Читать книгу Bitte, gib nicht auf. - Denise Docekal - Страница 8

Оглавление

Fünf

Die darauffolgenden Tage verliefen wie vor einem Schleier. Ich ging jeden Tag auf die Uni, versuchte Winter so gut wie möglich auszuweichen, tat so, als ob ich Susi zuhören würde, wenn sie mir etwas aus ihrem Leben erzählte und sobald ich daheim war, lag ich stundenlang in meinem Bett und starrte an die Decke. Es war eine gewisse Routine, die sich nach und nach einstellte. Immer, wenn mein Magen knurrte, bestellte ich mir etwas online vom Lieferservice, um möglichst wenig mit Menschen reden zu müssen. Einmal hatte ich dem Lieferanten sogar gesagt, dass er das Essen einfach vor der Tür abstellen sollte und ihm nur das Geld durch den kleinen Schlitz durchgeschoben.

Ich wollte einfach allein sein. Sobald ich unter Menschen ging, gab es nur zwei mögliche Ausgänge. Entweder sie fragten mich über Markus aus und ich fing immer beinahe zu heulen an. Oder aber ich verspürte tatsächlich sowas wie Spaß und hatte Sekunden später ein schlechtes Gewissen, weil ich das Gefühl hatte, meinen Bruder zu verraten.

Daher war es einfacher allein zu bleiben und mir stundenlang die Decke meines Zimmers anzusehen. Dort konnte man mehr erkennen, als man glauben würde. Früher musste ein Kind hier gelebt haben, denn ich erkannte ganz deutlich die Umrisse von Klebesternen unter der weißen Farbe. In einer Ecke waren komische Flecken, die ich einfach ignorierte und über der Tür war ein Fleck, der stark danach aussah, als ob jemand einen Pancake zu stark gewendet hatte und dieser an der Decke gelandet war.

Alles in allem, wirklich interessant.

Mittlerweile hatten wir Freitag und ich hatte vorlesungsfrei. Da ich sowieso nicht lang schlafen konnte, war ich schon seit halb sechs wach und ging mal wieder meiner Lieblingsbeschäftigung nach. An die Decke starren.

Hin und wieder glitt mein Blick zu den Umzugskartons, die immer noch unberührt im Vorraum standen und darauf warteten, dass sie jemand auspackte.

Darauf konnten sie noch lang warten.

Keine Ahnung, wie lang ich schon im Bett lag – mein Handy hatte ich mal wieder abgeschaltet, damit mich niemand störte – aber irgendwann klopfte es an meiner Tür. Es läutete nicht unten an der Klingel, sondern es klopfte direkt an meiner Tür.

Offenbar hatte es jemand in das Mehrfamilienhaus geschafft. Zu seinem Glück, ich würde niemandem die Tür öffnen.

Genauso wenig wie jetzt, aber der ungebetene Besucher war penetrant. Gute fünf Minuten klopfte die Person hinter der Tür durchgehend, mit der Zeit wurden die Schläge sogar lauter.

Mein Herz begann zu rasen.

Wer war das? Warum schlug jemand so hart gegen meine Tür, dass sie beinahe nachgab? Warum verschwand die Person nicht einfach wieder?

„Mary Vogel.“, oh Gott, es war meine Mutter: „Öffne die Tür!“

Was machte sie denn hier? Sie hasste die Stadt und war bisher genau für meine Umzüge hier gewesen. Und damals, als Markus ...

Schwerfällig erhob ich mich und schlurfte zur Tür. Meine Mutter konnte ich jawohl nur schlecht vor der geschlossenen Tür stehen lassen.

Mürrisch entsperrte ich die zwei Schlösser an der Tür und blickte meine Mutter in die Augen: „Was willst du hier?“

„Was ist das denn für eine Art?“, fragte sie mich schnippisch: „Und wie siehst du aus? Und warum stinkt es hier so widerlich?“

Ein Besuch meiner Mutter war doch immer eine wahre Wohltat: „Mama, was willst du hier?“

„Du gehst seit zwei Tagen nicht an dein Handy und Susi hat auch gesagt, dass sie dich nicht viel zu Gesicht bekommt.“

Na toll. Seit wann verstand sich meine Mutter denn bitte so gut mit Susi?

„Der Akku war leer.“, war meine ganze Antwort und ich machte einen Schritt zur Seite, damit meine Mutter eintreten konnte.

Ihr Blick fiel sofort missbilligend auf die gestapelten Umzugskartons neben der Tür: „Meinst du nicht, dass du die endlich mal auspacken solltest?“

„Nein, meine ich nicht.“

Seufzend glitten ihre Augen wieder zu mir: „Mary.“

„Mama, ich bin gerade wirklich beschäftigt. Ich mache gerade ein paar Aufgaben für die Uni.“, log ich. Seit Markus‘ Tod fiel es mir unglaublich leicht meine Eltern zu belügen. Etwas, was ich früher nie gekonnt hatte. Markus hatte mich deswegen oft genug aufgezogen.

Er war der Profilügner von uns beiden gewesen.

„So siehst du auch aus.“, sie glaubte mir offenbar kein Wort: „Zieh dich an.“

„Was?“

„Wir gehen ein wenig raus. Hier drinnen muffelt es ganz schrecklich und du brauchst eindeutig ein wenig Sonne. Du bist ganz blass.“

„Mir geht’s gut!“, rief ich und fühlte schon wieder, dass mir die Lüge ganz leicht gefallen war: „Wirklich. Schön, dass du hier bist, aber du hättest dir den Weg wirklich nicht antun müssen.“

„Zieh dich an, Mary.“

„Ich gehe nicht mit dir in eine Kirche.“, Mum wusste genau, wie stark mein Glaube seit Markus‘ Tod bröckelte. Wie stark er bereits davor gebröckelt hatte.

„Rede nicht so über unseren Herrgott.“, fauchte sie: „Und nein, wir gehen nicht in die Kirche. Und jetzt zieh dich endlich an!“

Diese Aussage ließ wohl keine Widerworte zu.

Mum hatte mich missbilligend gemustert, als ich wieder aus meinem Zimmer gekommen war, hatte aber nichts gesagt. Ich trug wieder eines von Markus‘ T-Shirts und eine alte, ausgewaschene Jeans.

Jetzt gerade schleifte sie mich die Straße hinunter, in der ich wohnte. Sie hatte einen wirklichen flotten Schritt, als ob sie ein bestimmtes Ziel hatte. Sehr bald wusste ich auch, was ihr Ziel war.

Sie steuerte auf den Buchladen zu.

„Mama, nein.“, ich versuchte stehen zu bleiben, aber meine Mutter zog mich einfach weiter. Ihr Griff war so fest wie eiserne Handschellen um mein Handgelenk.

„Wir gehen da jetzt rein und du suchst dir ein Buch aus. Du musst dich wieder einkriegen, Mary. Und ich weiß, dass du gerne gelesen hast.“

Ja, vor der ganzen Geschichte mit Markus. Aber jetzt doch nicht mehr. Sobald ich es auch nur versuchte ein Buch zu öffnen, musste ich schon jedes Mal weinen. Außerdem wollte ich nicht in den Buchladen. Was, wenn Winter heute Schicht hatte?

„Ich war da schon mal drinnen, wirklich nichts aufregendes.“, versuchte ich es weiter.

„Mary Vogel, ich schwöre dir, ich fang an zu schreien, wenn du da jetzt nicht rein gehst.“

Sowas waren bei meiner Mutter keine leeren Drohungen. Sie würde wahrscheinlich wirklich mitten auf der offenen Straße anfangen mich anzubrüllen. Also ließ ich mich – wenn auch mit einem leichten Widerstand – in den Laden ziehen.

„Guten Morgen.“, begrüßte uns eine tiefe Stimme, die ich sofort zuordnen konnte. Winters Blick hob sich von einem Buch, das vor ihm am Tresen lag. Sofort fanden seine Augen meine. Er zog die Brauen hoch und wollte noch etwas sagen, da erkannte er meine Mutter. Immer wieder sah er zwischen uns hin und her: „Kann ich Ihnen helfen?“, war alles, was er anschließend fragte.

„Danke, wir sehen uns ein wenig um.“, sprach ich schnell, bevor meine Mutter auch nur auf den Gedanken kommen konnte, Winter etwas zu fragen.

Meine Mutter schenkte Adam aber sowieso keine Aufmerksamkeit. Sie zog mich weiter hinein in den Laden und blieb mit mir vor einem Regal stehen, auf dem in großen Lettern „RELIGION“ stand. Na toll, sie wollte mir also irgendein super christliches Buch kaufen.

„Such dir hier was aus.“, sie ließ ihren Blick durch den Laden schweifen: „Ganz nettes Geschäft.“, dann glitt er zu Adam, der immer noch zu uns sah: „Was ihr Personal betrifft, könnten sie sich aber ruhig mehr Mühe geben.“

Warum wunderte es mich nicht, dass meine Mutter scheinbar nicht viel von Adam hielt? Wahrscheinlich, weil er alles verkörperte, was meine Mutter nicht akzeptieren konnte. Heute trug Adam ein kurzärmliges schwarzes T-Shirt, wodurch ich seine Tattoos, die er auf den Armen trug, deutlich erkennen konnte. Viele verschiedene Muster und auch Texte, die ich allerdings von hier nicht lesen konnte.

„Mary.“, brummte meine Mutter, als sie merkte, dass ich Adam die ganze Zeit über angestarrt hatte. Auch Adam selbst hatte es bemerkt und grinste.

Sofort schoss mein Blick wieder zum Bücherregal und ich versuchte die Titel der Bücher zu lesen. Sie verschwommen aber vor meinen Augen, wodurch ich nur eine Vielzahl an einzelnen Buchstaben ausmachen konnte.

„Ich sehe mich auch mal ein wenig um. Lass dir nicht zu viel Zeit.“, zischte meine Mutter. Sie war ja heute wirklich in bester Laune.

Nachdem sie verschwunden war, glitt mein Blick wieder zu den Büchern. Von manchen konnte ich den Deckel ausmachen. Auf den meisten war der Papst zu sehen, oder betende Hände. Waren wohl die beliebtesten Motive für religiöse Bücher.

„Kann ich behilflich sein?“

Ich blickte auf und erkannte Adam, der mit einem breiten Grinsen vor mir stand. Ihm schien das gerade wirklich Spaß zu machen.

„Nein, danke.“, antwortete ich knapp. Als ob er mich überhaupt beraten konnte, wenn es um religiöse Bücher ging. Er sah mir nicht wie der große Kirchgänger aus.

„Wonach suchst du denn?“, diesmal sprach er mit eindeutig weniger Spott in der Stimme.

„Nach etwas, was mich nicht in der Hölle landen lässt, wenn ich es zu Hause in den Müll werfe.“, brummte ich und sah zu Adam hoch.

Da war wieder das Grinsen: „Hm, dann empfehle ich das hier.“, er zog ein Buch hervor, dessen Titel wirklich lautete „10 Wege, um nicht in der Hölle zu landen“.

Ich musste kurz auflachen, ließ es aber kurz darauf schon wieder ersterben. Das hier war falsch.

„Ich glaube nicht, dass meine Mutter so begeistert über dieses Buch wäre.“

„Ist es etwa für sie?“

Ich schüttelte den Kopf: „Nein, aber sie will mir eines kaufen. Und das hier ...“, ich zuckte mit den Schultern.

„Denkst du, sie weiß, dass der Titel ironisch gemeint ist?“

Hm, gute Frage. Meine Mutter konnte eigentlich nicht viel mit solchen Dingen wie Ironie und Sarkasmus anfangen.

Adam grinste: „Sieh einfach zu, dass sie nicht den Klappentext liest. Dann solltest du sicher sein.“

Wahrscheinlich hatte er recht. Mum würde es bestimmt für ein ernsthaftes Buch halten.

„Danke.“, diesmal war mein kurzes Lächeln wirklich ehrlich gemeint. Ich hatte Winter noch nie so freundlich erlebt, aber es war eine ganz nette Abwechslung.

„Kommt dich deine Mutter oft besuchen?“, fragte er interessiert.

Ich schüttelte den Kopf. Zum Glück war sie so gut wie nie in Wien: „Nein. Ihr Besuch war auch nicht angekündigt gewesen.“

„Warum ist sie denn hier?“

Oh nein, diese Unterhaltung ging schon wieder in die völlig falsche Richtung.

„Ähm.“, ich räusperte mich, aber bevor ich antworten konnte, stand meine Mutter schon wieder neben mir.

„Mary, hast du was gefunden?“, sie entriss mir das Buch, das ich in der Hand hielt und las den Titel. Sie nickte anerkennend: „Gute Wahl. Nimm dir diese Wege wirklich zu Herzen.“, mit diesen Worten gab sie mir das Buch wieder zurück und blickte zu Adam hoch. Da meine Mutter noch kleiner war als ich, sah es schon fast witzig aus, wie sie zu ihm hochblickte: „Wir würden gern zahlen.“, der bissige Unterton war nicht zu überhören.

„Natürlich.“, Adam lächelte, für einen Moment sah es sogar wirklich echt aus: „Zusammen oder getrennt?“, er nahm meiner Mum und mir die Bücher ab.

„Zusammen.“, so kurz angebunden kannte ich meine Mutter gar nicht.

Während wir an der Kassa standen, sagte sie kein Wort. Auch nicht, als sie Adam das Geld überreichte – sie war eindeutig darauf bedacht, ihn ja nicht zu berühren. Als ob er die Pest oder die Krätze hätte.

„Vielen Dank für Ihren Einkauf.“, wieder dieses falsche Lächeln von Winter, das meine Mum aber gar nicht bemerkte, weil sie die Bücher an sich riss und sich ohne eine Verabschiedung umdrehte um den Laden zu verlassen.

Entschuldigend sah ich zu Adam und wollte mich schon wegdrehen, da hörte ich, wie er meinen Namen rief.

„Ja?“, verwirrt drehte ich mich wieder um. Hatten wir etwas vergessen?

„Kann es sein, dass du mir die letzten paar Tage aus dem Weg gegangen bist?“

Oh verdammt.

„Nein, wie kommst du darauf?“, okay, diesmal hörte sich meine Lüge wirklich schlecht an.

„Bist du absichtlich mit einer früheren Straßenbahn gefahren, damit wir uns nicht sehen?“

Seufzend holte ich tief Luft. Was sollte ich darauf denn bitte antworten?

Aber da rettete mich meine Mutter schon und rief von draußen lautstark meinen vollen Namen.

„Tut mir leid.“, war alles was ich sagte und flüchtete dann aus dem Laden.

Kaum zu glauben, aber die strenge Art meiner Mutter hatte mir heute wirklich den Hintern gerettet.

Bitte, gib nicht auf.

Подняться наверх