für eine kalte Dusche. Die würde mir hoffentlich helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Ich würde Adam sowieso nicht entwischen können – keine Ahnung, ob ich es überhaupt wollte oder nicht – denn er stand bereits vor dem Buchladen, als ich die Straße hinunter ging. Er lehnte entspannt an der Hausmauer, während er offenbar in ein Buch vertieft war. Unglaublich.
Ich hätte nie damit gerechnet, ausgerechnet diesen Menschen lesen zu sehen. Aber das gehörte wahrscheinlich zur Grundausstattung eines jeden Buchverkäufers.
Wie er wohl an den Job gekommen war?
Als ich noch einige Meter von ihm entfernt war, blickte er von seinem Buch hoch. Ein leichtes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus und er packte das Buch in seine Umhängetasche.
Adam hatte eindeutig in der einen Stunde geduscht und sich wahrscheinlich noch ein paar Kaffee reingepfiffen, er wirkte nämlich putzmunter und voller Tatendrang.
„Guten Morgen.“, sagte er, als ich bei ihm angekommen war.
Abschätzig zog ich meine Brauen hoch oben: „Guten Morgen? Wir sind schon seit fünf Stunden wach.“
Adam zuckte mit den Schultern: „Dann eben Mahlzeit. Können wir gehen?“, er nickte Richtung Straßenbahnhaltestelle.
Ich nickte nur und folgte ihm. Während wir nebeneinanderher gingen, beobachtete ich die Menschen um uns herum.
Etwas, was ich schon seit geraumer Zeit nicht mehr getan hatte. Die meisten schienen, als wären sie auf dem Weg zur Arbeit oder ebenfalls zur Uni. Aber es gab noch andere Menschen, wie zum Beispiel Väter, die mit dem Kinderwagen unterwegs waren, Omas, die wohl gerade ihren Wocheneinkauf erledigten und Jugendliche, die wohl oder übel gerade Schule schwänzten.
„Wie geht’s dir eigentlich in der Vorlesung von der Weber? Ich habe bei ihr immer das Gefühl, am Ende noch dümmer zu sein als zu Beginn.“
Über Adams Aussage musste ich kurz lachen. Und ich konnte ihm nur zustimmen: „Geht mir ähnlich. Ich habe beim letzten Mal recht schnell abgeschaltet.“, gab ich zu.
„Und sonst? Wie gefällt dir das Seminar vom Böck?“
Wir hatten ein Seminar mit einem Professor namens Böck? Verdammt, ich sollte mich auf der Uni wirklich besser konzentrieren.
Ich räusperte mich: „Ähm, ist okay.“
„Wirklich? Auf mich hast du das letzte Mal so gewirkt, als wärst du in einer völlig anderen Welt.“, Adams Blick ruhte auf mir.
Ich grunzte – sehr undamenhaft: „Was wird das? Ein Spiel, in dem du mir zeigst, wie mies ich schon nach der ersten Woche auf der Uni bin?“
„Nein.“, er schüttelte den Kopf: „Du hast auf mich einfach sehr abwesend gewirkt, ehrlich gesagt. Und in den meisten Veranstaltungen bin ich halbwegs gut mitgekommen. Wenn du willst, können wir gemeinsam lernen. Meine Mitschriften sind zwar meistens ein Chaos, aber immerhin vollständig.“
Na toll.
„Tu das nicht.“, murmelte ich, als wir in die Straßenbahn einstiegen.
„Was soll ich nicht tun?“
„Mich wie ein Opfer zu behandeln. Du musst kein Mitleid mit mir haben. Nur weil du weißt, was mit meinem Bruder passiert ist, heißt das noch lange nicht, dass du mich jetzt wie ein kleines, armes Mädchen behandeln musst.“
Die Straßenbahn war mal wieder genauso voll wie jeden Morgen, weshalb Adam mir verdammt nahestand. Ich konnte ihn regelrecht riechen.
„Mary.“, er räusperte sich, wodurch ich meinen Blick hob: „Ich behandle dich nicht wie ein Opfer. Ich weiß nur, wie es ist, sich für den Tod eines geliebten Menschen die Schuld zu geben. Ich weiß, wie sich das anfühlt und, dass man in solchen Moment Unterstützung braucht.“
Ich sah Adam mit großen Augen an. Konnte kaum glauben, was er gerade gesagt hatte: „Ich gebe mir nicht die Schuld an seinem Tod.“, murmelte ich und schmeckte regelrecht das Bittere der Lüge auf meiner Zunge.
„Doch, das tust du. Ich weiß, wie jemand aussieht, der sich die Schuld an so etwas gibt.“, Adam legte ganz sanft seine Hände auf meine Schultern und sah mir tief in die Augen: „Und du bist nicht schuld. Was auch immer mit Markus passiert ist – es war nicht deine Schuld.“
Nun konnte ich den Augenkontakt nicht mehr halten und wich Adams Blick aus: „Du weißt nicht, was passiert ist.“
„Stimmt. Ich habe keine Ahnung. Wenn du mit mir darüber reden willst, bin ich jederzeit für dich da. Und trotzdem weiß ich, dass du keine Schuld daran hattest.“
Er kannte die Geschichte nicht.
Er wusste nicht, dass ich etwas dafür tun hätte können, um Markus zu retten.
Ich hatte die Möglichkeit dazu, habe sie aber nicht wahrgenommen.
„Ich brauche keine Nachhilfe.“, war alles was ich noch sagte, bevor ich die Straßenbahn eine Station zu früh verließ. Den restlichen Weg ging ich lieber zu Fuß, als mir weiterhin die „unterstützenden Worte“ von Adam anhören zu müssen.
Ich kam punktgenau in den Hörsaal. Die Vorlesung hatte noch nicht begonnen, aber bereits jetzt gab es keine freien Plätze mehr, weshalb die viele Studierende bereits einen unbequemen Bodenplatz eingenommen hatten. Ein Platz, auf den ich wirklich so gar keine Lust hatte.
Verzweifelt sah ich mich nach einem letzten Restplatz um, ich würde mich neben den größten Freak setzen, wenn das bedeuten würde, dass ich nicht auf den harten Stufen verharren musste.
Und meine Gebete wurden tatsächlich erhört. In einer der letzten Reihen entdeckte ich noch einen leeren Platz. Erleichtert atmete ich auf und zwängte mich durch die Reihen. Genervt seufzend und augenverdrehend standen die Studenten auf, um mich durchzulassen, aber ob sie angepisst wären oder nicht, war mir nun wirklich egal. Als ich endlich bei dem Platz angekommen war, ließ ich mich mit einem tiefen Seufzen darauf fallen. In dem Moment erkannte ich auch meinen Sitznachbar, und wollte am liebsten wieder fliehen.
„Wieder da.“, Adam grinste mich an.
Na klar, ich hatte vorhin nicht auf die Menschen geachtet, die neben dem freien Platz saßen, sondern nur den Stuhl im Blick gehabt.
Ich wollte schon wieder aufstehen, da legte Adam mir eine Hand auf den Arm: „War ein Witz, ich habe ihn für dich freigehalten.“
„Warum?“, verwirrt sah ich ihn an: „Wir konnten uns zwei Jahre lang auf den Tod nicht ausstehen. Und jetzt bleibst du über Nacht bei mir, weil ich eine idiotische Gehirnerschütterung hatte, richtest meine Wohnung ein und hältst mir verdammt noch Mal Plätze frei!“, meine Stimme wurde immer lauter, wodurch ich den einen oder anderen interessierten Blick auf mich zog. Sofort wurde ich in meinem Stuhl kleiner und hoffte, dass sich jeden Moment ein großes Loch unter mir auftun würde.
„Ich habe dich nie nicht gemocht.“, Adam zuckte mit den Schultern: „Es hat einfach Spaß gemacht, dich zu provozieren. Unsere Auseinandersetzungen fand ich ehrlich gesagt wirklich witzig und es war eine nette Abwechslung und überaus erfrischend.“
Eine nette Abwechslung?
Überaus erfrischend?
Wollte der Kerl mich verarschen?
Schon wieder wollte ich aufstehen, um mir einen neuen Platz zu suchen – notfalls auch gern am Boden – aber da fing die Dozentin bereits mit der Vorlesung an. Jetzt konnte ich wohl kaum aufstehen, ohne die gesamte Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
Da ich mich mal wieder überhaupt nicht auf den Inhalt der Vorlesung konzentrieren konnte, fing ich bald an, in meinem Block herumzukritzeln. Malen und zeichnen hatte mich schon immer beruhigt, obwohl meine geheime Leidenschaft früher beim Schreiben gelegen war. Da ich Bücher und Lesen über alles liebte, hatte es nicht lang gedauert, bis ich selbst eines Tages die Feder in die Hand nahm und Worte zu Papier brachte. Seitdem ich eine Jugendliche war, habe ich es geliebt zu schreiben. Ich konnte Stunden damit verbringen, Geschichten über fiktive Figuren zu erfinden und sie die verrücktesten Abenteuer erleben lassen. Natürlich waren meine anfänglichen Werke miserabel, aber ich hatte das Gefühl, dass ich besser wurde. Bis ich vor sechs Monaten damit aufgehört hatte. Es fühlte sich falsch an. Früher habe ich meine Texte immer von Markus lesen lassen. Wenn er mir sagte, dass sie gut wären, war ich auch davon überzeugt. Wenn er mir riet, dass ich sie nochmal überarbeiten sollte, dann wusste ich, dass ich noch viel Arbeit reinstecken müsste.
Ich wollte sogar Journalistin werden, damit ich täglich schreiben konnte. Natürlich würde ich dann keine fiktiven Geschichten zu Papier bringen, sondern wahre Begebenheiten. Aber da ich schon immer sehr interessiert war an Kultur und Politik, war das für mich ein guter Kompromiss.
Aber nicht mal dazu hatte ich mich in den letzten sechs Monaten durchringen können. Ich hatte im vergangenen halben Jahr nicht einmal eine Zeitung geöffnet.
Mein Lebenstraum war gemeinsam mit Markus gestorben.
Deshalb zeichnete ich heute lieber. Schreiben tat mir zu sehr weh.
„Nett.“, kommentierte Adam meine Kritzeleien nach einiger Zeit: „Bin das etwa ich?“
Es war mir gar nicht aufgefallen, weil ich so in Gedanken versunken war, aber tatsächlich. Ich hatte Adams Gesicht gezeichnet. Einfach nur sein Gesicht.
„Nein!“, tat ich es ab, als wäre es völlig absurd, was er gerade gesagt hatte, und zerknüllte den Zettel, um ihn anschließend in meine Tasche wandern zu lassen. Ich fühlte wie meine Wangen langsam die Farbe von Tomaten annahmen.
Obwohl ich ihn nicht ansah, konnte ich Adams Grinsen förmlich spüren: „Na, na. Kein Grund zur Verlegenheit. Ein solches Gesicht wie meines muss eben auf Papier gebracht werden, sonst wäre ja das Papier reine Verschwendung.“
Gott, brachte mir mal bitte jemand einen Eimer? Ich musste mich übergeben.
„Du bist ein solches arrogantes Arschloch.“, brummte ich und schloss meinen Block. Mir war jegliche Lust am Zeichnen vergangen.
„Das bin ich nicht – und das weißt du auch.“, mit einem letzten Augenzwinkern wandte er sich wieder nach vorne und folgte der Vorlesung. Ich hingegen ging meinen Gedanken nach.
War er ein arrogantes Arschloch?