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Kapitel 3 Drei

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Sieben Jahre waren seither vergangen. Nur allzu oft, wenn Yasmin sich einsam fühlte, so wie jetzt, schwebten ihre Gedanken in die Vergangenheit, und meist zurück zu diesem Tag.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, ob es geregnet hatte, oder ob damals die Sonne schien.

Die Polizei hatte im Fall Erik natürlich nichts unternommen. Aber es war Matthias´s Eltern tatsächlich gelungen, das hieß, sie hatten es durch ihre Anwälte durchboxen lassen, dass die Zielkes eine horrende Geldstrafe, Schmerzensgeld zahlen mussten.

Erik wurde als Dreijähriger zu einem Kinderpsychologen geschleppt; auf Anordnung des Gerichts; und musste dort an zehn Sitzungen teilnehmen. Auch diese Kosten trugen Andreas und Yasmin.

Die Maßnahme der Begutachtung durch einen Psychotherapeuten führte letztlich nur dazu, dass dieser dem Jungen eine lediglich „leichte“ Konzentrationsschwäche nachwies, ihn als auffallend frech einstufte und dazu schrieb: „...was ihn im Allgemeinen als gesund ausweist...“

Für die Anklage gegenüber Erik Eltern schien aber selbst ein so positives Gutachten keinen Wert zu haben. Es wurde eine gerichtliche Verfügung erwirkt, die tatsächlich einem Dreijährigen untersagte, den Kinderhort aufzusuchen. Natürlich könne er eine andere Tagesstätte besuchen. Doch „zum Wohle der anderen Kinder“ habe es eine von Matthias´s Eltern ins Leben gerufene Unterschriftenaktion bewirkt, dass: „Die Kleinen keiner Gefahr ausgesetzt werden dürfen, die vermeidbar ist!“

Der nächste Kindergarten allerdings befand sich im Nachbarort, der gut vierzig Autominuten entfernt lag. Zu der Zeit, als Andreas und sie sich eben dieses Haus ausgesucht hatten, dass sie damals bewohnten, war die unmittelbare Nähe zum Hort eine der stärksten Kriterien dafür gewesen.

Gegen diese Urteil gingen Yasmin und Andreas vehement an. Doch es wurde schnell bekannt, dass sich Erik nicht nur überhaupt falsch verhalten, sondern sich auch den denkbar schlechtesten Kandidaten für seine „Attacke“ ausgesucht hatte.

Sein Vater war Anwalt.

Sie hatten aufgrund der angespannten Situation, und auch weil in der kleinen Nachbarschaft eine üble Nachrede nicht lange auf sich warten ließ, beschlossen den Ort zu verlassen. Sie mussten umziehen. Rechtlich gesehen schafften sie sich damit eine neue Ausgangsposition, denn das Verbot einen bestimmten Kindergarten zu besuchen, bezog sich ja ohnehin nicht auf andere Einrichtungen.

Damit galt es also damals nur den Bereich der Gemeinde Hollenstedt zu verlassen.

Dennoch war es ein trauriger und alles andere als leichter Schritt. Besonders Rebecca, damals gerade neun geworden, wollte nicht so recht einsehen, warum sie nun plötzlich ihren Freundinnen und Schulkameraden Lebewohl sagen sollte.

Das schon immer eher zurückhaltende und schüchterne Mädchen war für etliche Wochen noch ruhiger geworden. Sie hatte sich nach dem Umzug ins neue Haus in Rosengarten eingeigelt und wirkte, auch ihren Eltern gegenüber, sehr verschlossen.

Sie waren mitten im Sommer umgezogen, so dass es in die Zeit der Schulferien fiel.

Die Kinder sollten sich erst einmal in ihrer Freizeit an die neue Umgebung gewöhnen.

Als in den Tagen nach dem Vorfall damals bekannt geworden war, dass sich Matthias kurzfristig sogar in Lebensgefahr befunden hatte, hatten Herr und Frau Kröger,- seine Eltern, besagte Lawine der Missgunst losgetreten und das Verfahren sowie die Hetzkampagne in Kreisen anderer Eltern in Gang gebracht.

Nichts war leichter als das Misstrauen anderer mit noch mehr Misstrauen zu füttern.

Der Junge musste heute, wie Erik auch, etwa acht oder neun Jahre alt sein. Sie hatte noch in besagtem Sommer von erbosten Nachbarn, die sie im Supermarkt traf erfahren: „Er wird für den Rest seines Lebens auf einem Auge blind bleiben!“

Der Kleine tat Yasmin unendlich leid, aber sie hatte ihn seit dem Ortswechsel nicht wieder zu Gesicht bekommen.

Jetzt verfolgte er sie ab und an in Erinnerungen, denen sie schon so viele Jahre nicht entfliehen konnte.

Wie heute.

Erik hatte damals schnell wieder zu seiner alten Form zurückgefunden, er war halt, und blieb ein dickköpfiger, frecher Bursche. Die Katharsis nach dem Schock im Kindergarten hatte nicht lange vorgehalten. Was er da angerichtet hatte, konnte ein Kind seines Alters einfach nicht in vollem Maße begreifen.

Der Psychologe hatte den Eltern den Rat mit auf den Weg gegeben, „Es“ dabei zu belassen. Sie sollten dem Heranwachsenden schlicht und einfach ein liebevolles Zuhause bieten, wo auch immer das in Zukunft sein möge.

Andreas hatte genau diesen Ratschlag in die Tat umgesetzt; die beiden verbrachten die ersten Wochen nach dem Einzug ins neue Haus, das Andreas zur Gänze aus Ersparnissen seiner verstorbenen Eltern und eigenen Rücklagen finanziert hatte, beinahe jede freie Minute miteinander.

Erik war dabei, als Andreas den Teich anlegte, er baute dem Jungen ein kleines eigenes Baumhaus und sie spielten, wann immer das Wetter es zuließ, draußen im Garten.

Es war stets herrlich Vater und Sohn in jenen Tagen, bei einigermaßen gutem Wetter, mit Wollmütze und Schal, in dicke Winterjacken gehüllt auf dem verschneiten Rasen Fußball spielen zu sehen.

Yasmin selbst aber entfremdete sich zusehends von dem Jungen. Mehr und mehr hasste sie die Erzieherinnen der Kindergartens, dafür, dass sie sie sofort geholt hatten. Nie gelang es ihr das Erlebte und die schrecklichen Bilder ganz abzuschütteln, die sie im Kindergarten hatte erleben müssen.

Erik war ihr eine geraume Zeit über, sogar unheimlich gewesen. An manchen Tagen, wenn Andreas später von der Arbeit heimkehrte, hatte sie sich dabei ertappt, den Kleinen übertrieben genau zu beobachten. Dabei kam es nicht selten vor, dass sie sich einbildete, er habe etwas Aggressives im Blick. Er übermittelte ihr oft das Gefühl, irgendetwas Eigenartiges und möglicherweise Boshaftes im Schilde zu führen.

Sie schämte sich jedes mal für ihre abnormalen Gedanken. Dass ihre Fantasie in ihrem Kind, das sie einfach nur lieben sollte, manches mal eine Bedrohung sah, brachte sie häufig dazu sich selbst zu verabscheuen.

Der vorlaute Junge war ihr gegenüber sehr offen und frech, was sich leicht als feindselig auslegen ließ, als hätte er etwas Böses zu verbergen. Seine Art unterschied sich so grundlegend von dem Verhalten seiner älteren Schwester, wie ein Wolf einem Kaninchen ähnelte. Dennoch war es ihr Sohn, er konnte nicht „böse“ sein. Das waren irrationale Gedanken. Und doch waren es Gedanken, die sich immer und immer wieder in ihren Kopf schlichen, wie ein Einbrecher des Nachts in das Haus reicher Leute.

Rebecca war immer still, nicht wirklich introvertiert, nur einfach ein wirklich braves Mädchen. Ein nettes Mädchen. Besonders stolz machte es Yasmin, zu sehen, dass die heute Fünfzehnjährige sich zu einer wirklich hübschen jungen Frau entwickelte. Das hieß natürlich auch, sie schlug mehr nach ihrem Vater. Das pubertierende Mädchen war schon heute gute fünf Zentimeter größer als ihre Mutter, schlank und sportlich gebaut, ohne jemals viel dafür tun zu müssen.

Manchmal kam sie nach Hause und zeigte Yasmin, mehr beschämt als erfreut, einen Liebesbrief von einem Mitschüler. Harmlose Schwärmereien zwar, aber es bereitete Yasmin Freude, zu sehen, dass ihre Tochter „beliebt“ war.

Rebecca würde schon bald ihr Interesse am anderen Geschlecht erwacht wissen, war es doch längst an der Zeit. Die vielen Briefchen, manchmal auch Zeichnungen, die sie von den „Anwärtern“ wie sie diese Jungs nannte, bekam, bewahrte sie immerhin bereits sorgfältig auf.

Yasmin wusste auch, dass ihre Tochter ein Tagebuch hatte, in dem jeder Versuch sie zu umwerben dokumentiert wurde. So was hatten doch alle Mädchen in ihrem Alter. Doch sie ließ ihr ihre Privatsphäre und würde es niemals wagen darin herumzuschnüffeln.

Sie gehörte keineswegs zu der Art Mütter, die sich wegen so etwas wie diese Flirts in der Schule, um das Wohlergehen ihrer Tochter sorgten. Wenn Rebecca sich mit Jungs treffen wollte, und würde, so war sie sich sicher, hätte sie sich das lange und gründlich überlegt. Sicher würde sie den Betreffenden sogar nach schrecklich peniblen Regeln auswählen.

Yasmin war heute siebenunddreißig Jahre alt und hatte sich immer vorgenommen, ihren Kindern nie derart Mauern und Schranken zu bauen, mit denen sie während ihrer eigenen Jugend hatte leben müssen. Beide sollten ihre eigenen Erfahrungen machen, selbst wenn sicherlich die eine oder andere davon nicht immer positiv ausfallen würde.

Ohnehin war Yasmin zu der Überzeugung gelangt, aus negativen Erfahrungen könne man einfach wesentlich eher etwas lernen, denn aus den positiven. Wer einen Fehler macht, macht ihn meist kein zweites Mal; wem immer nur Gutes widerfährt, der wird naiv und gutgläubig.

Von Rebecca erwartete sie insgeheim nur, dass sie ihr jedenfalls einen „potentiellen Freund“ vorstellen würde, wenn es an der Zeit war.

Erik hingegen war wirklich kein einfacher Mensch. Er steuerte zusehends darauf zu wieder in Schwierigkeiten zu geraten. Als Andreas von ihnen ging, ihnen genommen wurde, war da Etwas, das auch in Erik starb. Man hatte den Kleinen kaum beruhigen können, als die Beamten die furchtbare Nachricht überbracht hatten.

Rebecca war zu dem Zeitpunkt nicht Zuhause gewesen, aber Erik hatte bei Yasmin in der Küche gesessen, wo er seine Hausaufgaben machte. Man musste ihn ständig dabei kontrollieren, weil er es sonst schlichtweg bleiben ließ.

Der immer vorlaute und ebenso neugierige Junge war natürlich beim Klingeln vor Yasmin zur Tür gerannt und hatte, wie beinahe immer, wenn sein Vater nicht zugegen war, warnende Worte seiner Mutter einfach ignoriert. So war es auch andauernd was Bitten oder Forderungen anbelangte. Sei es sein Zimmer in Ordnung bringen, oder vielleicht mal beim Abwasch helfen.

Dinge die Rebecca oftmals gerne und auch unaufgefordert tat, ignorierte Erik, oder gab biestige Wiederworte.

Erik hatte zwar die Tür geöffnet, doch Yasmin war binnen zwei Sekunden hinter ihm und schon ihn sanft zur Seite: „Geh bitte wieder in die Küche!“ Sagte sie, und konnte nur schwer ihren säuerlichen Tonfall unterdrücken.

An jenem Tag hatte die Polizei zwei Uniformierte geschickt, die Yasmin aufgesucht hatten um die schreckliche Kunde zu überbringen, ihr Mann sei mutmaßlich das Opfer eines Verbrechens geworden, man schließe aber auch einen Unfall noch nicht aus.

Gerade die ungewöhnliche Reihenfolge dieser „Annahmen“ war es, die darauf zu deuten schien, dass Letzteres „nur so dahin gesagt“ wurde, um eventuell zu beruhigen; - das Gegenteil war der Fall.

Er ist Tod. Es tut uns leid.“

Der Junge hatte es sich nicht nehmen lassen, der Aufforderung seiner Mutter, zurück in die Küche zu gehen, nicht Folge zu leisten. Er blieb einfach im Flur hinter ihr stehen und lauschte dabei natürlich dem was die Polizisten sagten.

Als er mitbekam was passiert war, rastete der, zu der Zeit neunjährige, Knirps total aus. Er war auf die Beamten losgestürmt, schlug einem der überraschten Männer gegen den Bauch, trat dem andern gegen die Beine.

Erik schrie und spuckte, er wiederholte immerzu: „Nein! Nein! Das ist nicht wahr! Nein! NEIN...!“

Yasmin war augenblicklich zusammengebrochen. Da die beiden Männer so plötzlich mit dem Jungen zu kämpfen gehabt hatten und erst mal nicht wussten, wie sie den Kleinen bändigen sollten, war es ihnen nicht möglich gewesen Yasmins Sturz, angesichts der nahenden Ohnmacht aufzuhalten oder zu bremsen.

Sie kippte schräg rechts, nach hinten weg, als ihre Beine sie einfach nicht mehr tragen wollten.

Ihr Kopf stieß auf das harte Laminat, und sie blieb bewusstlos liegen.

Zum Zeitpunkt ihres Erwachens lag sie noch immer dort auf dem Fußboden. Es waren die beiden Polizisten und eine weitere Person bei ihr, eine Frau, ebenfalls in Uniform.

Diese hatte sie gerade, nicht besonders behutsam geweckt, einfach indem sie ihr eine scharf riechende Flüssigkeit in einer kleiner Phiole unter die Nase gehalten hatte.

Dass Erik sich noch immer wie in Raserei befand und sich weiterhin heftig gegen die Beamten zur Wehr setzte, die ihn mit kräftigem Griff, zwischen sich auf der Couch in Schach hielten, hätte durchaus eine komödiantische Szene abgeliefert, wäre der Grund für die vorherrschende Situation nicht so überaus dramatisch gewesen.

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