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Kapitel 2

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So. Das ist also die Untere Stadt. Sieht aus der Nähe nicht besser aus, sie riecht aber um einiges schlimmer. Ich konnte nur erahnen, dass es tiefer in ihrem Inneren nur noch schlimmer wurde, doch vereinzelte Rufe und das Geräusch von schweren Stiefeln auf matschigem Untergrund sprachen eine ungewollte Einladung aus, mich in das Gewirr aus Gassen und Sinnesverätzungen zu begeben.

Ich wusste nicht wohin ich gehen sollte, doch es ist erstaunlich leicht einen Weg zu finden, wenn man weiß, dass zurück zu gehen keine Alternative ist. Man muss schließlich nur einen Fuß vor den anderen setzen.

Also tauchte ich ab in diese mir so unbekannte Welt – so dachte ich zumindest. Doch nach kurzer Zeit entdeckte ich erstaunliche Ähnlichkeiten zu der Welt der Oberen Stadt. Auch hier gab es klare Strukturen: Es gab die Menschen, die sich zu wichtig nahmen, es gab die die sich zu wenig wichtig nahmen. Es gab die Großmäuler und die stillen Denker. Es gab Trunkenbolde und Abstinenzler. Es war wirklich wie eine Kopie meiner Welt, nur dass die Regeln und Gesetze anstatt mit Tinte auf Rosenpapier geschrieben, mit Schweineblut auf Rinderhäute geklatscht wurden. Trotzdem, hätte man dem ein oder anderen Mann neue Kleider gegeben und eine Woche lang in ein Bad gezwungen, er hätte zumindest einen passablen Kleinadligen abgeben können.

Meine Begeisterung für meine neuentdeckte Leidenschaft der Völkerkunde hielt aber leider nur so lange an, wie mein Frühstück vorhielt. Deshalb brach ich nach einiger Zeit mein anspruchsvolles Projekt, die Bevölkerung der Unteren Stadt in die mir bekannten Bevölkerungsgruppen einzuteilen, ab.

Und trotz der vielen Ähnlichkeiten, die ich entdeckt hatte, fühlte ich mich immer noch ziemlich fremd. Die Blicke der Vorrübergehenden halfen dabei nicht. Ich konnte es ihnen aber nicht übelnehmen. Meine Kleidung war, zumindest über der Gürtellinie, noch klar als die eines Höherständigen zu erkennen.

Viele der Reisenden, die den Hof des Barons besucht hatten, hatten mir erzählt, wie sie sich in immer neuen Umgebungen zurechtfanden. Sie hielten an einer Verhaltensweise fest, welche sie von ihrer Heimat aus in die Welt trugen. Diese würden sie, wo immer sie auch waren, niemals aufgeben. So war es ihnen möglich einen Teil ihres Wesens vor der Überschwemmung an neuen Eindrücken zu verankern und so nicht von ihnen übermannt zu werden. Für manche war es der Besuch in einer Bettstätte, für manche war es der Besuch einer Bibliothek, für andere wieder war es der Besuch einer nicht ganz so puristisch veranlagten Institution {bei diesen Individuen war es meistens eben diese Verhaltensweise, welche überhaupt erst zu „Reisenden“ gemacht hat}.

Ich entschied mich, ganz meinem Lebensmotto entsprechend, für den guten alten Mittelweg. Ich suchte die erstbeste Schänke {wer jetzt sagt, eine Schänke sei kein Ort der Besinnlichkeit oder des Lernens, der war noch nie bis zum Zapfenstreich dort und hat das letzte Lied und das letzte Bier mit den Freunden für eine Nacht geteilt – wir alle haben einen einzigartigen Weg die Gefühle in unserem Herzen ans Licht der Sonnen zu bringen}.

Die erstbeste Schenke war in diesem Fall das Gasthaus zum fröhlichen Bieber. Der Besitzer musste entweder weit entfernt von diesem Etablissement leben, ob nun in einer anderen Stadt oder in der Vergangenheit war nicht wirklich von Relevanz. Ich sage das, weil es weder ein Haus noch besonders gastfreundlich oder fröhlich war. Eine akkuratere Bezeichnung hätte heißen müssen Schuppen zum garstigen Borstenschwein. Doch, da das garstigste aller Borstenschweine auf meiner Fährte war, trat ich ein. Verzweifelte Zeiten…

Mein Plan, einen Tisch in einer dunklen Ecke zu bekommen, ging leider kräftig daneben. Nicht aus einem Mangel an Dunkelheit, es waren nur alle Lass-mich-in-Ruhe-ich-bin-gefährlich-Tische schon belegt. Deshalb musste ich an einem Tisch in der Mitte des Schankraums Platz nehmen. Das wenige Licht, das durch die schweren Vorhänge fiel, erleuchtete einen Tisch, der so aussah, als hätten seine vergangenen Besucher nicht von Tellern, sondern direkt vom Tisch gegessen.

Die musikalische Untermalung lieferte ein einsamer Lautenspieler, dessen Stimme seiner Laute in Sachen Verstimmtheit durchaus Konkurrenz bieten konnte. Für mich, der die geschäftigen Tafelgespräche und Ränkeschmiede der Adligen gewöhnt war, war es fast totenstill. Nur ein paar gegrummelte Sätze und zwanglose Rülpser drangen von den anderen Tischen herüber. Ich glaube die Reisenden haben mich belogen, ich fühlte mich kein bisschen verankert. Ich fühlte mich beobachtet und ein großes bisschen unwohl – nicht nur wegen der Splitter, die sich in mein seidengewickeltes Gesäß bohrten.

Ich musste mich wahrscheinlich erstmal akklimatisieren – an die Gegebenheiten des Landes anpassen. Ich bestellte bei einer Wirtin, welche erneut das Bild des garstigen Borstenschweins in meinem Kopf hervorrief, Wein und – in einem Anflug von Umgebungswahrnehmung – keine Datteln. War das zwar ein guter Einfall, war der Satz in Bezug auf das Essen: „Überrasch mich.“, definitiv ein Fehler.

Denn was ich vorgesetzt bekam würde mich definitiv überraschen – wahrscheinlich ein bis zwei Stunden nach dem Verzehr. Und wenn man glaubte, der erste Wein wurde aus dem Blut eines Heiligen destilliert, würde sich jeder Vertreter dieses Glaubens freuen wie nah sich der Winzer bei diesem Exemplar am Original orientiert hat. Aber: Verzweifelte Zeiten…

Ich war so damit beschäftigt meinen Magen und meiner Leber die Umstände unseres kulinarischen Niedergangs zu erklären, dass ich nicht bemerkte, dass sich jemand zu mir gesetzt hatte. Erschrocken schnellte mein Kopf hoch, in Erwartung {okay, ich stand eher unter einer nahtodbedingten Schockstarre} eines schnellen Dolchstoßes oder eines langsamen Gassentodes. Nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, der Mann begann zu sprechen. Ich konnte ihn zuerst nicht verstehen, bis ich verstand, dass er einen schwerwiegenden Fall von gespaltener Zunge hatte {nicht die metaphorische Art}. Doch da ich mich in meiner so abrupt und rasant endenden höfischen Karriere mit den verschiedensten Sprachproblemen {von sich selbst in der dritten Person zu sprechen zum Beispiel} auseinandersetzen musste, konnte ich nach ein paar Sätzen verstehen was er zu sagen hatte.

„Haben sie dir auch die rote Pisse angedreht?“, fragte er. Im Halbdunkeln konnte ich nur die Konturen seines markanten, harten Gesichts erkennen.

„Gab es was zur Auswahl?“, fragte ich ihn.

„Nur falls du für ein paar Tage auf dein Augenlicht verzichten kannst.“ Im Angesicht meiner aktuellen Aussichten kein so unverlockender Gedanke.

„Darf ich fragen, wer ihr seid und warum ihr euch zu mir gesetzt habt?“

„Ha! Erstens: Name ist Handrick. Zweitens: Wenn du so sprichst kannst du dir auch gleich ein Schild um den Hals hängen auf dem Oberstädtler steht. Und ich hab so ein Gefühl, das du daran kein Interesse hast.“

„Wie kommst du darauf?“

„Nun, zum einen siehst du beim besten Willen nicht so aus, als wärst du auf staatlicher Mission. Dafür steht der Schlamm zu hoch und die Nase zu niedrig. Zum anderen sitzt du in der Schänke, welche von den Soldaten so sehr gemieden wird wie sonst nur selbstständiges Denken.“

„Das beantwortet aber nicht meine Frage, Handrick.“

„Wohl wahr, wohl wahr. Die Situation ist folgende.“, sagte er und drehte sich zum Tisch in der linken hinteren Ecke des Raumes. „Dieser gute Mann an dem Tisch dort? Ja genau, dessen Tochter du noch nicht mal anschauen würdest, selbst wenn sie Aphrodite höchstpersönlich wäre. Er will mich tot sehen.“

Bevor ich auf diese neue Information und deren Implikation auf mein eigenes (Über)leben eingehen konnte, fuhr Handrick fort in dem er an den Tisch in der rechten hinteren Ecke deutete.

„Diese zwei zwielichtigen Zwillinge würden mich gerne zwingen in den Zwinger ihrer zwei Jagdhunde zu springen.“ Ich erspare euch die indirekten Vorstellungen der anderen Anwesenden. Es sei nur so viel gesagt: Niemand von diesen wollte Handrick auch nur die Luft zum Atmen lassen.

„Warum kommst du dann hierher?“, fragte ich ihn fassungslos.

„Na, wo soll ich denn sonst Arbeit herbekommen?“

„Und was für Arbeit ist das?“

„Oh mein Freund du bist wahrlich weit von zu Hause weg, was?“

Ich ließ meinen Gesichtsausdruck für mich sprechen.

Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen sagte Handrick: „Du befindest dich hier in der Gesellschaft der feinsten Eintreiber des ganzen Baronentums.“

„Ihr treibt Steuern ein?“

Handrick lachte laut auf. „Ganz ehrlich, sehen wir so aus, als könnten wir mit Zahlen umgehen? Geschweige denn mit Geld? Nein wir treiben, wie soll ich das sagen, Schulden ein. Vorausgesetzt die Schuld ist in Naturalien zu bezahlen.“

Vielleicht lag es an den fragwürdigen Geschehnissen des Tages, oder nur am fragwürdigen Wein, aber meine Kombinationsgabe war nicht in guter Verfassung und so dauerte es etwas, bis bei mir der Groschen fiel. Knapp gefolgt von meinen Herzen.

„Ihr seid Kopfgeldjäger?“, stotterte ich.

„Kopfgeldjäger ist so ein einschränkender Begriff. Aber ja, du kennst unsere Profession wohl unter diesem Namen. Ich selbst bin aber ein Mann vieler Talente. Diebestum, Erpressung, Betrug. Die Klassiker eben. “

Wieder war ich mir nicht sicher, ob es an dem schwer zu verarbeitenden Neuigkeiten, oder einfach am schwer zu verarbeitenden Essen lag, aber als ich mich zwanghaft um die eigene Achse drehte, tat mein Magen dasselbe.

Ich sehe mich als intelligenten jungen Mann, und deshalb bin ich nicht stolz darauf, dass mir in diesem Moment zum zweiten Mal an diesem Tag meine observative und deduktive Denkweise abhandenkam. Doch wieder war das einzige was mir durch den Kopf schoss: Scheiße, scheiße, scheiße!

Handrick schaute mich misstrauisch an.

„Du wusstest echt nicht wo du hier reinstolpern würdest?“, fragte er. „Und wer bist du überhaupt? Und was machst du hier?“

Da ich nur eine Antwort auf eine der Fragen hatte, gab ich diese mit vollem Stolz zum Besten: „Ich bin Darius, Hofdichter des Barons.“

Handrick starrte mich noch ein paar Sekunden mit zusammen gekniffenen Augen an. Dann lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte.

„Tja, wenn das so ist.“, sagte er, und produzierte aus dem Nichts ein übel aussehendes Messer, welches er zwischen uns auf den Tisch legte. „Dann hätte ich jetzt gern dein Geld, bitte. Oh, und deinen Wein. Du siehst eh so aus als würdest du dich gleich übergeben, wäre doch eine Verschwendung.“

Normalerweise wäre nichts und niemand zwischen mich und meinen Wein gekommen, doch da a) es noch nie ein Kopfgeldjäger war und b) es sich nicht wirklich um Wein handelte, entschied ich {lasst mir bitte dieses kleine bisschen Würde}, der Aufforderung besser Folge zu leisten. Als ich meinen Geldbeutel aus der Tasche zog, ging jedoch die Tür auf. Doch ich wusste, dass die Sagen von Helden, welche in letzter Sekunde zur Rettung der Hilfsbedürftigen kamen, erstunken und erlogen waren {ich hatte schließlich einen Großteil davon verfasst}. Auch Handrick schien der Neuankömmling herzlich egal zu sein, er drehte sich nicht mal um. Bis ihm der Fremde eine Hand auf die Schulter legte.

„Handrick. Der Mann, den ich gesucht habe.“, erklang eine Frauenstimme unter einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze hervor. Handrick drehte sich nun doch lächelnd um.

„Mein Ruf scheint mir vorauszueilen. Was ka...“, weiter kam er nicht, denn plötzlich ergriff die Frau ihn und presste ein Messer gegen seinen Hals. Als sie sprach, war ihr Stimme nur noch ein Zischen.

„Was du für mich tun kannst? Du kannst mir sagen, warum Kardup gerade meinen Laden durchsuchen lässt. Du kannst mir außerdem sagen, warum er sagt, er hätte konkrete Beweise für Hehlerei. Und zu guter Letzt kannst du mir sagen, warum ich dich nicht genau hier und jetzt umlegen sollte?“

Ich möchte mich eigentlich nicht mit einem Kopfgeldjäger vergleichen, aber es schien so, als würde Handrick ähnliches durchmachen wie ich vor nur ein paar Augenblicken. Auch wenn die Umstände {welche sich in der wunderbaren Gleichung der Distanz von Klinge zu lebenswichtigem Organ berechnen ließen} ganz andere waren. Trotzdem: Auch er schien sprachlos gegenüber der dramatischen Verschlechterung seines Tagesablaufs zu sein. Ungläubig schaute er mich an. Und ich schaute ihn an, auch wenn ich in dieser Situation endlich wieder meine höfische Ausbildung hätte anwenden können, und aktiv das Elend um mich herum hätte ignorieren sollen. So aber trat ich unfreiwillig in die Aufmerksamkeit der messerschwingenden Frau.

„Wer bist du?“, fragte sie scharf.

Ich möchte mich bei meinen Lesern für die doch recht aufwendige Schreibweise und grammatikalische Satzstruktur entschuldigen, welche sich durch diesen Teil der Geschichte zieht, doch nur so kann ich wirklich darstellen, wie viel bessere Möglichkeiten ich gehabt hatte zu reagieren.

Ich hätte sagen sollen: „Niemand, ich wollte gerade gehen.“, oder „Jemand der gerade geht.“, ach was! Selbst sinnlos aneinander gehängte Buchstaben wären die bessere Wahl gewesen! Aber nein, ich sagte: „Darius.“

„Kennst du diesen Halsabschneider?“

Auch auf diese Frage hätte es so wunderbare Antwortmöglichkeiten gegeben, selbst die Wahrheit(!) wäre die bessere Alternative gewesen als meine Antwort: „Wir haben uns gerade kennengelernt.“

Meine verdammte höfische Erziehung. Ich hatte von früh auf gelernt, niemanden offen zu demaskieren, geschweige denn zu beleidigen. Es war so viel ‚edler‘ und ‚ehrenvoller‘ die Affäre mit der Kammerfrau oder jegliche Art Gerücht am Hof zu verbreiten. Auch wenn meine ruinierten Stiefel tief in der Scheiße steckten {buchstäblich}, mein Kopf schien immer noch in den Wolken der Oberen Stadt zu schweben {metaphorisch}.

„Wenn dir dein Leben lieb ist, stehst du auf, vergisst diese Begegnung und schreibst diesen Abend als Enttäuschung ab.“, spuckte sie mir mit drohender Stimme entgegen.

Oh du grausame Ironie. Dank meiner höfischen Erziehung wusste ich, dass dieser Ratschlag ein guter war, hatte ich ihn doch oftmals und in verschiedensten Umständen nicht befolgt {oh mein Sonnenschein…}. Wenn ihr meint, das hieße jetzt, ich hätte ihn nun endlich mal befolgt, irrt ihr euch leider gewaltig. Doch halt! Dieses Mal hatte ich keine Chance ihn zu befolgen {die die mich kennen werden jetzt den Kopf schütteln, war das doch die Ausrede, die ich jedes Mal in solch einer Situation zum Besten gab}! Denn als ich gerade meinen noch auf dem Tisch liegenden Geldbeutel einstecken wollte, lag plötzlich die Frau rücklings darauf. Und auch wenn ich Erfahrung mit Frauen habe, die am liebsten auf Geld schlafen würden, traf mich diese Entwicklung doch unvorbereitet. Ihr Blick traf den meinen, und ihr Augen sprachen das, was sie Sekunden später schrie: „Ihr seid tot!“

Dies schien neuerdings die vorwiegende Meinung der Allgemeinheit über mein Schicksal zu sein. Da ich aber nicht ans Schicksal glaube, konnte ich mich von ihrem wuterfüllten Blick wegreißen. Beziehungsweise wurde weggerissen. Um mich herum rückten Stühle nach hinten und wurden Flaschen zerschlagen. Wie dämonische Fratzen flog ich an lachenden, grollenden und ausdruckslosen Gesichtern vorbei, rutschte auf Bier und ehemaligem Bier aus, begrabschte im Vorbeigehen die eberische Schankwirtin und stolperte schließlich durch eine Tür nach draußen. Nun sah ich auch was mich hinter sich herzog, beziehungsweise wer. Handrick. In der inzwischen einsetzenden Dämmerung war er nur ein Schatten, doch seine Stimme, durchsetzt von einer Tirade an Lachen und Flüchen, drang über das Geräusch unserer schnellen Schritte an mein Ohr. So rannten wir durch die engen, verwinkelten Gassen der Lehmstadt.

Dies schien neuerdings die vorwiegende Meinung des Schicksals über meinen Lebensinhalt zu sein.

Ich weiß nicht wie lange wir rannten, doch irgendwann kam Handrick am Eingang zu einer der etwas breiteren Straßen zum Stehen. Vorsichtig lugte Handrick aus der Gasse in die mit Wagen und Händlern vollgestopfte Straße. Trotz der späten Stunde herrschte noch immer ein lebhaftes Durcheinander von Gerüchen menschlicher, tierischer und pflanzlicher Natur vor. Marktschreier konkurrierten miteinander in der Originalität und Vulgarität ihrer gegenseitigen Beleidigungen um die Aufmerksamkeit der Leute, Schlachtvieh konkurrierte ebenfalls lautstark miteinander, jedoch um das genaue Gegenteil. Es war ein Trubel, den ich aus höfischen Zeiten nicht kannte, dort war ich einem Schlachtvieh höchstens auf dem Teller begegnet, und dort war es deutlich leiser gewesen {und hatte besser gerochen}. Handrick schaute noch immer angespannt von links nach rechts.

„Sollten wir nach unserem Dauerlauf nicht jeden Verfolger abgeschüttelt haben? Wir müssen doch inzwischen auf der anderen Seite der Stadt sein, oder?“, fragte ich.

„Zu Frage Eins ein klares Ja. Zu Frage Zwei ein klares Nein.“, antwortete er und lächelte mich über die Schulter an.

„Wie kann das denn sein? Meine Beine schmerzen wie die Hölle, meine Lunge brennt wie die Hölle, und ich rieche wie nach zwei Wochen in der Hölle.“

„Das mag gut sein, schließlich sind wir ziemlich was gelaufen. Nur halt im Kreis.“

„Bitte was?!“, fragte ich fassungslos.

Handricks Lächeln wurde nur noch breiter und gelber. Mit einem Ruck sprang er in den endlosen Zug aus Menschen und zog mich {mal wieder} mit sich. Als wir in den Trott der anderen Leute gefallen waren, sagte er: „Ist ne alte Handrick-Taktik. Niemand denkt, dass jemand so bescheuert ist, sich direkt unter der Nase seiner Hetzer zu verstecken.“

„Diese Leute haben dazu wohl auch allen Grund. Und gesunden Menschenverstand.“

„Wirklich? Dann erklär mir mal wieso ich noch nie geschnappt wurde?“

„Das Glück ist mit den Dummen?“

„Erklärt warum du hier gelandet bist.“ Ich wusste nicht ob das als Kompliment oder als Beleidigung gemeint war. Ich spürte einen Stich von höfischem Heimweh. Oder es war Seitenstechen.

Doch langsam ließ der Schmerz in meinen Lungen nach. Aus meinen Beinen schoss das Blut wieder in meinen Kopf. Und damit auch eine ganze Menge Fragen.

„Ich hätte gerne etwas erklärt.“, sagte ich dann und hielt ihn am Ärmel fest. „Was hat dich dazu bewogen mich in deine Auseinandersetzung in deiner Taverne mit deiner, was ich nur vermuten kann, Auftraggeberin, hineinzuziehen?“

„Mein gutes Herz.“, antwortete Handrick und lief weiter. Ich starrte ihm entgeistert hinter her.

„Das gute Herz, das mich kurz vorher meines Geldes und meines Weines berauben wollte?!“

„Gut, mein opportunistisches Herz. Das Wichtige ist doch, dass wir beide quicklebendig sind.“

„Warum sollte ich nicht quicklebendig sein?! Ich hab doch gar nichts mit deinen Problemen zu tun!“

„Nun ja, jetzt schon.“, sagte er und bog in eine kleine Gasse neben einem Schneider der Mode aus dem letzten Jahr verkaufte und einem Metzger mit Fleisch, welches wahrscheinlich dasselbe Alter hatte.

In der Gasse traten wir durch einen Eingang, den ich nur als Loch in der Wand beschreiben möchte, in einen halbdunklen Raum ein, den ich nur als Abstellkammer beschreiben kann. Das einzige Licht rührte von Schlitzen zwischen den schweren Brettern her, welche vor die Fensterläden genagelt worden waren. Handricks entzündete eine kleine Kerze in der Mitte des Raums. Ihr Licht geisterte über leere Regale, verstaubte Tische und Stühle, und eine ganze Kolonie von Spinnenweben. Ich musste unwillkürlich schlucken. Spinnen waren nicht meine Lieblingstiere.

Handrick kniete sich vor einen umgefallenen Tisch und hob ihn hoch, bis ein dunkles Loch zum Vorschein kam. Er drehte sich zu mir um und bedeutete mir in das Loch zu steigen. „Auf gar keinen Fall.“, sagte ich mit einer erstaunlichen Entschlossenheit. Enge Räume waren nicht meine Lieblingsorte.

„Gut, dann bleib halt hier.“, sagte er und schwang die Füße über die Kante. Ich beobachtete ihn misstrauisch. Handrick starrte mich erst erwartungsfroh, dann verständnislos an.

„Hälst du dann wenigstens den Tisch?“, fragte er.

„Wieso?“

„Hör mal zu. Du bist jetzt in meiner Welt. Wenn wir uns irgendwann mal an einem Bankett in einem Ballsaal befinden sollten, verspreche ich dir, dass ich meinen parfümierten Arsch nicht ohne deine Zusage bewegen werde. Aber jetzt bewegst du deinen verdreckten Hintern hierher und hälst den verdammten Tisch hoch.“

Zögerlich ging ich zum Tisch und stemmte mich dagegen, sodass Handrick in dem schwarzen Viereck im Boden verschwinden konnte. Es wurde still um mich herum. Zuerst fing ich an mich zu langweilen, dann fing ich an mich zu ärgern. Dann fing ich an mich zu fragen. Zu fragen, warum mir Handrick so bereitwillig half. Seine Antwort hatte mich nicht befriedigt. Warum musste er mir helfen? Ich war mir nicht der, der mit dieser gruseligen Frau in Streit stand. Ich war nicht der, der ein Messer am Hals gehabt hatte. Und ich war ganz besonders nicht der, der eine Frau auf den Rücken gelegt hatte {ihr wisst schon, nicht in diesem Kontext}. Warum war ich also auf der Flucht vor ihr? Und warum war ich das mit dem anscheinend schlechtesten Flüchtling aller Zeiten? Hatte ich nicht meine eigene Flucht, deren Verlauf bisher unter dem Motto „vom Regen in die Traufe“ zusammengefasst werden konnte, zu planen {oder zumindest den Fokus meiner Flüchtlingsaktivitäten darauf konzentrieren}? Keine meiner Antworten befriedigten mich. Das einzige, das dabei rumkam, war, dass ich einen neuen Glauben an das Schicksal fand. Und eine Erinnerung daran, warum ich mich immer so gegen das Schicksal gestemmt hatte. Apropos stemmen – warum ließ ich den Tisch nicht einfach los? Handrick war der, den sie wollte. Nicht mich. Ich könnte ihn ausliefern, meine Freiheit so erkaufen. Was schuldete ich ihm? Er wollte mich schließlich ausrauben!

In diesem Moment flog etwas in hohem Bogen aus dem Loch und landete mit einem gedämpften metallischen Geräusch vor meinen Füßen. Im Licht der einzelnen Kerze war es schwer zu erkennen, doch es schien eine längliche Stange zu sein, welche in dicke Stoffbahnen eingewickelt war. Kurz darauf folge ein weiteres, leichteres Bündel was geräuschlos danebenfiel. Dies war eindeutig Kleidung. Goldene Nähte glühten im Kerzenschein. Ich zog verwundert die Augenbrauen zusammen.

„Was machst du?“, fragte ich.

„Ich packe.“

„Für was?“

„Alle Eventualitäten. Erste Regel einer erfolgreichen Flucht.“

„Ich dachte die erste Regel wäre sich in unmittelbarer Nähe zu verstecken?“

„Nein, das ist eigentlich die letzte Regel.“

„Sprich, du hast keine Ahnung was du tust.“

„Ah, mein opportunistisches Herz!“, stieß Handrick theatralisch aus.

Kurz darauf tauchte sein Kopf aus der Dunkelheit auf. Das Licht der Kerze spiegelte sich im Funkeln seiner Augen. Wenigstens Handrick schien, trotz aller meiner Zweifel, in seinem Element zu sein {vielleicht fehlte mir, glücklicherweise, aber auch einfach eine Vergleichsmöglichkeit mit anderen seiner Gattung}. In der Not greift man nun mal nach dem letzten Strohhalm. Oder in diesem Fall nach der verdreckten Hand eines Kopfgeldjägers. Eilig nahm er die beiden Bündel vom Boden und packte sie in einen großen Sack, den er mir in die Hand drückte.

„Für dich.“, sagte er verschmitzt.

„Oh, ein Geschenk? Sind dort zufällig die letzten 12 Stunden meines Lebens drin? Die hätte ich gerne wieder.“

„Nein, aber die Möglichkeit die nächsten 12 Stunden zu erleben.“

„Wie lieb von dir.“

Handrick löschte die Kerze und trat auf die Tür zu.

„Handrick? Jetzt mal ehrlich. Was ist das?“, fragte ich mit einem Blick auf den Sack in meinen Händen.

„Alles zu seiner Zeit.“, bekam ich als mystische Antwort. Damit öffnete Handrick die Tür und trat nach draußen. Mit einem Seufzen warf ich mir den Sack über den Rücken. Ich war noch am Leben, nicht wahr?

Als ich wieder auf die Straße trat, stand Handrick schon am Ausgang der Gasse und spähte in die breite Straße. Inzwischen war es dunkel und die Straßen hatten sich bis auf ein paar betrunkene Tunichtgute und ihrem Anhang aus Prostituierten, Drogenhändlern und anderen Blutsaugern geleert. Das einzige Licht drang zwischen den schweren Fensterläden der Tavernen auf die Straße. Am Himmel stand kein einziger Stern, und selbst der Mond vermochte nur einen schwachen Schein von Licht auf die Straße zu werfen. Ein kühler Wind hatten den Gestank des Tages fortgeweht.

„Würdest du mir zumindest sagen, wohin wir gehen?“, fragte ich Handrick im Flüsterton.

„So weit wie möglich weg von diesem Ort.“, antwortete dieser.

„Was ist denn mit dem Plan sich in der Nähe zu verstecken, passiert?“

„Nichts, dieser Plan ist exzellent. Aber ich will mich nur nicht für den Rest meines Lebens verstecken.“

„Das ist das erste Sinnvolle was ich von dir zu hören bekommen habe.“

„Ich bin ein Mann der Taten, nicht der Worte.“

„Und schau wie weit es dich gebracht hat.“

„Es beruhigt mich, dass die entgegengesetzte Herangehensweise auch nicht wirklich besser funktioniert.“, sagte er mit einem Seitenblick auf mich. „Los geht’s.“

Wir trafen nicht auf viele Menschen. Und die auf die wir trafen, hatten zwecks Selbsterhaltung wohl kaum ein Interesse mit den Wachen des Barons zu sprechen. Wie ihre Zuneigung gegenüber unserer anderen Jägerin war, wusste ich nicht. Da kam mir eine Frage in den Sinn.

„Handrick, wieso fliehen wir überhaupt?“

Handrick blieb stehen und schaute mich verdutzt an.

Ich fuhr fort: „In der Oberstadt gibt es das Sprichwort Lehm schweigt. Es bedeutet, dass...“

„Ich kenne das Sprichwort“, unterbrach mich Handrick. „Es bedeutet, dass in der Unteren Stadt das unausgesprochene Gesetz gilt, Fremden nie zu vertrauen, geschweige denn ihnen etwas anzuvertrauen.“

„Genau. Also: Weshalb fliehen wir dann? Die Lehmstadt ist riesig. Niemand wird uns finden können, sollten wir entscheiden unterzutauchen.“

„Okay. Zum einen würde das bedeuten, dass wir uns ein Leben lang verstecken müssten. Wir schon erwähnt, habe ich andere Pläne für meinen Lebensabend. Zum anderen wird sich in der Lehmstadt nicht an Gesetze gehalten – ausgesprochen oder unausgesprochen. Und zu guter Letzt kommt das Sprichwort nicht aus der Unterstadt, sondern aus der Oberen Stadt, von Wachleuten, die zu faul oder zu feige waren in der Unteren Stadt Untersuchungen anzustellen. Seitdem ist es von allen Seiten akzeptiert, da es die ‚Zusammenarbeit‘ zwischen Oberer und Unterer Stadt vereinfacht. In der Realität hingegen sollte das Sprichwort eher heißen Lehm schweigt bis das Wasser kommt. Und mein letzter Plan in dieser Stadt hat eine Flutwelle ausgelöst.“ Ein Blick genügte mir, um zu wissen, dass Handrick dieses Thema nicht weiter besprechen wollte. Schweigend liefen wir nebeneinander her. Ich hatte schon nach der ersten Abbiegung den Kampf um meine Orientierung aufgegeben. Selbst im hellsten Tageslicht sah jedes Haus der Lehmstadt gleich aus. In der Dunkelheit wurde die Ähnlichkeit mit einem Labyrinth nochmal verstärkt. Handrick schien jedoch zu wissen wohin er ging {dieses Mal sogar nicht im Kreis – sofern ich das erkennen konnte}.

Dieser Glaube wurde jäh auf die Probe gestellt, als wir plötzlich vor einer Wand in einer Sackgasse Halt machten.

„Wir sind da.“, verkündete Handrick.

„Wo genau ist das?“, frage ich.

„Am Ende der Unteren Stadt.“

Ich sah mich verdutzt um.

„Das wir am Ende sind nehme ich dir ab.“, sagte ich. {Am Ende mit unserem Latein, am Ende mit unserem Glück, am Ende mit unseren Nerven, etc., pp.}. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse. Alles sah so aus, wie es während der letzten Stunde ausgesehen hatte.

Handrick lehnte sich gegen die Wand. Und lächelte. Es schien, als wäre er in den Situationen meiner kompletten Ahnungslosigkeit am Glücklichsten. Dann schloss er die Augen und stieß mit seinem Dolch in die Wand. Ein metallisches Kratzen ertönte. Dann begriff ich: Diese Wand war aus Stein! Und Stein wurde nur in der oberen Stadt verbaut. Das musste die Festungsmauer sein! Ich legte eine Hand auf die kühle, raue Oberfläche.

„Ich hoffe, dass du mir nur nochmal einen letzten Augenblick des Abschieds an mein altes Leben gegeben wolltest, und dass es nicht eine Perversion deines sich-in-der-Nähe-verstecken Mottos ist.“, sagte ich und drehte mich zu Handrick um.

Dieser hatte in meinem Sack herumgekramt, den ich gegen die Wand gelegt hatte und hielt nun etwas metallisch Glänzendes in den Händen an dessen Ende ein langes Seil befestigt war. Er grinste noch immer sein verschmitztestes Lächeln. Ich schluckte.

„Bitte sag mir nicht, dass das ein Wurfhaken ist.“

Darius

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