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Zellengesellen
ОглавлениеGetrennt - obwohl nicht weit entfernt
Stählerne Vertikalsperren haben das Trennen gelernt
Sie trennen, weil so gebaut, so aufgetragen
Sie ignorieren der Gefangenen Fragen und deren Klagen
Karl Freiherr von Schrenck von Notzing hob seinen Kopf von den Akten hoch, um den Boten zu sich zu winken. Der blieb vor dem prachtvollen Schreibtisch stehen und überreichte dem Staatsmann einen Brief aus Starnberg, eigentlich gerichtet an den König von Bayern. Doch der Bote sollte diesen bei längerer Abwesenheit dem Staatsminister des königlichen Hauses und des Äußern, Vorsitzender im Ministerrat und Staatsminister des Handels und der öffentlichen Arbeiten übergeben. Von Schrenck nahm ihn an und schickte den stummen Boten wieder fort.
Sicher schnitt er den Brief auf und entnahm das Schreiben. Es war vom Polizeirat aus Starnberg, ungenau datiert auf Anfang September 1863. Von Schrenck erinnerte sich an diesen schleimfetten Fleischklumpen, der das Buffet auf dem Geburtstagsball des Königshauses wohl als sein Eigentum betrachtet hatte. Sein Bruder, nicht viel besser, war ihm ebenso wohlbekannt, noch mehr als den Polizeirat. Der Pfaff war ihr gottesfürchtiger Handlanger für alltägliche Sachen, die nicht zu vermeiden waren. Hubertus von Müller agierte öfters mit ihm. Selbst der Erzbischof kannte ihn. Er war ein guter Helfer gewesen damals, das musste von Schrenck zugeben. Seinen Polizeibruder hatte er stets außen vorgelassen.
Seit dem 1. Mai 1859 war von Schrenck nun bereits der Leiter im Palais Montgelas, dem Sitz des Bayerischen Staatsministeriums in München. Er pflegte ein gutes Verhältnis zu Thron und Altar, er gehörte aber ebenso der Corps Palatia an, einer Studentenverbindung der Münchener Hochschulen.
Langsam lehnte er sich zurück als er die wenigen Zeilen gelesen hatte. Er richtete seine Nickelbrille. Er glättete sein dünnes Haar.
»Das ist nicht gut.«
Er war Politiker mit Leib und Seele und doch war er plötzlich ungewohnt nervös. Der Inhalt des Briefes katapultierte ihn zurück in die Zeit des Jahres 1847, als der Skandal um König Ludwig und seiner Konkubine Lola Montez ihren, nun ja, Höhepunkt erreicht hatte.
Die entrüstete Palatia war mit einem Schlag bekannt geworden in der Stadt. Die gierige Presse übertrumpfte sich mit reißerischen Schlagzeilen, Karikaturen und Flugblättern, als bekannt geworden war, dass die Montez eine innige Beziehung mit dem damaligen Corps Palatia Pfälzer-Senior Elias Peißner frönte. Er und andere Corpsbrüder hatten die Studentenverbindung verraten und ihr eigenes Corps unter dem Namen Alemannia, abschätzig als die Lolamannen bekannt, gegründet. Die Palatia schloss die Abtrünnigen später aus, was den damaligen König Ludwig auf den Plan gerufen hatte. Doch die Palatia weigerte sich, des Königs Aufforderung Folge zu leisten und den Ausschluss rückgängig zu machen. Dann folgten Anfeindungen und üble Nachreden, bis es zu Unruhen an den Universitäten und Protesten in der Bevölkerung gekommen war. Von Schrenck selbst unterschrieb als Justizminister und vor allem aber als Alter Herr der Corps Palatia ein Memorandum gegen die Montez, danach traten alle Minister, auch er selbst, zurück.
»Fortuna virtutis comes!« Das Glück begünstigt den Tapferen.
»Ensis sit noster vindex!« Das Schwert sei unser Rächer.
Der Wahl- und Waffenspruch der Corps Palatia. Sie hatten Glück. Das Schwert damals war dieser Brief. Doch wie war der Brief vor ihm einzuordnen?
König Ludwig hatte am 9. Februar 1848 die Universitäten schließen lassen, die Studenten sollten der Stadt innerhalb von drei Tagen den Rücken kehren. Sofort kam es zu Unruhen, am nächsten Tag wurde die Schließung zurückgenommen. Zudem beschloss Ludwig diese Hexe, die er so sehr vergötterte, ins Exil zu schicken. Die vermeintliche spanische Lolita und Tänzerin Lola Montez flüchtete in die Schweiz, doch München kam nicht zur Ruhe. Es war die Zeit der Märzrevolte, die erste Phase der Deutschen Revolution von 1848/49 im Deutschen Bund, die sich über den halben Kontinent auszubreiten drohte.
Und die Aufstände steigerten sich, als bekannt geworden war, dass die Hure trotz ihrer Verbannung wieder in München weilte. Ludwig ließ sie per Fahndungsaufrufe suchen und doch wusste jeder, dass sie sich auf seinem Schoß räkelte.
All diese demokratischen Unruhen aber brachten Karl von Schrenck zum Grübeln. Ludwig berief sofort und, aufgrund seiner Affäre im Kopf zerfahren, ein lächerliches, liberales Kabinett ein. Es überkam Bayern die Zeit der politischen Kungeleien. Karl Freiherr von Schrenck und der Erzbischof von Erding und München, Ritter Gregor von Scherr, bewegten schließlich, unter Zugeständnissen auf beiden Seiten, König Ludwig zum Rücktritt.
Er blickte sich in seinem Arbeitszimmer um. Landschaftsgemälde und -lithografien hingen an der Wand, keine Herrscher oder Päpste. Bürgerlichkeit sollte sein Arbeitsbereich ausstrahlen, privat sein und doch geschäftig. Die Wände holzvertäfelt, das Licht durch die Fenster nicht allzu hell, aber doch angenehm genug zum Arbeiten. Auf einer Anrichte hatte er Geschenken stehen, die er auf seinen Reisen erhalten hatte. Zinnfiguren, Porzellanteller, aufwendig geschnitzte Holzkreuze und -kruzifixe, von denen er das schönste aus dem Alpenvorland an die die Wand gehängt hatte.
Der Brief … dieser Brief vor ihm!
Er rekapitulierte die hurtig mit seinen Augen aufgefressenen Zeilen. Schrencks Lakai Hubertus von Müller hatte Gietl am Würmsee in der Nacht vor Ludwigs Geburtstagsball beobachtet, an der Stelle, wo die Corps Palatia und der Pfaff einst die Montez in einer Kiste versenkt hatten. Wie konnte er das wissen?
Später hatte von Müller den königlichen Leibarzt Dr. Gietl in Starnberg zufällig zu nachtschlafender Zeit beobachtet, wie dieser die Polizeiwache verließ. Über den Marktplatz war er ihn gefolgt, bis hin zum Haus seines Stiefvaters. Er hatte den Doktor gehört, als er vor sich hinmurmelte: »Sie ist zurück. Sie ist aus dem See zurück! Sie muss es sein«.
Von Müller war sogar einige Tage danach in des Doktors Münchner Schlafstube gestiegen und hatte die Geburtsurkunde gefunden. Hubertus von Müller war ein guter Mann.
Noch einmal las von Schrenck die Zeilen des Schreibens: »Die weibliche Person, zu der ich keine näheren Kenntnisse besitze, die unerwartet aufgetaucht ist, wurde festgenommen. Sie wurde nach Herrenchiemsee gebracht.«
Ihr war tatsächlich die Flucht gelungen. Sie hatte überlebt. Von Schrenck hatte schon damals nicht verstanden, warum sie nicht einfach mit einem Stein um den Hals versenkt wurde statt in einer Kiste. Das musste Konsequenzen haben, auch jetzt noch, Jahre später. Nein, es war wie es war. Zumindest die nun auf diese Weise zusammen gekommenen »Gäste« im Irrenhaus auf Herrenchiemsee entlockten ihm kurz ein sarkastisches Lächeln. Zerknirscht zerknüllte von Schrenck den Brief. Sie mussten das Problem schnell beseitigen. Wieder einmal.
Eisiges Stille. Die metallenen Rollen der Zellentür kamen jäh zum Erliegen, als sie einrasteten. Die beiden Männer in Uniform verließen den Ort.
Und der war gigantisch. Mia war trotz ihrer ausweglosen Situation erstaunt. Ihr Blick wanderte über diesen umfangreich umbauten Raum, ein künstlich erbautes Gebilde, ungefähr so flächig wie ganz Klatschertnass und ebenso hoch wie die dortige Himmelsdecke. Dieser luftige Saal, der den vom Gmeindestadl wie einen unterwürfigen Witz wirken ließ, war opportunistisch karg und kalt gegenüber dem Prunk des Balls und so sonnig warm wie die Stimmung dort.
Eine Zelle reihte sich an die nächste, auf ihrer Seite, auf der anderen. Die Hallenwände waren in der obersten Reihe durchbrochen von großen Fenstern, die zusammengesetzt waren aus einer Vielzahl kleinerer Scheiben, die dem Sonnenlicht milchigen Einlass gewährten. Die Saaldecke war schier unerreichbar. Hinter ihr, wo die bösen Männer entschwunden waren, befand sich eine Galerie, an der noch einmal Fenster angebracht waren, hinter denen sich augenscheinlich ein Überwachungsraum befand. Unten aber waren alle Zellen verlassen. Alle bis auf die ihre und eine weitere. Diese befand sich spiegelverkehrt auf der anderen Seite des Ganges. Sie kniff die Augen zusammen, war der Gefangene doch zu weit entfernt. Eine Gestalt, in weiße, lockere Kleidung gehüllt wie sie selbst. Der Kopf, die Haare, die Haltung verborgen wie der Körper. Mann oder Frau?
»Wer bist du?«, hallte es durch den Komplex. Sie umgriff dabei die kalten Gitterstäbe ihrer Zelle.
Doch die Gestalt reagierte nicht auf Mias Worte. Sie saß einfach nur auf dem Bett. Mia gab sofort auf, sie inspizierte ihren neuen Aufenthaltsort. Ein Bett mit dünner Decke und bockhartem Kissen zum Schlafen. Ein Blecheimer für die Notdurft. Sonst nichts. Kälte und Gitterstäbe. Wie ein Käfig. Die nächste Wand befand sich ungefähr fünf Meter entfernt. Dort bröckelte der Putz ab. Die Fenster darüber waren verschmutzt, manche kleine Scheiben zerbrochen. Der Wind pfiff hindurch sein Lied in Moll.
Sie war mit einem Boot auf die Insel gebracht worden. Der See aber war nicht der See, unter dem sie einst gewohnt hat, es war ein anderer, was sie spekulieren ließ. Lebte darunter ein anderes Element? Oder lebten diese unter dem, was sie waren? Erde unter Erde, Feuer unter Feuer, Luft unter Luft und die Tropfen als Wasser unter Wasser. Sie wusste es nicht.
In ihr stieg Hilflosigkeit hoch. Ihr wurde plötzlich klar, wie absurd und ausweglos die eigene Situation war. Die beengte Welt von Klatschertnass war noch beengter geworden. Ihre Flucht aus der Unterwelt in die, wo sie dachte, sie gehört dazu, war Lug und Trug. Ein kurzer, nichtsnutziger Ausflug, befremdliche Menschen, seltsame Natur, distanzierter Umgang und nun eine Gefangennahme, die sie sich nicht erklären konnte. War nur, was nur war passiert? Wie konnte das passieren? Gehörte sie nicht hierher? Wollte man sie hier nicht? Wieso nicht? Erneut war sie der Außenseiter, so wie sie es bei den Tropfen gewesen war.
Draußen wurde es finster, innen verlosch das Licht oben im Amtszimmer. Es wurde düster und noch frischer. Sie begann zu wimmern, zu weinen, die Hoffnung schwamm mit ihren Tränen auf und davon. Bett und Decke waren zu kurz, sie rollte sich zusammen.
Irgendwann schlief sie ein.
Ihre Träume waren fahl durchzogen von Tropfen und Karussells, von Kugeln und Monsterbäumen, von Marionetten und ihren auslachenden Gesichtern, von grapschenden Bauern und purer Kälte.
Hastig atmend schreckte sie hoch, die dünne Decke in knochigen Fingern gekrallt. Um sie herum nur das undurchdringliche Schwarz der Nacht.
Aus der Ferne ertönte ein Schmatzen, ein Klacken. Oder war es ein Schnalzen? Ihr Kopf drehte sich in Richtung der Gestalt aus der anderen Zelle.
»Bist du das?«, fragte sie ins dunkle Nichts hinein.
Die Gestalt presste ihre Zunge wohl gegen ihren Gaumen und löste sie schlagartig wieder. Sie tat dies in regelmäßigen Abständen. Erneute Stille. Die Person schien die eigenen Geräusche zu studieren.
»Du bist drei Zimmergrößen von mir entfernt«, krochen plötzlich jungerwachsen klingende Worte gedämpft zu ihr. »Es sind nur wir beide hier.«
Ein Junge! Es ist ein Junge!
»Wer ... wer bist?«
»Ich ... bin ... Siloah. Das sagt der eine zu mir. Einmal. Der andere hat keinen Namen für mich.«
»Ich bin Mia. Warum bist du gefangen?«
»Gefangen? Was ist das?«
»In der Zelle! Warum bist du hier? Wo kommst du her?«
»Ich ... bin schon immer hier.«
»Schon ... immer?«
Mias Magengrube zog sich zusammen, Seelenschmerz durchfuhr sie.
Noch beengter ...
»Deine Stimme ist anders. So hoch wie ein Schlag gegen die Zellenwand.«
»Nun ... als Madl ... Frau ... ist das ... normal.«
Madl? Frau? Was ist das?«
»Du weißt nicht, was ein Madl oder eine Frau ist?«
Lachen? Weinen? Doch schnell ertappte sie sich in ihrer eigenen Selbstgefälligkeit. Was wusste sie schon selbst noch vor ein paar Tagen? Was wusste sie heute?
»Ich weiß das nicht. Bitte keine Gotteskraft! Keine Gotteskraft!«
»Gotteskraft?«
Plötzlich schnalzte es wieder.
»Was ist das? Bist du das?«, fragte Mia.
»Still. Ich. Ich. Ja. Ja!«
Es schnalzte noch einmal. Beide lauschten. Dann: »Er kommt, er kommt!«
»Wer? Wer? Ich kann niemanden sehen! Es ist ... stockdunkel!«
»Sehen! Du wirst schon sehen! Du wirst schon sehen! Das sind seine Worte, seine Worte. Und danach ... Gotteskraft! Gotteskraft!« Es schnalzte schnell dreimal hintereinander, vermischt mit seinem Japsen.
Stille.
Schritte.
Tatsächlich!
Sie wurden schneller.
Ein Lichtkegel.
Er schaukelte hin und her.
Das Licht wurde abgestellt.
»Wer ... ist das mit dem Licht?«, fragte Mia beunruhigt in die Richtung des Jungen.
»Was ist Licht?«
»Da vorne! Siehst du es nicht?«
»Du wirst schon sehen! Gotteskraft! Gotteskraft!«
»Hör auf damit!« schrie sie plötzlich.
In diesem Moment klackte es und die Zellentür wurde aufgerissen. Eine Gestalt packte Mia am linken Oberarm. Sie erfuhr einen Schlag auf ihr Kinn. Überrascht und voller Schmerz taumelte sie zurück, bis sie stolperte und sich den Kopf an ihrem Bett stieß.
»Ruhe jetzt«, brummte es. Die Tür fiel wieder ins Schloss. Die Lampe wurde gepackt. Das erneute Klacken des Schlüssels. Schritte, die sich entfernten. Der Schein ließ die Dunkelheit hinter dem Körper des Wächters gewähren.
»Nun siehst du sie! Die Gotteskraft! Gotteskraft«, raunte es durch den Raum.
Der junge Ludwig, die Familie und das Gefolge waren zurück auf Schloss Nymphenburg. Er hoffte, Mia ging es gut. Oft dachte er an so manches Gespräch, das er mit ihr im Geheimen auf Schloss Berg getätigt hatte.
Visuelles. Vieles hatte sich um Bilder, Photographien und Malerei gedreht.
»Nun erzähle ich dir was von mir. Hier ist ein Bild von meiner Familie nach einer Zeichnung von Erich Correns. Es ist ungefähr zehn Jahre alt. Meine Eltern, mein Bruder und ich. Er hat es zweimal angefertigt.«
»Sicher, dass du das bist? Du trägst langes Haar und ... ein Kleid?!«
»Und einen Blumenstrauß!«
»Deine Mutter sieht hübsch aus und dein Vater edel.«
»Der Mantel beherrscht fast das ganze Bild. Er hatte seine Hand auf meinem Kopf gelegt. Wahrscheinlich war das die einzige zärtliche Geste von ihm mir gegenüber in achtzehn Jahren.«
»Achtzehn … Jahre? Wie war deine Kindheit?«
»Ich hatte genug damit zu tun meine Eltern zu hassen, aber auch das Leben zu lieben. Fischen und Entenjagen, Schwimmen und durch die Natur streifen, sei es zu Fuß oder auf dem Pferd. Im Alter von sieben Monaten hatte ich wohl eine Hirnhautentzündung, mit jedem Kopfschmerz bringt sie sich zurück in meine Erinnerung.«
»Diese Plage hämmert auch in meinem Kopf. Der Giftmischer meinte wohl, das käme von einem Sturz. Es ist zuweilen unerträglich.«
»Der Giftmischer … dein Vater. Mein Vater wurde König, als ich drei Jahre alt war. Schon da bedrückte mich der Gedanke, dass es mir auch so ergehen könnte.«
»Ist es nicht schön, der König zu sein? Gutes für sein Volk zu tun? Alles zu haben?«
»Das Leben ist nicht süß, Mia.«
»So stelle den Zucker selbst bereit!«
»Du bist naiv, Mia. Viele Sommermonate waren wir im Schweizer Haus Elbigenalp, auf Hohenschwangau oder in Berchtesgaden. Nur die Natur ließ mich das durchstehen.«
»Du sagtest, du reitest auf einem Pferd. Ist das dieses große Tier mit den wehenden Haaren am riesigen Kopf und hinten am ...«
»Ja, du musst das unbedingt probieren! Weniger glücklich war die Zeit, als meine Erzieherin Sibylle uns verlassen hat. Wir haben noch Briefkontakt. Danach folgte der unsägliche Militärgraf Basselet de la Rosée mit seinem Handlanger Baron Wulffen und zuweilen Major von Orff. Vor sieben Jahren begann meine Ausbildung mit Religionslehre, Bayern, Philosophie und Theorie und Praxis in Militär. Ich hasse es! Warum töten? Wegen seines eigenen Rechts? Wegen Land? Des Lebens wegen? Der Macht darüber? Das Recht auf Vergänglichkeit?«
»Du jagst. Du isst Tiere. Tust du das, weil es niedere Wesen sind? Wer hat das bestimmt?«
»Gott. Gott hat das bestimmt!«
»Es gibt keinen Gott! Es gibt nur die Elemente!«
»Lass uns nicht streiten. Reden wir über was Anderes. Ich zeichne gerne! Hier müssen noch weitere Bilder sein. Oder wir machen selbst eines!«
Mia klatschte freudig in die Hände. Ludwig mahnte sie zur Ruhe. Schnell richtete sie sich die Leinwand, den Bleistift und den Pinsel. Draußen lag der See, ruhig und friedlich. Auf ihm zogen entspannt drei Schwäne ihre Runden.
»Wollen wir einen Schwan malen?«
»Einen Schwan? Warum einen Schwan? Du weißt, ich mag diese Tiere nicht. Sie fühlen sich sogleich angegriffen. Sie plustern sie sich auf wie mein Vater. Sie sind arrogant wie mein Vater. Ihr Name begegnet mir jeden Tag. Es ist eine Trauer. Aber nun gut ... malen wir!«
Und Mia zeichnete und malte, akkurat und mit Geduld. Ein Schwan auf dem See, im Hintergrund eine Insel.
»Ich helfe dir beim Ausmalen.« Und Ludwig legte seine Hand auf die von Mia. Der See wurde allmählich in ein Blau getaucht. Schließlich war es vollendet.
»Ich werde es allerweil aufheben Mia.«
München war zu sehen. Sie würden bald das Schloss erreicht haben.
Bist du in Sicherheit, Mia? Diese Unwissenheit macht mich narrisch!
Ungewöhnlich orange fiel das Tageslicht durch die unzähligen Fenster hinein in die große Halle mit all seinen Käfigen. Ein Morgengewitter kündigte sich an.
»Junge, hörst du mich?«
»Ich höre dich, Mia.«
Mia war verwundert, konnte sich der Junge, der um die zwölf Jahre alt sein mochte, sich an ihren Namen erinnern. Er stand fast in der Mitte seiner Zelle, kerzengerade als hätte er einen Stock im Arsch, die Augen gerade auf die gegenüberliegende Zelle gerichtet.
»Wie geht ...«
»Mein Name ist Siloah.«
Er hatte sie erwischt. Dann: »Wie geht es dir, Siloah?«
»Es ist wie immer. Nun beginnt die Zeit, wo es wärmer wird.«
»Ja, der Feuerball, also die Sonne ... sie geht auf.«
»Feuerball? Sonne? Was ist das?«
»Du weißt nicht was seine Sonne ist?« Sie lachte kurz auf, um sich erneut selbst dabei zu ertappen, dass sie bis vor kurzem diese selbst nicht gekannt hatte. »Entschuldige.«
»Was ist entschuldige?«
»Nun ... ich wollte das nicht sagen. Kommst du ... aus einem Element?«
»Element?«
»Kommst du aus dem Element Luft oder Erde? Oder Feuer?«
»Feuer. Feuer. Das kenne ich. Die Gotteskraft ist Feuer. Es soll aus mir raus, das Feuer des Teufels, das Feuer der Hölle!«
»Beim Empedokles, du bist aus dem Element Feuer?«
Mia krallte sich an die Gitterstäbe.
»Ich bin schon immer hier.«
»Ja, stimmt. Das sagtest du bereits.« Sie ließ los und kehrte auf ihr Bett zurück. In ihr wuchs ein Verdacht: »Siehst du mich?«
»Du wirst schon sehen! Du wirst schon sehen! Danach ... Gotteskraft! Gotteskraft!« Siloahs Stimme war brüchig geworden. »Das ist Sehen. Das ist Sehen!«
»Ich meine mit den Augen. Erkennen, was um dich herum ist. Dein Bett. Die Zelle. Diesen ... Ort. Das Licht! Die Sonnenstrahlen. Die Farben! Mich!«
»Ich kenne das nicht. Ich weiß wohl, wo meine Augen sind, aber ich weiß nicht, für was sie gut sind.«
»Das ist ... ja schrecklich. Du bist blind! Du bist blind!«
Mia klatschte die Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen.
»Gibt es noch mehr?«
»Bitte?« schluchzte sie.
»Du lässt das Wasser aus deinem Gesicht laufen, wie ich es tue, wenn die Hand der Gotteskraft da war. Dafür sind die Augen. Dafür!«
»Die Hand ... wovon redest du nur?«
»Es gibt die Hand der Gotteskraft und es gibt Hans, der mir durch seine Hände Essen und Trinken bringt. Und nun bist du da. Aber du kannst nicht zu mir kommen und ich weiß nicht warum. Und du bist anders. Du bist ein Mädchen oder eine Frau, hast du gesagt. Ich weiß nicht, was das ist. Und warum du hier bist. Gibt es noch mehr ... wie dich?«
»Jede Menge. Da draußen! Aber einige sind böse. Ich komme aber aus einer ganz anderen Welt. Sie liegt unter einem See. Es ist eine Stadt namens Klatschertnass. Wir ... sie sind das Element Wasser. Wo die anderen Elemente sich befinden, weiß ich nicht genau. Aber die Einwohner dort sind anders. Sie sind Tropfen. Sie sehen so aus, wie die Tränen, die wir weinen. Sie sind aus Wasser, kugelrund wie ein Tropfen, der Kopf, der Oberkörper mit der Wampe. Sie sind ein Teil des Elements. Sie sind nett und zuvorkommend, sie sind fleißig und einfach. Aber sie kennen keine Liebe.«
»Ich verstehe vieles, was du sagst, nicht. Aber sie sind wie ich. Keine Liebe. Was ist Liebe? Es hört sich schön an.«
»Liebe? Ich weiß es auch nicht. Oder zumindest bin ich mir nicht sicher. Es gibt wohl verschiedene Arten der Liebe. Ein Tropfen hat mich großgezogen, der Giftmischer. Aber keine Angst, sein Name ... nun ... ich weiß nicht, woher er ihn hat.«
»Es tut mir leid, was du sagst, es sind ...«
»... Worte ...«
»Ja, Worte, die ich nicht kenne.«
»Er hat mir allerweil ein Gefühl der Geborgenheit gegeben. Außer ein einziges Mal, wo er mir Pein zugefügt hat. Ich war noch ein Kind. Meine Erinnerungen blitzen nur. Er hat mir körperlich was angetan, es verfolgt mich bis heute ... in den Träumen und als Schmerz in Kopf und Bauch.«
»Das ist Liebe? Manche deiner Worte klingen schlecht. Pein. Blitzen. Schmerzen. Manche schön. Geborgenheit. Erinnerungen. Hart und weich.«
»Nein, das ist nicht Liebe. Sonst liebte er mich schon. Er beschützte und begleitete mich mein Leben lang, er förderte mich, sogar als ich die Idee hatte, Klatschertnass zu entfliehen, um ausher zu bekommen, wer ich bin. Wer meine Mama ist. Und mein Papa.«
»Mama? Papa? Auch das hört sich schön an.«
»Ich weiß nicht, ob es schön ist. Warum bin ich nicht bei ihnen?«
»Keine Liebe?«
»Das mag sein. Keine Liebe.«
»Ich wollte nicht ...«
»Schon gut. Die Tropfen ... sie kennen keine Liebe. Sie heiraten und leben zusammen, nachher kommt der Nachwuchs. Sie werden Papa und Mama und bekommen einen Buam oder a Madl. Und selbst wenn sie eines verlieren, eines verschwindet, so ... trauern sie nicht, sie ...«, ihre Stimme stockte, »... sie ... gehen einfach darüber hinweg. Meine beste Freundin, die Hemadlenzi ... sie verschwand von einem Tag auf den anderen und niemanden ... niemand scherte es! Stattdessen labten sie sich am Bacherl, am Fluss, sie tranken das frische Wasser voller Lust und Begierde, als ob es das wichtigste wäre! Und ich suchte sie. Ich bekam seltsame Ausreden, sie ginge auf eine Schule weit weg von hier, dabei war sie weg, sie war einfach weg und alle lagen auf ihrem kugelrunden Wamperl am Wasser und tranken, als gäbe es keinen Morgen.«
»Deine ... Tropfenfreundin war zu Wasser geworden.«
»Was? Was erzählst du da?«
»Du sagtest, die Tropfen seien aus Wasser. Deine ... Tropfenfreundin ist zu Wasser geworden. Das reine Wasser, dass sie tranken, war deine … Freundin. Sie haben sie in sich aufgenommen in ihrer Trauer.«
Mia erhob sich langsam, ihre Beine waren weich geworden. Es fiel ihr schwer, bis zu den Gitterstäben zu kommen. Sie starrte auf den Jungen, der noch immer fast in der Mitte der Zelle stand, kerzengerade als hätte er einen Stock im Arsch, die Arme haudig, das leere Gschau auf die gegenüberliegende Zelle gerichtet.
»Das ... ist nicht wahr!« Ihre Handfläche donnerte gegen eine Zellenstange. Es tat weh. »Das ... ist nicht wahr!«, kreischte sie.
»So sei es nicht wahr«, kam es trocken zurück.
Mia taumelte, ihr war schwindlig, vor ihrem geistigen Auge mahlte die Szene der Hemadlenzi-Trinkenden, ihr Labsal, bis ein Strudel entstand, der stärker wurde, der einen dunklen Schlund entstehen ließ, die Kräfte wild und zügellos, er zog sie an, er versuchte sie zu packen und zu ertränken. Sie warf eine goldene Kugel hinein, doch es brachte nichts. Wasser zu Wasser.
»So sei es nicht wahr«, wiederholte es sich verzweifelt durch das Asylum, gefolgt von Schnalzern. »So sei es nicht wahr, Mia, so sei es nicht wahr.«
Ein Zweispänner rauschte an und blieb direkt vor der Polizeiwache Starnbergs stehen. Der Kutscher hüpfte leichtfüßig von seinem Bock, der Polizeirat trat in diesem Moment vor die Tür.
»Bereit für die lange Fahrt zu ... ihr?«
Der füllige Polizeirat nickte, schielte kurz auf seine Taschenuhr, ehe sie in der oberen Jackentasche verschwand. In Schale hatte er sich geschmissen, für diese Geschäftsreise, für diese willkommene Abwechslung. Endlich durfte er an den Ort fahren, an dem sich sonst einmal im Monat sein Bruder, der Pfaff, herumgetrieben hatte. Er hatte ihn observieren lassen, bis hin auf die Insel Herrenchiemsee. Doch dort war nur noch ermittelt worden, dass er auf der Insel in das große Gebäude gegangen war, für ein paar Stunden, um danach selbstzufrieden wieder die Heimreise anzutreten. Das verlassene Kloster schien kein Freudenhaus zu sein und auch nichts Hinterhältiges. Vielleicht war es für ihn weiterhin ein … Kloster. Er hasste seinen Bruder, denn er teilte seine Geheimnisse und Wissen nicht. Er hofierte den König, den Erzbischof von Erding und München sowieso. Und weiß Gott dieser der Ball auf Schloss Berg. Für wen nur hielt er sich? Hing sein Gebaren mit den Großkopferten mit den Geschehnissen auf Herrenchiemsee zusammen? Seine durch seinen Bruder stummgewordene Zunge umspielte seine Lippen. Sollte er je zurückkehren, würde er ihn … Als ob er seinen Hals zudrücken würde, packte der Polizeirat den Griff des zugedeckten Käfigs.
Mit einem kurzen Gschau nach links und rechts wechselte der Bulb unerwartet flink die Straßenseite und fischte eine der drei dort vor einer Haustür stehenden leeren Flaschen. Während der Passagier einstieg und der Kutscher ihm behilflich war, legte der Bulb die goldene Kugel in einen Koffer, der hinten an der Kutsche in einer Halterung befestigt war. Er selbst verflüssigte sich in eine der Flaschen. Die Tür schloss sich und der Kutscher inspizierte noch einmal seine Kutsche rundherum.
Er zurrte den Koffer fest und verschloss die Flasche, gefüllt mit Wasser, wobei er nicht genau zu sagen vermochte, wo diese nun herkam. Aber gewöhnlich war der Polizeirat gut vorbereitet, wenn es um sein Gemeinwohl ging, der fette alte Sack.
Nur wenig später rumpelten sie los, in Richtung Chiemsee. Sie würden einen halben Tag unterwegs sein.
»Du hast sie zurückgelassen? Einfach so?«
Josua Gietl konnte nicht fassen, was sein Freund und Kronprinz Ludwig ihm eben erzählt hatte.
»Und du? Hast du sie nicht auch einfach zurückgelassen? Sie ist erst seit ein paar Tagen in dieser für sie fremden Welt!«
»Ich denke, wir haben beide Fehler gemacht. Wir müssen sie finden. Wo sie jetzt wohl sein mag?«
»Sie wollte unbedingt weiterreisen. Ohne Ziel und Verstand. Sie wollte nicht auf dem Schloss bleiben. Wir müssen jemanden schicken. Ich vertraue aber niemanden. Am besten wäre es selbst dorthin zu fahren.«
»Wie willst du das anstellen?«
Die Beiden hatten sich im Park von Schloss Nymphenburg getroffen. Josuas Vater, der Leibarzt des Königs, war entgegen sonstiger Gepflogenheiten nicht mit zur Königsfamilie gekommen.
»Die Schule geht wieder los. Militär! Politik! Unnützes Zeug für machtgierige Menschen.«
»Was will man machen, Ludwig? Ich beneide dich nicht. Es wird viel erwartet von einem Königssohn.«
»Ich hasse meinen Vater. Und doch hoffe ich, er möge lange leben! Und ich vor ihm verrecken.«
»Ludwig! Das darfst du nicht sagen! Das ist ...«
»Gotteslästerung? Unsittlich? Es ist mir egal, Josua. Wenn die Krone, die Presse, die Aufmerksamkeit nicht wäre, hätte ich meinen Vater schon lange ...«
Sein Gesicht war hart und unnachgiebig.
»Bring ihn um und setze deinen Opa wieder ein. Die Affäre und die Revolution sind dreizehn Jahren her!«
»Die Idee ist gut, Josua, aber wohl nicht umsetzbar. Meine Mutter könnte es doch machen, warum geht das nicht?«
»Eine Frau? Das ist ein Witz, Ludwig.«
»Es gibt Frauen an der Macht und …«
»Nicht in Bayern, Ludwig. Niemals wird in Bayern eine Frau an der Spitze stehen. Oder im Deutschen Bund gar.«
»Meine Mutter wäre in der Lage sich gegen die Horde Männer durchzusetzen.«
»Die Gesetze und Traditionen verbieten es, Ludwig. Das weißt du. Dein Vater hat sein Soll mit zwei Söhnen prächtig erfüllt!«
»Kaum zu glauben, dass er das geschafft hat.«
»Es gibt Dinge, die will man sich nicht vorstellen, mein Kronprinz. Mia wäre doch pfundig! Sie ist noch nicht verdorben von dieser Welt!«
»Sie sieht mir so ähnlich. Ein Abbild. Sie stand einmal vor meinem Bruder Otto, in meinen Sachen. Sie ist sehr groß für eine Frau, aber bei weitem nicht so groß wie ich. Und doch hat es Otto nicht gemerkt. Er ist ein Idiot. Oder sie perfekt.«
»Er hat es nicht gemerkt?«
»Es hätte fehlschlagen können. Selbst meine Mutter hatte sie gesehen, aber nur von hinten und weit entfernt. Aber sie hat sie lange angesehen. Als ob … wie dem auch sei. Uns gefiel das Spiel mit dem Feuer. Sie ist … sehr faszinierend.«
»Ich muss jetzt gehen, Ludwig. Wir sollten Mia unbedingt finden.«
»Ich lasse mir was einfallen, Josua.«
Josua verließ den Hofgarten, während sich Ludwig auf eine Bank niederließ. Mia ließ ihn nicht los. Sie war abstrus und schien Geschichten zu erzählen, die an den Haaren oder Marionettenfäden herbeigezogen waren und doch er war von ihr angetan. Stets hatte er sie mehr begafft als selbst gesprochen, er hatte einfach verzückt nur ihren Worten gelauscht, stundenlang. Und sich dabei selbst gesehen, in einer Welt, in der er gerne sein möchte. Kein Kronprinz. Keine Pflichten. Ihre Erzählungen waren nicht von dieser Welt.
Aus einem Fenster im ersten Stock beobachtete seine Mutter ihren Sohn. Doch ihr Interesse galt mehr Josua. Die Art, wie er lief, erinnerte sie an die Ballnacht. Sie alle waren maskiert, doch der Junge mit dem Mädchen war Josua, da war sie sich sicher. Er musste wissen, wer und wo diese junge Frau war. Doch sie musste vorsichtig sein.
Hans, der stumpfsinnige Hausmeister, hatte die beiden besetzten Zellen mit schweren, dunklen Vorhängen ummantelt und um Stille gebeten.
Mia fröstelte, sie hatte Angst. Was hatte das zu bedeuten? Von oben fiel noch Licht in ihren Kerker. Sie hörte Siloahs Gaumenschnalzen. Aber nur kurz. Dann war ihm wohl klar, dass ein Sichtschutz angebracht worden war.
»Gotteskraft. Gotteskraft«, hörte sie, eingerahmt in ein leidendes Wimmern.
Plötzlich machte sich jemand an ihrer Tür zu schaffen, das Schloss wurde entriegelt. Ein massiger Kerl trat ein, unter seinem Arm verschnürter Papierkram, in der Hand einen zugedeckten Käfig. Er war stilvoll mit einem Mantel und glatten Hosen gekleidet, der Schatten seines hohen Zylinders fiel in sein Gesicht. Er war unrasiert und müde. Und doch riss er seine Augen auf, als er Mia in ihrem weißen Einteiler sah. Ein Ganzkörperanzug, wie er ihn noch nie gesehen hatte, noch dazu in reiner Unschuld.
Die Tür fiel zurück ins Schloss. Der Kerl stand da, leicht gebeugt, der Mund schief. Den Käfig hatte er auf den Boden abgestellt. Er zitterte leicht, er wirkte älter als er eigentlich war. Er blieb stumm. Mia saß mit angezogenen Beinen auf dem Bett, die Kapuze über den Kopf. Er kam näher. Er beugte sich noch weiter nach vorne. Er betrachtete sie genau. Dabei nahm er Mantel und Zylinder ab. Sie fielen stumm zu Boden.
Er versuchte etwas zu sagen, ein Ausspruch des Erstaunens oder des Wunderns, doch nur ein Röcheln verließ seinen verätzten Rachen. Unruhig holte er den Papierpacken unter seinem Arm hervor. Wo war nur der Bleistift, wo das Papier? Er hatte Fragen, aber welche?
Jetzt erkannte sie ihn. Als sie und Josua vom Ball geflohen waren, hatte Josua den gwamperten Pfaffen niedergeschlagen. Der andere Füllige war dessen Bruder. Der stand nun vor ihr. Nervös. Suchend. Er schien nicht sprechen zu können.
Er starrte sie an.
Das ist doch …?
Hastig verließ er die Zelle. Der Vorhang hinter ihm fiel zu, er stand wieder im Gang der unzähligen Zellen. Hans war nicht zu sehen, so wie der Polizeirat es befohlen hatte. Weiter hinten war die zweite besetzte Zelle. Er durfte nicht wissen, wer dort einsaß. Er durfte eigentlich nicht einmal wissen, dass dort jemand einsaß. Das hatte Hans ihm deutlich gesagt. Scherte es ihn? Nun, es war eigentlich der Befehl des Irrenanstaltleiters Bernhard Gudden, und seines nun verhassten, ach so priesterlichen Bruders, der ihm die Stimme und die Autorität geraubt hatte. Fast monatlich war er hierhergereist, um … diesen Gefangenen zu … ja was?
Der Polizeirat stapfte zu der verhüllten Zelle hin. In der Mitte des Wegs drehte er sich um, ob Hans ihn vom oberen Bereich aus beobachtete. Doch die Fenster spiegelten sich und es wurde allmählich stockdunkel. Er ging weiter, den Blick auf das Ziel gerichtet. Vor der ummantelten Zelle blieb er stehen. Er wandte sich dem Vorhang zu und riss ihn auf. Vor ihm, etwa in der Mitte der Zelle stand ein ausgezehrter Junge. Er war ebenso in Weiß gekleidet wie das Mädchen, nur die Kapuze hatte er nicht aufgesetzt. Seine Arme waren haudig. Er mochte um die dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Er starrte durch den Polizeirat hindurch.
Der kramte erneut seinen Blätterberg hervor, selbst den Bleistift hatte er nun parat. Er knickte ein Blatt zurecht und kritzelte groß seine Frage darauf: »Wer bist du?«
Er hielt es ihm entgegen.
Doch der Junge starrte weiter. Regungslos.
Der Polizeirat hielt sein Blattl Papier höher. Er schlug mit dem Bleistift gegen die Gitterstäbe. Wieder fuchtelte er umher.
Er hielt mit einem Mal inne. Er schritt in die Zelle hinein. Er schritt hin zu diesem armen Geschöpf. Der Polizeirat studierte die Augen des Jungen. Sie waren tot. Sie waren verlassen von der Kraft des Sehens. Der Junge hatte kein Augenlicht. Und vielleicht war er auch taub, da er nicht auf seine Geräusche reagiert hatte. Welches armselige Leben musste er erleiden? Nicht nur durch seine Sinne von der Welt weggesperrt, auch durch seine Mitmenschen. Er wusste nicht warum, aber Traurigkeit überkam ihn wie ein dunkler Mantel, der ihm bei Regen übergestülpt wurde. Er wusste nicht warum, aber er machte seinen Bruder dafür verantwortlich. Er wusste nicht warum, aber er fiel auf die Knie, sie schmerzten, ob seines Gewichts. Er begann vor und für diese bemitleidenswerte Kreatur zu beten.
Der Polizeirat konnte nicht sprechen. Der Junge konnte nicht sehen, vielleicht auch nicht hören.
Wir sind Gepeinigte von Gott und vor Gott. Wie sind Gepeinigte meines Bruders. Er ist der Teufel und er möge in der Hölle schmoren!
»Gotteskraft«, murmelte der Junge. »Gotteskraft.«
Doch der Polizeirat war zu sehr in sich gekehrt, er vernahm die Worte nicht. Als er sein Gebet beendet hatte, bekreuzigte er sich, er nickte und verließ die Zelle. Er schlurfte zurück, weiter in sich gekehrt.
»Sie ist von einer anderen Welt«, hatte sein Bruder damals am leeren Sarg des verdunsteten Opfers gesagt. Der Polizeirat war nicht dumm. Er konnte eins und eins zusammenzählen.
Er hatte Mias Zelle erreicht. Er öffnete die Zellentür wieder. Noch immer kauerte sie in der Bettecke. Behäbig setzte er sich zu ihr aufs Bett. Sie war verängstigt und eingeschüchtert. Ihr war kalt. Sie war sprachlos. Wie er, doch er hatte nun Mut gefasst. Er schrieb auf ein Blatt: »Ich weiß, du bist aus einer anderen Welt.«
Erschrocken riss sie ihre Augen auf und verkrümelte sich noch mehr in das Betteck. Sie hoffte, die Bettdecke schützte sie.
Er spielte mit seiner verhunzten Zunge zwischen seinen Zähnen. Langsam streichelte er mit seiner rechten Hand ihr Bein, das sich unter der dünnen Decke formte. Er versuchte an ihrem Haar zu riechen, an ihrem Gesicht, ihre Hand. Wie weich sie war, wie natürlich, obwohl sie ohne Zweifel mit ihren struppigen kurzen Haaren durchaus männlich wirkte.
»Geh weg!«, schrie sie.
Es waren ihre ersten Worte. Doch der Polizeirat ließ nicht ab, weder mit seinem Handeln noch mit seiner Mimik. Was könnte er ihr nicht alles erzählen. Von den Demütigungen, die er hat ertragen müssen. Von seinem Bruder oder dem König. Der Diebstahl von Beweisen von diesem Kerl, der auf der Wache aufgekreuzt und angeblich der Leibarzt des Königs war. Von den Blicken der Menschen auf dem Ball, düpiert von ihr und dem Jungen, dessen Steckbriefe er wieder abnehmen musste. Der Jüngling, der Sohn des Beweisstehlers, stand unter dem Schutz Seiner arschlöchigen Majestät. Der Raub seiner Stimme. Die Geheimniskrämerei. Wäre es da nicht allzu gerecht …? Und sie hatte doch nichts zu verlieren. Sie lag noch mehr getreten am Boden als er.
»Wann wird Seine Majestät zurück sein?«
»Das ist nicht bekannt. Nehmt den offiziellen Weg, wenn Ihr eine unwahrscheinliche Audienz wollt.«
Die Klappe fiel nach unten und Hubertus von Müller wandte sich wieder zurück in Richtung Straße.
Unwahrscheinliche Audienz. Du wenn wüsstest ...
Es war kalt und die ersten Blätter an den Münchner Bäumen bunt geworden. Er unterbrach das stetige Kreiseln des Hutes in seinen Händen und setzte ihn auf. Vielleicht sollte er zum Palais Montgelas sich begeben, zu Freiherr von Schrenck. Schließlich waren sowohl er, als auch Hubertus Altmitglieder der Corps Palatia.
»Was wollte der Herr?«, fragte Luitpold, einer der jüngeren Brüder des Königs, den Wachmann.
»Er wollte Seine Majestät sprechen. Mehr sagte er nicht.«
»Sieh an.«
Luitpold beobachtete durch ein kleines Fenster den Bittsteller, der gerade die Straßenseite wechselte. Schon öfters war ihm der junge Mann aufgefallen. Er mochte Mitte zwanzig sein und damit fünfzehn Jahre jünger als Luitpold. Stets adrett und gscheit gekleidet, die dunklen Haare anständig zur Seite gekämmt, introvertiert. Auf dem Ball hatte er ihn zusammen mit Karl Freiherr von Schrenck oben auf der Galerie gesehen. Er war in der Corps Palatia München, obwohl er kein Student mehr war und doch war er letztens im früheren Stammhaus der abtrünnigen Alemannen gesehen worden.
Hans hörte weg. Wie der Polizeirat sie bedrängte. Hans wollte das nicht zulassen. Er wollte abhin zu ihr, sich um sie sorgen, sie beschützen, wie es seine Pflicht war. Doch was tun gegen einen Polizeirat?
Nichts.
Stattdessen starrte er auf die schweren Vorhänge, die das Innere der Zelle und den Übergriff verhüllten. Doch die Decke der Zelle war nicht verhüllt. Er konnte ihre Schatten im Lichtschein an der Decke und der Wand sehen. Er konnte seine Begierde sehen. Und ihre Abwehr. Er schluchzte.
Der Polizeirat war Mia ganz nah. Sein Augenschein gierig, das Herz pochend, aus seinem Maul tropfte Speichel. Er schwitzte. Neben ihm bewegte sich etwas! Er konnte es nicht genau erkennen, und es interessierte ihn in diesem Moment auch nicht, zu geil war er.
Plötzlich durchfuhr ihn vom Hintern her bis oben hinein in den Kopf ein kreischender Schmerz. Er versuchte zu schreien, doch nur ein Krächzen verließ seine errötete Kehle. Er drehte sich um, doch es hatte sich festgebissen. Er versuchte danach zu greifen, seinen Hinterteil zu erreichen, doch er war zu fett, zu mollig, als dass er mit der Hand hinter sich kam. Er war wie eine Hund, der seinen Schwanz fangen wollte. Dann ließ das Ding los und rannte davon.
Hans spähte durch die Scheibe nach unten.
Was zur Hölle ist das? Ein Hund? Eine Katze? Eine Ratte? Ein … Hirsch … ganz klein? Ein Karnickel?
Hans war verwirrt, er suchte in seinem Kopf nach dem passenden Tier und doch fand er nichts!
Das Wesen verschwand unten im Eingangsbereich.
Der Polizeirat floh ebenso aus der Zelle, greinend, seine Hose am Hintern blutrot zerfleddert, sein Maul weit aufgerissen, aber ein Schrei … ein richtiger Schrei war noch immer nicht zu hören. Hans packte ein Messer und ging nach unten zum Eingang, der verschlossen sein musste. Das Vieh schien gefährlich und widerwärtig und doch war er insgeheim dankbar.
Vielleicht war das, was es mit voller Inbrunst tut ein Zeichen von inbrünstiger toller Wut.
Doch unten angekommen, war es verschwunden. Weg! Es war einfach … weg! Ein Fensterchen war geöffnet und sofort war ihm alles klar. Der Polizeirat gaffte ihn mit großen Augen an, hilfesuchend, flehend gar, eine Hand am leidenden Hintern! Wortlos ließ Hans ihn stehen. Er ging an ihm vorbei und sperrte die Zelle wieder zu. Die verängstigte Mia ignorierte er so gut er konnte.
Was sollte er auch fragen? Was sollte er auch sagen? Schließlich kehrte er zurück nach oben auf seinem Beobachtungsstand und behielt die Halle, die nun still und friedlich vor ihm lag, im Auge. Der Polizeirat interessierte ihn nicht.
Der sollte grad verschwinden!
Und tatsächlich verschwand der Polizeirat nach draußen. Schleunigst stieg er in sein Boot und tat sich schwer, sich zu setzen.
»Rudere! Los, rudere!«
Zumindest hatte er genug gesehen um gegen seinen Bruder vorzugehen. Wenn er zudem herausfinden würde, wer dieser dürre und vernachlässigte Junge in der Anstalt war, würde er es ihm endgültig heimzahlen. Er starrte noch lange auf die Insel. Schlicht und doch imposant stand sie da, die Anstalt mit den hohen Fenstern, umgeben von anderen kleineren Bauwerken aus früheren Zeiten, als es noch ein Kloster war. Daneben die Kapelle St. Maria, noch weiter links befanden sich die kleine Krautinsel und Frauenchiemsee. Er verschränkte seine Arme, frisch war es geworden. Der Kerl, der ruderte, schien anderer Meinung.
An ihrer Nussschale vorbei dümpelte eine leere Flasche.
Langsam floss die Pfütze zusammen und baute sich auf. Sehr langsam. Der Bulb wollte Kraft sparen. Er wusste, er würde sie brauchen. Fünf kleine Metallstücke suchten sich ihren Platz auf dem Rücken. In der Zeit, in der er sich gesammelt hatte, war der Polizeirat in das Gebäude gegangen, drinnen gewesen und hatte die Insel überraschend schnell wieder verlassen. Aber das scherte den Bulb nicht, vielmehr hatte er sich über die Wasserqualität des Chiemsees ausgelassen. Der hatte ihm nur wenig Energie schenken können. Nun, nicht jedes Gewässer konnte so jung und zart sein wie das Bacherl in Klatschertnass samt Würmsee, vor allem, wenn man es regelmäßig zart goss.
Hans hatte inzwischen das Asylum verlassen und sich in sein kleines Haus unweit davon zurückgezogenen. Ein Licht brannte darin, der Kamin qualmte bereits, er würde sich ein Abendmahl bereiten und nach dem Erlebten einen Selbstgebrannten gönnen.
Der Bulb war wieder zusammengesetzt. Er griff sich die Kugel, die momentan nur mehr schwere Last als Hilfe war und verschaffte sich Zutritt in die gespenstischen Gemäuer.
Die Treppen waren mühevoll, doch wiesen sie mittels Schilder hin auf das Hauptzimmer im ersten Stock. Oben angekommen, inspizierte er das karge Kammerl. Unzählige Papiere, dazu schwere Vorhänge, ein Schreibklavier und ein Feldstecher lagen angehäufelt herum. Der letzte Rest Tageslicht ritzte durch die Fenster, doch es reichte, um Mias Kleidung zu finden. Alles war in einer Kommode deponiert.
Er kraxelte auf den Tisch und überblickte die Halle, die nicht wie ein früheres Kloster aussah. Dort unten saß sie. Weiter hinten gab es noch einen Gefangenen. Wer war er? Was bezweckten die Menschen, die das veranlasst hatten?
Kurz darauf stand er unten vor Mias verschlossenen Zellentür. Er überlegte zu zerfließen, um in ihrer Zelle sich wiederaufzubauen. Doch zum einen wollte er das Geheimnis für sich behalten, zum anderen benötigte er die Kraft vielleicht für später.
»Begrüßungsbulb. Pfiati Mia!«
Das Nennen ihres Namens durchfuhr Mia wie ein Dolchstoß. Nur wenige hier kannten ihren Namen. War es …
»Ludwig?«
»Lachbulb! Ludwig? Welcher? Der Senior oder der Junior?«
»Wer bist du?«
Sie richtete sich auf und zog die Decke beiseite.
»Vorstellbulb! Ich bin der Wächter des Elements Wasser. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Frieden herrscht und das Wasser rein bleibt.«
»Das Wasser … rein bleibt? Bist du ein Tropfen?«
Er trat einen Schritt auf die Gitterstäbe zu.
»Erklärbulb. Klatschertnass ist in Gefahr.«
»In Gefahr? Wieso?«
»Die Urgewalt!«
»Die Urgewalt? Sie war doch … still. Ist es schlimm?«
»Steigerungsbulb. Nein, es ist schlimmer. Es ist schlimmer, seit du weg bist.«
»Ich gehöre nicht dorthin.«
»Fingerzeigbulb. Du hast den Verbotenen Berg bestiegen und die Elemente gegen uns aufgebracht!«
»Der Berg ist nur für Tropfen verboten! Ich bin kein Tropfen. Ich gehöre hierher!«
»Schwelgbulb. Klatschertnass ist deine Heimat! Diese Wälder und Wiesn, diese schöne Stadt, hinten der Gmeindestadl, daneben das Haus des Giftmischers, dein Zuhause, Mia, dein Zuhause!« Er breitete die Arme weit aus. »Dein Theater. Die Dult!«
Mia kannte diese Worte, sie erinnerte sich. Nur der Zusatz war ihr unbekannt.
»Auch, wenn mir hier viel Böses widerfahren ist, so gehöre ich doch hierher.«
»Süßholzraspelbulb. Mia, komm zurück. Wir brauchen dich! Der Sinnierer hatte recht mit seinen Visionen! Du hast dafür gesorgt, dass all die Dekadenmonate keine Katastrophe geschehen ist. Ich hole dich hier raus und du kehrst nach Klatschertnass zurück.«
»Ob ich oben oder unten gefangen bin, was ist der Unterschied?«
»Widerspruchsbulb. Du bist doch nicht gefangen! Du bist frei, aber eben nur in Klatschertnass! Du bist unser Schutz! Der Schutz der Tropfen und der anderen Elemente!«
»Ich kehre nicht zurück.«
Er rüttelte plötzlich an den Stäben: »Bedrängnisbulb! Du lässt lieber all die Scham und Anzüglichkeiten über dich ergehen, als dass du zurückkehrst, wo du gebraucht wirst?«
»Anzüglichkeiten wie … über das Bein streicheln?«
Der Bulb zuckte kurz, dann ließ er das Gitter los. Mia zerlegte ihn mit ihrem Blick. Seine verbuckelte Kleidung, das eklige Grün, seine Art, seine Maske, sein Ich.
»Wissensbulb. Was weißt du schon?«, knirschte er.
»Was ist mit der Hemadlenzi passiert? Warst du das? War ihr Opfer vielleicht der Grund, warum kein Unglück passiert ist und nicht meine Gegenwart?«
Sie ist definitiv keiner dieser Trotteltropfen.
»Hier!« Er beförderte eine goldene Kugel hervor.
»Wo hast du die her?«, jagte sie zur Zellentür.
»Du hast sie verloren! Auf dem Ball! Wie die anderen! Keine einzige hast du mehr! Aber du musst sie wieder zusammenbringen. Sonst geht Klatschertnass unter, so wie einst, als es noch Waschertnass geheißen hat. Willst du den Tod … des Giftmischers und der Fressfotzn, der Drexxhexx und des Musihaberers, des Sinnierers und des …«
»Oberstadtfracks? So tot wie der Oliaglehrer?«
Nein, wahrlich kein Trotteltropfen. Er aber war ein Trotteltropfen.
Der Bulb schnaubte. Doch er fuhr fort: »Warnbulb! Siehst du das Feuer, das über der Kugel liegt? Wie es mehr und mehr lodert? Weißt du, wo das enden kann, wenn das Innerste aller Kugeln entgleitet, weil sie nicht mehr zusammen sind? Wenn die Kugel des Wassers eine Flut erschafft, wenn die Kugel des Lufts einen Sturm entfacht, wenn die Kugel der Erde diese Beben lässt? Und wenn die Kugel des Feuers zur Hölle wird? Und mit der Person, die das ermöglicht hat?«
Mia wurde schlecht und schwindlig. Ihr Kopf begann zu schmerzen, ihr Bauch zu randalieren. Sie tapste zurück zu ihrem Bett und legte sich hin. Der Giftmischer hatte ihr mit den goldenen Kugeln das Wichtigste anvertraut, was die Elemente hatten. Sie sollte es mit nach oben nehmen, um es weg von der Urgewalt zu schaffen.
»Der Giftmischer hat sie dir gegeben, oder? Wo hatte er sie her?«
»Geh. Bitte geh. Und komm nicht wieder.«
Sie hoffte auf Ludwig oder Josua. Was ging sie die alte Welt an?
»Bist du zusammen mit den vier Elementekugeln … das fünfte Element? Bist du es? Ich muss es wissen! Oder bist du nur ein Bote, so wie andere Melder Boten sind?«
»Lass mich in Ruhe! Verschwinde!«, schrie sie.
Der Bulb aber, der Bulb, er wusste, was zu tun war, doch es würde einige Zeit dauern. Er steckte die Kugel wieder ein. Beschwörend hob er die Arme.
»Äther, oh, Äther!«
Karl von Schrenck saß noch immer hinter seinem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer im Palais Montgelas. Der Brief lag zerknittert vor ihm.
Er war selten wankelmütig, seine Entscheidungen waren rational und logisch. Doch momentan fühlte er sich wie der König. In ihm gärte die innere Unruhe und Unentschlossenheit.
Die Person aus dem Brief war an einem sicheren Ort. Also hatte er Zeit.
Die Person konnte jemand anders sein. Das hätte ebenso Zeit.
Doch da war noch die Neugierde, ob sie es wirklich war. Zurückgekehrt aus dem sagenumwobenen Reich unter dem See. Er wollte sie damals töten lassen. Verurteilen. Hinrichten. Verbrennen. Vielleicht ein Unfall.
Die ganze Familie. Und damit meinte er … die ganze Familie.
Ein Fehler war damals geschehen. Ein grausamer Fehler.
Er musste warten, bis der König von seinen Reisen zurückkehren würde. Den Leiter der Anstalt würde er nicht informieren, aber den Erzbischof, den wahren Schuldigen, der nicht gegen das Fünfte Gebot verstoßen wollte und nun die Last der Folgen zu tragen haben würde. Und nur er!
»Mit Verlaub, Seine Majestät, der Kronprinz, sind ein sehr schlechter Schüler.«
»Muss es nicht heißen, »ist ein sehr schlechter Schüler«, mein verehrter Graf?«
»… der zudem nicht weiß, wo seine Grenzen sind«, fuhr Theodor Reichsgraf Basselet von La Rosée ungerührt fort und bewegte sich ein paar Schritte durch die Kleine Bibliothek. In seinen Händen hielt er die Handschuhe, passend zur Militäruniform, die er stets mit allerlei Auszeichnungen stolz trug. Im kommenden November würde er seinen 62. Geburtstag feiern.
Ludwig wandte sich an seinem Schreibtisch wieder dem Buch über Militärgeschichte zu. Er war frustriert.
»Mein Graf! Dieser Unsinn über Kriege, Waffen und Hinterhältigkeit sind mühsam.«
»Es muss heißen …« Der Graf bemerkte die Grammatikfalle und schwieg. Er tippte lediglich wieder auf das Buch.
»Wie kann man nur eine Offizierslaufbahn einschlagen, mit dem Ziel, Menschen umzubringen, mein Graf?«
Basselet blieb betont kühl.
»Es ist notwendig, das Land zu verteidigen, wenn die Barbaren kommen.«
»Barbaren? Habt Ihr das Buch hier jemals gelesen? Es sollte mit Worten gekämpft werden, nicht mit Waffen. Oder sind Franzosen und Preußen Barbaren?«
»Diplomatie sollte stets an erster Stelle stehen. Aber Ihr werdet merken, wenn Ihr selbst in Amt und Würden seid, dass es nicht einfach ist.«
»Unterstellt Ihr mir bereits jetzt einen Krieg? Eine Schuld am Massakrieren unschuldiger Soldaten, deren noch ungeborene Kinder ohne Vater und mit weinender Mutter aufwachsen müssen?«
»Natürlich nicht. Ich wünsche Eurer Regentschaft nie, dass Krieg herrschen wird, aber die Geschichte lehrt uns …«
»…, dass sie vergangen ist und der Frieden eine Chance verdient hat.«
»Krieg sollte die letzte Möglichkeit sein, keine Frage. Aber es muss Leute geben, die ihn führen können.«
Ludwig stand auf, hantierte an seiner Hose, öffnete sie und ließ sie fallen.
»Was …? Unterlasst das!«
Dann rutschte noch die Unterhose herab. Der Graf starrte verdutzt auf das Gemächt des Kronprinzen. Ludwig drehte sich in Trippelschritten um und beugte sich nach vorne.
»Seht Ihr den roten Arsch, mein lieber Graf? Das ist Krieg, weil Diplomatie offensichtlich nicht die Stärke meines Alten ist.«
»Das … die Hose hoch! Die Hose hoch! Und es heißt nicht Ar… Respekt! Ihr solltet Respekt vor Eurem Vater haben!«
»Respekt gibt es nicht in eine Richtung.« Ludwig zog seine Hosen wieder nach oben. »Respekt ist ein steter stiller Krieg.«