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Kapitel 1 Eins

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Sie öffnete nur widerwillig die Augen. Der Traum klang deutlich langsamer ab, als es ihr lieb war. Sie wusste nicht gleich wo sie sich befand, die Bilder überlagerten einander. Eindrücke, dessen, - was sie jetzt im beinahe Wachzustand sah, - und was sie zuvor im Traum erlebt hatte, vermischten sich. Ihre Atmung war flach, noch immer etwas zu schnell.

Langsam zwängte sich ihr bewusster Verstand in den Vordergrund, schob damit die Orientierungslosigkeit beiseite und gelangte endlich erfolgreich zur Klarheit.

Auf der kleinen Couch im Wintergarten war sie eingeschlafen. Sie lag im Moment ihres Erwachens genau so da, wie sie sich selbst im Traum gesehen hatte. Bekleidet mit dem Wein befleckten Sommerkleid, das Gesicht zur Lehne gewandt. Nur hatte sie im Traum bis zuletzt nicht wirklich begreifen wollen, dass es keine Fremde war, die sie dort gesehen hatte. Ihre hagere Figur, das feine braune Haar, selbst die Art wie die Traumversion ihrer Selbst hier gelegen hatte, hätten ihr diese Schlussfolgerung offenbaren sollen.

Doch Träume folgten bekanntlich stets eigenen Regeln.

Ein beklemmendes Gefühl, ein widerlicher kleiner Teil ihres Verstandes wollte darauf beharren, sie wäre noch immer nicht erwacht. Die Frau die sie gesehen hatte, hätte bloß mit ihr den Platz getauscht und starre nun in ihrem Rücken auf sie herab. Beinahe bildete sie sich ein, sie spüre den ratlosen Blick auf sich ruhen.

Doch als sie langsam den Kopf zum Fenster drehte, war dort niemand.

Lange konnte sie nicht geschlafen haben. Der strahlend schöne Vormittag war kaum voran geschritten, und nun blendeten sie die einfallenden Sonnenstrahlen.

Einige Minuten lang blieb Yasmin noch liegen, ordnete ihre Gedanken, schüttelte den Traum weitestgehend ab und schaute, nachdem sich ihre Augen an die abrupte Helligkeit gewöhnt hatten, einfach hinaus in den grünen Garten.

Jeder Busch, jeder Baum war eine wahre Wohltat für ihre Augen.

Über dem kleinen Teich konnte sie sogar einige Libellen ausmachen, die geschwind ihre Kreise zogen. Sie mochte die seltenen, violetten Insekten, deren Körper metallisch in der Sonne glitzerten.

Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Eine Mimik, die nicht mehr oft vorkam.

Yasmin erfreute sich nur noch sehr selten an irgendetwas in der heutigen Zeit.

Sogleich fiel ihr allzu deutlich auf, wie wenig Pflege dem Rasen und allen Pflanzen im großen Bereich hinter dem Haus, in den letzten Monaten zuteil geworden war.

Monate? - So lange war es noch nicht einmal her, da hatte es noch den geliebten Partner an ihrer Seite gegeben. Schmerzlich presste die Erinnerung ihre Brust zusammen. Eine Erinnerung an bessere Zeiten, an ihn. An den Mann, in dessen Armen sie hier Stunde um Stunde hatte verbringen dürfen, als es ihn noch gab.

Es war August. Ihr Mann, ihr Partner und Freund hatte sie im April verlassen; war ihr entrissen worden! Nicht einmal ein halbes Jahr war vergangen, doch für Yasmin bedeutete jede Minute eine Ewigkeit in Einsamkeit.

Täglich schwankte sie zwischen Trauer und Freude, in Gedanken an ihren wundervollen Mann. Er hatte es geliebt stundenlang im Garten zu arbeiten, wühlte im Unkraut, setzte Bäume, stutzte Büsche und kümmerte sich beherzt um Blumen und die kleine Teichanlage, die sein ganzer Stolz war.

Seine schier unerschöpfliche Energie nutzte der stattliche Mann in beinahe jeder freien Minute, indem er entweder seine Freizeit für die beiden Kinder zu opfern bereit war, oder sich voll und ganz für seinen Garten hergab.

Was nicht etwa hieß, dass Yasmin selbst dabei zu kurz gekommen wäre. Nein. Die Abende, wenn Rebecca und Erik im Bett waren, wenn die Sonne hinter den Hügeln verschwand, diese Zeit gehörte einzig ihrer Liebe.

An so manchen Tagen hatte sie das Gefühl gehabt die wohl glücklichste Frau der Welt sein zu müssen. Weil sie einen Menschen wie Andreas zum Partner hatte.

Warum nur? Wie hatte Gott zulassen können, dass ihr und ihren Kindern dieser wunderbarste aller Menschen genommen worden war?

Den zuvor erlebten Traum zu erklären, die verschrobenen Bilder in Zusammenhang zu bringen, fiel ihr nicht einmal schwer: Es war die Leere in ihr, die ihr aufgezeigt wurde. Die Lücke, die entstanden war, durch den Tod ihres Mannes. Sie manifestierte in ihren Träumen ihre Einsamkeit mit dem Fehlen aller Dinge! Aller Notwendigkeiten. Obgleich sie die Meinung vertrat, dass es nicht einen einzigen, - und sei er noch so kostbar, - Gegenstand geben konnte, der jemals einen Menschen zu ersetzen vermochte.

Ganz besonders nicht diesen Einen. Schrecklich und unmöglich jemals zu verkraften, dass alles was sie geteilt hatten, nun ihr allein überlassen sein sollte. So eingespielt, so vertraut waren beide im Umgang mit einander gewesen. Andreas hatte es fertiggebracht sich zeitweise buchstäblich „blind und taub“ auf sie zu verlassen.

So war es in gegenseitigem Vertrauen immer gewesen, und niemals war einer von ihnen vom jeweils anderen enttäuscht worden.

Wie beinahe täglich, liefen Yasmin jetzt warme Tränen die Wangen herab, sie wischte sie nicht weg, ließ wie immer ihren Gefühlen freien Lauf.

Jedenfalls, wenn sie alleine war. Vor Rebecca kam es nur selten vor. Und in Gegenwart von Erik hielt sie sich generell tapfer zurück, mimte die Unerschütterliche.

Ihr Make-up konnte nicht verlaufen, sie trug ja keines, tat dies ohnehin beinahe nie.

Andreas hatte sie so immer am schönsten gefunden, wenn sie sich natürlich gab.

Unzählige Male hatte er mit stets aufrichtiger Miene verkündet: „Du bist am herrlichsten anzusehen, wenn du gerade aufgewacht bist!“

Es fand sich somit auch heute kein geeigneter Grund, daran jetzt etwas ändern zu wollen.

Er hatte sie geliebt, so wie sie war. So wie sie ihn geliebt hatte. Dazu bedurfte es keiner Maskerade, hatte es nie.

Langsam wagte sie es, sich in sitzende Position aufzurichten. Wenn sie so dasaß konnte sie beinahe den groß gewachsenen, attraktiven Mann dort draußen stehen sehen. Andi hatte oft bei schönem Wetter mit freiem Oberkörper gearbeitet.

Er trug dabei immer seine alte, zerrissene Jeans, die nicht viel länger war, als ein Minirock. Das Innenfutter der Seitentaschen nach außen gekehrt, damit es nicht albern unter dem Saum herauslugte, was nur zur Folge hatte, noch alberner zu wirken.

Sie hatte ihn so sehr geliebt! Sie tat es noch immer!

So oft hatte es ihr genügt, ihm einfach nur zuzusehen, wenn sich seine Muskeln unter der verschwitzten Haut abzeichneten. Die verklebten, leicht lockigen Haare fielen ihm in die Stirn. Hals Brust mit feuchter Erde beschmiert. Er trug ein auffälliges Tattoo auf dem rechten Schulterblatt. Es zeigte einen grinsenden Harlekin, der seine Haare zu wilden Zöpfen geflochten, dem Betrachter den Rücken zu wand, aber mit stechendem Blick, über die Schulter zurückblickte.

Nicht selten hatte Yasmin ihm gesagt, wie gut ihrer Meinung nach, diese Figur zu seinem Charakter passte. Er war oft am feixen und beinahe immer zu albernen Scherzen aufgelegt gewesen, was ihm besonders bei den Kindern, als sie jünger gewesen waren, viel Sympathie eingebracht hatte.

Früher einmal, am Anfang ihrer Beziehung, aber auch danach, besonders in der Zeit ihrer ersten Schwangerschaft, hatte sie sich immerzu gefragt, wie er nur darauf gekommen war gerade sie zu wählen.

Oftmals hatte sie die Befürchtung gehabt, sie allein könne so viel Glück gar nicht verdient haben, - oder es ertragen.

Andreas war schon immer einer der beliebtesten und viel umschwärmten Typen gewesen. Während der Schulzeit, in der sie seiner zum ersten Mal gewahr wurde, hatten sie anfangs kaum mit einander zu tun. Darüber hinaus hätte er unzählige Liebschaften und so manches schöne Mädchen haben können. Doch Andreas hatte sich für Yasmin entschieden.

Sie selbst hatte nie den Mut besessen sich an ihn heran zu wagen, - er war es gewesen, der ihr eines Tages entgegentrat und sie einfach einlud mit ihm auszugehen.

Warum sollte dieser „Star“ der Schule nur mit einem unscheinbaren Mädchen, wie sie es war, verkehren? Sie hatte sich natürlich nicht getraut ihm eine solche Frage zu stellen. War so überglücklich gewesen. Und doch anfangs sehr besorgt; der junge Mann könne sich vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubt haben. Oder gar schlimmer noch, - eine blöde Wette, wie sie Jungen in Post-pubertärem Alter gerne machten, verloren haben. Die unangenehme Konsequenz daraus könnte jetzt das „unfreiwillige“ Treffen mit einer Grauen Maus vom Schulhof sein.

Damit hatte sie allerdings so falsch gelegen, wie es nur sein konnte. Ihre Befürchtungen hatten sich nicht nur sprichwörtlich, sondern real in „Wohlgefallen“ aufgelöst. All ihre Zweifel und Befürchtungen, seine Einladung könne nicht aufrichtig sein waren völlig unbegründet. Sie hatten einen herrlichen Abend verlebt. Andreas war ein höflicher, zuvorkommender und vor allem witziger Zeitgenosse, der sich ernsthaft und redlich für sie interessiert hatte. Er hatte sich um sie bemüht!

Es hatte keine volle Stunde gedauert, da war Yasmins Herz für immer vergeben, und sie hatte Andi darin eingeschlossen. Ein Liebesgefängnis, - ohne Chance auf Bewährung.

Damals war sie neunzehn, und er einundzwanzig Jahre alt gewesen. Der junge Mann stand kurz vor seinem Abitur. Sie hatte, mit dem selben Ziel, noch anderthalb Jahre Schulbank vor sich.

Weder fand sich Yasmin zu dieser Zeit hübsch, noch hätte sie behauptet überhaupt bemerkenswert, oder gar interessant zu wirken. Ihrer Meinung nach war sie ein schlichtes, eher unscheinbares Mädchen.

Doch dieser eine Junge, dem so viele hübsche Mädchen, mit ihren blonden Mähnen, langen Beinen und üppigen Brüsten, zu imponieren versuchten, ihm heimlich Briefe zusteckten, oder einfach plumpe Anmachen starteten, wies sie alle ab. Dieser außergewöhnliche Mensch hatte entschieden, dass ihm das langweilige, kleine Mädchen, mit den kurzen, braunen Haaren und der Brille besser gefiel. Keine blauen Augen, ein unansehnliches braun, fand sie.

Keine großen Brüste, mit einem Meter vierundsechzig um einiges kleiner als die meisten Schulkameradinnen.

Doch nie hatte er sie, wie andere es taten, spöttisch betrachtet.

Auch noch zwei Tage nach ihrem ersten Date, als er zu ihr gekommen war und fragte, ob sie nicht vielleicht zusammen ins Kino gehen könnten, kam es ihr noch immer so vor, als habe er tatsächlich nicht gewusst, dass ihre Antwort in keinem Falle „Nein“ hätte lauten können.

Sie hatte kaum zu atmen gewagt, als er noch anfügte: „Oder möchtest Du Dich lieber bei einem leckeren Eis mit mir zusammen setzen und reden?“

Er hatte zuvor mit ein paar seiner Freunde während der großen Pause auf dem Schulhof gestanden, zu denen er nun zurück ging. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt allein, und nicht umgeben von vielen anderen, und manch neugierigen Blicken gewesen, sie wäre jauchzend und jubelnd in die Luft gesprungen, so sehr hatte sie sich damals gefreut.

Sie erinnerte sich daran, dass jemand, - sie wusste nicht mehr wer -, mal gesagt hatte:

Es kann genauso sehr erdrückend sein, für jemanden Liebe zu empfinden, wie das empfinden von Trauer.“ Dieser Satz klang für sie noch immer so seltsam, so unrichtig, und unvollständig. Und doch hatte sie ungewollt erkennen müssen, welch unwiderlegbare Wahrheit sich in diesen wenigen Worten verbarg.

Die Liebe kommt ganz plötzlich, sie überrascht und wird willkommen geheißen. Du stehst einfach nur da, du fühlst und fühlst. Du siehst nur noch das Großartige, siehst in der Welt nur noch die Schönheit. Du lässt keinen noch so geringen Gedanken an etwas Negatives zu. Du bist überwältigt von der Liebe. Doch dieses Gefühl umgibt dich gleichzeitig, wie ein enger Käfig. Es nimmt dir jede Chance an etwas anderes zu denken, oder gar nur zu glauben, als an die Liebe.

Die Trauer hingegen, sie ist schlimm, sie engt dich ebenso ein, aber sie ist wie eine immer wieder kehrende Stimme. Sie sagt dir immerzu, dass es dir schlecht geht. Es gelingt dir nicht diese Gefühle der Trauer zu verjagen, plötzlich sind sie richtig, sie werden dir wichtig, obgleich sie dich bedrücken. Die Trauer schleicht sich ein, wie ein nerviger Vertreter, der unangemeldet herein schneit und mit unsinnigen Angeboten lockt, - er ist nicht wirklich böse, nicht absichtlich -, doch du erkennst auch, dass er nicht wirklich an deinem Wohlergehen interessiert ist, sondern vielmehr nur seinen eigenen Vorteil zu erringen versucht.

Dennoch wirst du ihn nicht los, hältst an seinen Worten fest, sie ergeben sogar irgendwie noch einen Sinn, denn die Trauer ist auch eine Art zu fliehen: Die Flucht davor, zu wissen!

Dieser unterschiedlichen Gefühlen Herr zu werden, die sich doch so ähneln sollten. Zugleich all die damit einhergehenden Eindrücke und Empfindungen zu verarbeiten, war beinahe unerträglich.

Sie schwelgte in schönen Erinnerungen an eine wunderbare Zeit, empfand eine tiefe ehrliche, ausfüllende Liebe. Zugleich überwältigte sie die Trauer, legte sie in Ketten, grinste sie mit schiefen Zähnen an, um zu verkünden: „All deine Liebe war einmal! Sie ist nicht mehr! Wird nicht mehr sein!“

Zwei der elementarsten Gefühle, die es gibt, prallen mit Wucht aufeinander. Sie zehren all deine Kräfte auf. Nach und nach.

Yasmin bemühte sich aus ihrer melancholischen Tragträumerei aufzutauchen, zwang sich mit innerer Gewalt in die echte Welt zurück.

Die Umgebung wahrzunehmen, wie sie nun einmal war, wollte ihr nicht recht gelingen. Die Triste Beklommenheit blieb ihr erhalten, hatte sich an ihr festgesaugt, wie einer dieser kleinen Putzer-fische am Leib eines Haies oder Rochens.

Wie sollte man es denn auch jemals lernen, zu verkraften, dass einem das Wichtigste genommen worden war? Wer konnte einem helfen, der gezwungen worden war, einen geliebten Menschen gehen zu lassen? Andreas Zeit war noch nicht gekommen gewesen! Keine höhere Macht hatte entschieden, er habe seine „Aufgabe“ in dieser Welt erledigt. Dennoch war er unwiderruflich fort, kam niemals wieder.

Die Endgültigkeit, diese eine Tatsache, die die weder er noch sie, noch sonst irgendjemand hatte voraussehen können, diese schiere Ungerechtigkeit, all das machte sie mürbe. Es nagte an ihrer Seele.

Augenscheinlich war, dass Yasmin, gäbe es ihre Kinder nicht, sie längst jeden Lebenswillen verloren hätte. Es wäre ihr nicht weiter möglich gewesen einen Grund dafür finden zu sollen, fortan auf dieser Welt zu existieren.

Die Zeit heilt alle Wunden.“ Sagt man.

Doch die Wirklichkeit und all Jene, die diese zu erkennen gezwungen sind, strafen derart Phrasen mit Gelächter und entlarven solch Wortgeflecht als das, was es ist: „Lüge!“

Ihr Blick wanderte zur Uhr im angrenzenden Wohnzimmer, das sich natürlich nicht unbelebt und leer darbot, sondern einfach aussah wie immer. Wie viele andere Räume in Häusern dieser Gegend auch. Es beherbergte einen kitschigen, viel zu bunten Teppich, eine dreiteilige Sitzgarnitur und natürlich eine Ansammlung von Bildern und Schnickschnack, verteilt an Wänden und auf diversen Ablageflächen der Schränke und Regale.

Auf dem schlichten, hölzernen Tisch lagen unordentlich eine Fernsehzeitung, Schalen mit Knabberzeug und die Fernbedienungen mehrerer Audio- und Videogeräte herum.

Neben der Leidenschaft seines Grünen Daumens hatte Andreas Filme geliebt.

Es gab im Raum eine Dolby Surround Anlage und eine sündhaft teure DVD/BlueRay/Fernsehapparatur in monströsem Ausmaß.

Die Zeiger der Wanduhr, die designet war wie die Armbanduhr eines riesigen Zyklopen, etwa aus der Odysseus-Saga, waren auf Viertel vor Zwei vorgerückt.

Die Mittagszeit war verstrichen, während sie lediglich ihren Gefühlen und einigen Erinnerungen nachgehangen hatte.

Mit verheulten Gesicht zwar, aber innerlich gefasst und mit gelassener Miene schritt sie in die Küche. Noch einmal fühlte sie sich einen winzigen Augenblick an die Erlebnisse im Traum erinnert und widerstand dem Impuls das Haus zu durchlaufen. Sie würde alles so vorfinden wie es sein sollte, sie war wach und verdrängte die letzten Zweifel an diese Tatsache.

Bald würden die Kinder aus der Schule kommen. Sie sollte sich langsam daran machen, das Mittagessen herzurichten. Ein erneutes weiches Lächeln umspielte ihre Lippen, als ihr kurz der Gedanke kam, vielleicht die Zubereitung eines Rollbratens mit Kartoffeln in angriff zu nehmen.

Von ihren Alpträumen ließ sich Yasmin nicht mehr lange beeindrucken. Es war heute zwar ungewöhnlich emotional abgelaufen, doch anfangs, in den ersten Tagen nach Andreas´s Tod war es schlimmer gewesen.

Als die Träume derzeit begannen, hatte sie kaum gewagt sich überhaupt schlafen zu legen. Aber auch die seltsamsten Phantasiegebilde und die grausamsten Monster verloren ihre Schreckenswirkung, wenn sie jede Nacht aufs Neue in Erscheinung traten.

Während Yasmin den ersten Eierpfannkuchen wendete, - sie hatte sich natürlich gegen die Realisierung ihres „Festmahls“ aus dem Traum entschieden, da ihr ohnehin die benötigte Zeit fehlen würde, - hoffte sie, Erik würde heute ohne Blessuren oder schrammen heimkommen.

Erst letzte Woche hatte sie eine kleine Platzwunde und ein blaues Auge verarzten müssen.

In Folge dessen war sie am kommenden Montag zu einem Gespräch mit der Rektorin der Schule eingeladen. Der gerade einmal zehnjährige Junge hatte sich nach dem Tod seines Vaters zu einem kleinen Rowdy entwickelt. Im Laufe nur eines Monats war er ganze vier mal mit einigen seiner Mitschülern aneinander geraten. Zur Rede gestellt, und auf die Frage hin, worum es bei derart ausufernden Streitigkeiten eigentlich gegangen sei, bekam Yasmin lediglich ein Schulterzucken als Antwort.

Sicher hatte man auch früher kaum behaupten können, der Kleine sei ein durch und durch lieber Kerl gewesen. Nein. Schon im Säuglingsalter war in Erik der Trotzkopf durchgedrungen. Sie hatte lange Zeit nicht geglaubt, dass es andere Mütter geben konnte, die es so schwer gehabt haben konnten. Ein Baby zu so etwas Selbstverständlichem wie sich stillen zu lassen, überreden, ja gar zwingen zu müssen, war doch wirklich schon recht eigenartig.

Der Knirps hatte sich vehement gewehrt und sogar gerne mal zugebissen, was an so empfindlichen Körperteilen, wie Brustwarzen, gerade nach der Geburt, ganz und gar kein Spaß war. Viele Male war es vor gekommen, dass man ihm gerade die Windel gewechselt hatte, da war diese im nächsten Moment wieder prall gefüllt.

Klar wurde Andi nicht müde immer und immer wieder derart Vorkommnisse als „unabsichtlich“ zu deklarieren. Was konnte denn ein Säugling auch schon für Absichten haben? Es wurde also entweder belächelt, oder stillschweigend hingenommen, dass der zweite Spross der Familie Zielke eben etwas mehr Arbeit machte, als die kleine Rebecca in ihrer Zeit.

Unvermittelt schweiften Yasmins Gedanken abermals ab. Verfingen sich im Geflecht der Vergangenheit. Sie dachte zurück an jenen schicksalhaften Tag, der vor einigen Jahren ihre Lebenssituation nachhaltig verändert hatte. Dieses Ereignis hatte seine Auswirkungen bis heute erhalten und komplizierte den Umgang mit dem eigenen Sohn noch immer. Es veranlasste sie bisweilen, sich wesentlich mehr Sorgen zu machen, als es Eltern im allgemeinen sowieso schon taten.

Wieder traten ihr die Tränen hervor, als ihr schmerzlich bewusst wurde, dass auch dieses, in ihren Gedanken konservierte Ereignis, die Trauer um den Verlust des Familienoberhauptes verstärkte. Er war ihr einziger Rückhalt gewesen, besonders in diesem Fall. Der Mann, der in jeder und speziell in jener Krise so sehr geholfen, sich so sehr bemüht hatte, alles wieder ins Lot zu bringen, war nicht mehr!

Es gab keinen Zweiten, der ihr nun zur Seite stehen konnte. Heute musste sie all den Kummer, den ihr Sohn ihr bereitete, alleine bewältigen.

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