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Märchenerkenntnisse

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Der Schlund des Brunnens,

die Kugel golden,

Kindheit, Kindheit,

bringst du ins Rollen.

Sie klatscht ab ins stille Nass,

Seelenbild, Seelenverlust!

Einst im August, einst im August.

Königin Marie von Bayern geisterte am frühen Nachmittag ruhelos durch das Schloss Nymphenburg. In ihrer Hand kreiste die goldene Kugel, die das Mädchen verloren hatte, als sie zusammengestoßen waren. Ihr Gesicht ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie wunderte sich. Die Kugel war feucht. Sie wusste nicht wieso. Sie wusste nicht, wie das möglich war.

Marie betrat den im samtenen Grün gehaltenen, früheren Schlafraum der Königin Carolin, dem Geburtsort Ludwigs. Vielleicht nicht nur.

Gegenüber den lichtfrohen Fenstern befand sich die gerundete Alkovennische, in ihr ein Doppelbett. Seit jeher standen einige Kindermöbel im Raum, was ihn zum perfekten Kreißsaal gemacht hatte. Der Raum war ungewohnt hell, im Gegensatz zu damals. Sie dachte an jenen 24. August 1845 zurück, der Tag, der Abend, an dem ihr Leid einen neuen Höhepunkt erreicht hatte. Fragmente blitzten in ihrem Kopf, ihre Erinnerung war voller Lücken. Doch viel Hässliches hatte er behalten. Die Geburt hatte sich endlos gezogen damals, die Wehen tagelang, der Aufenthalt ewige Stunden. Sie wusste damals natürlich, dass König Ludwig, ihr Schwiegervater, am folgenden Tag Geburtstag hatte und dass es der Tag des französischen Heiligen Ludwigs war.

Ihr Bauch war füllig gewesen, keine Frage, doch nicht einmal in ihren kühnsten Träumen wäre sie auf die Idee gekommen, dass es Zwillinge sein könnten, war sie doch noch nicht einmal zwanzig Jahre alt und wusste nicht, wie ein schwangerer Körper auszusehen hatte. In ihrer Familie hatte es nie Zwillinge gegeben. Aber vielleicht in der anderen. Vielleicht waren es nicht einmal Zwillinge. Vielleicht hatte es einen Austausch gegeben.

Die Entstehung, die Zeugung war grauenhaft gewesen. Wie hatte sie nur so tief sinken können?

Wie nur, wieso nur hast du das alles getan?

Ihr Mann hatte es befohlen, gegen den Tratsch, für das Land Bayern. Sie hatte lediglich auf eine eilende Schwangerschaft und eine schnelle Geburt gehofft mit einem gesunden Nachwuchs am Ende, im Idealfall eines Mädchens. Der Wunsch ihres Mannes nach einem Sohn war ihr gleich, seine Tobsuchtsanfälle ebenso wie die Tradition. Ihr Wunsch war eine regierende bayerische Königin. Das Wort hatte sie ihrem Mann, dem nun amtierenden König, vor der Geburt abgerungen. Das erstgeborene Kind würde sein Nachfolger sein, egal ob männlich oder weiblich. Sie hatte sein Wort! Sie hatte es!

Er hatte gejammert, gekämpft, auf alte Schriften verwiesen, die Lex Salica, auf die Intelligenz und Vorherrschaft der Männer, bin hin zu der Bibel als ersten Menschen gar, auf seine eigene Welt und doch … und doch war es kein Gesetz, dass sich nicht auch nach der Geburt ändern ließe … selbst heute noch.

Sie durchdrang ihr Spiegelbild im Fenster. Draußen hatte es zu regnen begonnen.

Immer wieder wurde ihr bestätigt, wie gut sie noch aussah. Sie trug die gleiche Frisur wie damals, einen Mittelscheitel und die Haare lockig zur Seite. Sie war adrett. So hatte sie Franz Hanfstaengel letztes Jahr fotografiert, einer wundervollen neuen Technik des Abbilds. Sie hatte vor etwa zehn Jahren den Watzmann bestiegen, in ihrer eigenen entworfenen Bergsteigerkleidung, sie besaß Talent dafür. Sie wollte als erste Frau die Zugspitze angreifen, über dreitausend Meter kommen, doch ihr Mann Maximilian hatte es ihr untersagt.

Dieser Berg ist Frauen verboten.

Es ging nicht darum, dass sie sich verletzen könnte oder gar der Tod sie ereilen würde. Die Angst ihres Mannes galt dem zunehmenden Machteinfluss der Frau. Nach der Erniedrigung und dem Schweigegelübde war es doch das Mindeste, was sie verlangen konnte. Doch ausgesprochene Verbote bedeuteten Macht.

Sie strich über die Möbel. Über die Kommode. Über den verschnörkelten Tisch an der Wand.

Beharrlich hatte er an der Thronfolgeregelung festgehalten, bis heute. Keine weibliche regierende Königin, niemals … Damals, ja damals hatte er sich zu der Aussage pro einer Königin hinreißen lassen … natürlich in einer schwachen, versoffenen Stunde im Rausch der kommenden Generation.

Um so einen Suff und dessen Folgen für Familie und Staat zukünftig ein für alle Mal auszuschließen, hatte ihr Mann, der schlanke und unscheinbare, der entscheidungsschwankende und blasse Maximilian II., wohl zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Er hatte sie in jener Nacht im August benebeln lassen, sie unter Medikamente gesetzt, ihre Gutgläubigkeit davor und danach missbraucht und ihr vielleicht eine erstgeborene Tochter genommen, um damit sein Versprechen nicht einlösen zu müssen.

Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Und das Mädchen, das sie umgerannt hatte, das vielleicht … vielleicht … ihr eigen Fleisch und Blut … er hatte sie …

Zweiundzwanzig Jahre Ehe mit einem … Monster, das nie an ihr interessiert war. Weder an ihrem Wissen und Gespräch, noch an ihrem Charakter und Visionen, noch an ihrem Körper und Beischlaf, noch an ihren Wünschen und Forderungen. Sie hätte die Zeichen erkennen müssen. Eine gemeinsame Hochzeitsnacht hatte es nicht gegeben. Sechzehn Jahre war sie damals gewesen, er hingegen fast doppelt so alt. Die Verlobung in Berlin 1842 hatten sie verschieben müssen, sie war an Masern erkrankt. Doch das war nicht alles, was sie bis zur Hochzeit erleiden musste.

Sie hatte den Raum verlassen, hinaus, hinaus aus dieser Geburtshölle, aus dieser Kammer der Kindsentführung. Die Tür hinter ihr schlug zu. Wirr rannte sie den Flur entlang, die feuchte Kugel in der Hand, vorbei an einem Zimmer. Abrupt blieb sie stehen.

Dieses Zimmer, diese Kammer, alle Zeit verschlossen, auf Geheiß des Königs und Wüstlings Maximilian. Die Tür war bereits verschlossen auf Geheiß des Kronprinzen und Wüstlings Maximilian. Sie trat zu. Sie trat einfach mit voller Wucht zu. Das Holz um das Schloss herum splitterte, die Tür sprang auf. Sie blieb im Türstock stehen. Sie konnte kaum etwas sehen. In ihren Taschen fingerte sie nach einem Taschentuch. Nasse Augen, feuchtkalte Hände, benetzte Kugel. Sie fand kein Tuch. Mit dem Ärmel befreite sie ihre Augen vom Tränenfluss. Der Blick blieb trübe. In ihren Gedanken formte sich die Einrichtung. Es hätte ihr Zimmer sein können. Die Kinderstube eines Mädchens. Wie ihr eigenes, damals im Berliner Stadtschloss.

Sie schritt hinein. Vorsichtig. Bedächtig. Sie legte die Kugel auf eine Kommode. In ihren Händen spielte sie mit ihrer Brosche in der Gestalt eines Engels. Ein Hochzeitsgeschenk. Sein Hochzeitsgeschenk. Es war ein ungewöhnlicher Beweis der Wärme ihres Mannes ihr gegenüber.

Wärme. Nicht Liebe. Einst hatte sie Liebe empfunden für ihn. Doch das war lange vorbei. Spätestens mit der Zeugung des ersten Nachwuchses.

Übelkeit erfasste sie. Sie suchte nicht nach Halt, sie ließ sich einfach fallen. Die Welt verschwommen, ihre Not unbeschreiblich, ihr Weltbild zersplittert, vegetierte sie auf dem Boden dahin. Allmählich begann sie sich zu erinnern. Sie durchbrach die Mauer des Vergessens.

Ja, ja! Das hier war einst der Raum der Geschenke, der Dankbarkeit aus dem Volk und dem Adel, der Kirche und aller Wohlgesonnenen und Arschkriecher.

Sie setzte sich auf. Noch einmal der Ärmel. Erst jetzt sah sie es, begriff es. Neben ihr, hinter ihr, vor ihr … das Schaukelpferd und die Bausteine, ein Reifen, eine Kugelbahn, Kleidung, Bilder und Bücher … alles stand in diesem Zimmer, mit Schleifchen und Blümchen, auf Tischen und Stühlen … wie vor achtzehn Jahren.

Von Schwäche gezeichnet zu laufen, kroch sie hinter zur Ecke nahe der Fenster. Sie wischte sich erneut die Augen und …

Ein Gestell in Blau stand da, aus Holz, hübsch verziert mit einem dunkelroten, detailreich bestickten Vorhang. Ein Theater! Ein Puppentheater! An der Seite waren Knäufe angebracht, an denen vier Marionetten aufgehängt werden konnten.

Sie waren verwaist.

Auf der anderen Seite hing ein Buch mit einer Schlaufe an einem Nagel. Sie nahm es ab und begann darin zu blättern.

Ein Märchenbuch.

Daneben lag verheddert doch noch eine Marionette.

Es war eine Prinzessin.

Das Buch war »Der Froschkönig«.

Sie blätterte darin, doch schnell war sie gefangen. Sie begann das Märchen zu lesen.

Märchenkönigin.

Franz Xaver Gietls Frau war außer Haus. Beide hatten seit dem gestrigen Abend kein Wort mehr miteinander gesprochen. Dem Doktor war es recht. Er fühlte sich mies und unwohl, die Vergangenheit hatte die Gegenwart erreicht. Die Geburt damals hatte sich endlos gezogen, ihre Wehen tagelang, der Aufenthalt im grünen Salon dauerte ewige Stunden. An das, was davor passiert war, wollte er gar nicht denken, obwohl es ihn auch heute noch medizinisch gesehen mit Stolz erfüllte. Er hatte ihr Morphin verabreicht an jenem Abend, ein alchemistisches Meisterstück aus der Unterwelt. Die Geburt … die Entstehung … sein Kopf drohte zu zerplatzen.

Triefend vor Selbstmitleid stürzte er in das Schlafzimmer, ächzend versuchte er sich an einem Bettpfosten festzuhalten, doch er rutschte ab und fiel hart zu Boden. Er wimmerte und zerfiel in einer Schmach seiner Würde, in eine Verachtung seiner Selbst, in eine Kasteiung seiner nicht nur einmal verkauften Seele. Tränen klatschten auf dem Boden, er war nass geschwitzt, Fetzen der Zeugungen, Fetzen der Geburten, ihr Gesicht vor dem seinen hämmerten durch seinen Kopf. Wie tief nur war er gesunken, wie tief nur, Geld und Ehre, Ehre und Geld, käuflich zu erwerben wie ein geschlachtetes Schwein auf dem Viktualienmarkt. Käuflich, obwohl er ein Schweigegelübde abgelegt hatte. Wäre das auch käuflich so wie sein Körper? War er nicht auch eine Badhur? Eine männliche Dirn? Er kroch zum Schrank und zerrte die Kiste hervor, diese unsägliche Kiste mit den verfluchten Utensilien. Die Geburtsurkunde, die beiden flauschigen weißen Tücher mit dem Wappen des Königshauses, die goldene Kugel seiner … doch die … Kiste war leer. Ausgeräubert. Gediebstahlt. Er tat seine Hand hinein, so als sei der Inhalt unsichtbar, aber durchaus zu fühlen. Und doch … regierte das Nichts. Ein neuer Schwall Hoffnungslosigkeit erfasste das Innerste des Doktors, er blickte um sich herum, als wären Tücher und Urkunden nur ausgebüxt.

Sie hat es. Sie hatte es schließlich erwähnt!

Er lehnte am Bett, er flennte untröstlich. Wie sollte es nur weitergehen? Selbst die goldene Kugel war verschwunden. Mit ihr wollte er fliehen, eine neues Leben beginnen, zu Geld machen. Seine Nerven brachen endgültig zusammen. Seine Herzkammern flimmerten.

Die Zeugungen. Die Geburten. Die Vertuschungen. Und das Verpfuschen seines Lebens.

Seine Frau hatte alles, sie hatte es doch gesagt. Sie war die Diebin, die Ehebrecherin, die Teufelin.

Der Frosch wollte erlöst werden. Die Befreiung geschah dadurch, dass er an die Wand geklatscht wurde. Sein Quaken war der Schrei ihres unbekannten Kindes. Der Brunnen als Geburtskanal, die Kugel als geballte Weiblichkeit. Der Frosch aus dem Brunnen musste sie sein.

Maries Gedanken strömten wild und wirr, sie hantierten und krepierten, sie verknoteten und lösten sich in Luft auf. Die goldene Kugel in der Hand, sie hatte alles ins Rollen gebracht. Das Symbol darauf, sie hatte nachgesehen, war ein Ikosaeder. Er stand für das Wasser. Brunnenwasser. Vielleicht war die Kugel deswegen feucht. Es war ihr unheimlich und doch war es so passend. Der Froschkönig. Zu gerne würde sie ihren Mann an die Wand klatschen, nur um dafür eine Tochter zu erhalten. Sei kein Frosch, König.

Gedankendeprimiert legte sie das Märchenbuch weg.

Wer nur, wer nur hatte zwei Theater geschenkt? Zwei?

Sie forschte hinter dem blauen Theater. Und dort lagen sie, weitere Marionetten. Ein Kaschper, ein König und ein Teufel. Sie war Kaschper und Prinzessin in einem, ihr Mann der König und der Teufel.

Wo waren die Marionetten des roten Theaters?

Baumelten sie irgendwo? Waren sie entfernt worden, als ihre Tochter entfernt wurde? Wusste jemand, dass sie eigentlich Zwillinge erwartete und … die Erstgeborene abhanden gekommen war?

Augenblicklich entfernte sie sich, weg, nur weg! Eine unsichtbare Kraft zog sie raus aus dem Zimmer, fort von diesem unheilvollen Ort, doch die Vergangenheit ließ sie nicht los. Denn der nächste Raum verflossener Tage lauerte sogleich zu ihrer linken.

Sie wollte weiterlaufen, weiter rennen gar, doch eine unnachgiebige Hand hatte sie gepackt und manisch in das Zimmer gezogen.

Dort stand noch immer das Bett. Unschuldig weiß das Holz, das Laken und die Wand, an der es stand. Auf den weißen Kommoden residierten Porzellanschwäne. Der Teppichboden grässlich braun, die dunklen Samtvorhänge so schwer wie das Erlebte, das in Ewigkeit in diesem Raum schwebte. Es war das Unvorstellbare, etwas, das nicht sein durfte und doch geschehen war. Und es war weiß. Weiß!

Der Zorn auf ihren Mann stieg von Minute zu Minute an, die Wut im Bauch, der einst ihre Kinder barg, grantelte zornig, als würde er sogleich bersten.

In ihr wühlten sich die Erinnerungen nach oben, sie stachen und stocherten, sie bohrten und manschten sich durch ihre positiven Verteidigungsgedanken und klarten das fast verdrängte Erinnerte jener Tage zu einem scharfen Bild auf die Gedankenleinwand.

Wie er auf ihr lag.

Wie er in ihr war.

Die hohe Stirn vor ihr, auf die sie starrte.

Um nicht seine Augen zu sehen.

Wie er stank.

Wie er röchelte.

Wie er zitterte.

Wie die Angst ihn bestimmte.

Wie er scheiterte.

Die hohe Stirn vor ihr, weil er nach unten starrte.

Wie er sich entschuldigte.

Immer wieder.

Wie er jauchzte.

Wie nervös er war.

Wie er sich bewegte.

Wie ungelenk er sich bewegte.

Wie er sich erleichterte.

Wie er nicht scheiterte.

Die hohe Stirn vor ihr, weil er unten alles begaffen wollte.

Wie er wortlos und pressant verschwand.

Die Hosen noch nicht einmal anständig verschlossen.

Die Socken noch nicht einmal sauber nach oben gezogen.

Die Schnürsenkel ungezähmt.

Wie sie zurückblieb. Vaterlandsmissbraucht.

Unten herum nackt. Drumherum im Scham ein letzter weißer Rest. Sonst nichts.

Wie alles von ihr abfiel.

Wie sie weinte. Bayernerwartend.

Wie sie hoffte, dass es geklappt hatte.

Frierend lag sie da. Um sie herum das Licht.

Weiß. Alles war weiß. Unten an ihr. Über ihr. Schwanenweiß. Schmutz in Weiß.

Es stand Essen auf dem Fußboden. Etwas Brot, eine erkaltete Gemüsesuppe und ein Krug Wasser. Mia raffte sich auf. Sie war zum Elend geworden. Sollte das ewig so weitergehen? War das nun ihr Lebensinhalt? Dieser Käfig? Wieso nur? Wieso? Und wie wollte sie ihr Leben entdecken? Die Oberwelt? Der Giftmischer hatte sie doch gewarnt! Doch sie … ihr Sturkopf! Ihre Wissensgier! Die Leere ihrer Herkunft. Und nun das. Zu gerne wäre sie an die Gitterstäbe gerannt und hätte geschrien und lamentiert, doch würde es nur Siloah hören. Sie schaute zu ihm hinüber. Er stand erneut mittig in seiner Zelle, bewegungslos, starr, kerzengerade, die knochendünnen Arme hängend.

»Siloah! Siloah! Hörst du mich?«

»Ich höre dich, Mia. Du warst lange still nach außen hin. Wie laut war es in dir?«

»Ich … hatte einen Alptraum. Danach habe ich den ganzen Tag verschlafen.«

»Was ist ein Alptraum? Und ein Tag?«

Mia verstummte. Sie hatte keine Lust auf Erklärungen. Sie sank wieder nieder auf den Boden. Sie löffelte die kalte Suppe und biss in das alte Brot. Wenigstens das Wasser war frisch. Sie erleichterte sich über dem Topf, der unter dem Bett stand und regelmäßig geleert wurde. Das Essen, das Bett, der Topf ekelten sie an.

Sie blieb müde und schlapp. Ihre Augen kämpften. Sie legte sich hin und stülpte die dünne Decke über ihren ausgezehrten Körper.

Wie lange war sie schon hier? Tage? Dekadentage gar?

Es ging ihr nicht gut.

Wie lange würde sie noch hier sein? Wann würde ihr Körper aufgeben und ihr einziges Leben beenden? Und danach?

Die Dult ist gekommen, die Kirmes, der Jahrmarkt ist wieder in der Stadt. Das Karussell! Die Schiffsschaukel, die Wurfbude, das Riesenrad gar! Es ist Nacht und doch lässt das grelle Leuchten diese zum Tag werden. Im Hintergrund intoniert die Jahrmarktsorgel »Heinzelmännchens Wachtparade«.

Sie vergrub ihr Gesicht im Kissen, sie wollte es nicht wahrhaben, erneut bahnte sich ein Wiedersehen an, die Dult, die Dult, es konnte nicht sein, es durfte nicht sein.

Es ging ihr nicht gut.

Mit schierer Wucht legte das Chaos los. Das Karussell begann sich zu drehen und zu rotieren, zu kreisen und zu karusselln, die Schiffsschaukel begann zu wippen und zu pendeln, zu hutschen und zu schaukeln, das Riesenrad begann rund zu laufen und zu winden, zu leiern und zu riesenradeln, in der Wurfbude begann es zu scheppern und zu schleudern, zu treffen und zu wurfbuden. Die Orgel begann zu erzürnen und zu rasen, zu toben und zu lieborgeln.

Es blitzte und blinkte, kleine bunte Birnchen im Tobsuchtsanfall des Leuchtens, die Musik lauter, als der Rappel des Lärms, aus dem Nichts trat zweidimensional eingeflacht der Oliaglehrer, wie einst damals in Starnberg, aber still und friedlich, furorabgewandt und wutnickelanfallslos, ragenruhig und hitzekalt. Er grinste, die Arme verschränkt und überheblich.

Etwas fiel plötzlich und unerwartet in der Wurfbude von oben herab und baumelte vor ihrer Nase knapp über der Theke.

»Die Marionetten …« Wie damals, dachte sich Mia in diesem Moment, dann die Erinnerungsfetzen an ihr Theater, mit all den Figuren, die mehr Freunde und Spielgesellen waren als stummes Holz. Wo sie die Fäden aufnahm, mit ihnen die Sprache und Bewegung, das Leben und das Tun.

Nur diese eine baumelte wie ein Erhängter vor ihr.

Der seltsame Knarz nickte, seine Worte hallten: »Sieh sie dir an!«

Er richtete das Licht. Sie war größer als die ihren, das Holz edel, der Glanz speckig.

Unruhig sondierte sie die Zelle. Da drüben ein kleiner Brunnen, in der Ferne winzige Lichter in den Fenstern der Stadt, einige Kamine rauchten trotz der Wärme, vielleicht kochten die braven Bürger auch nur. Niemand war zu sehen. Unsicherheit. Ihre Zelle war nicht mehr zu sehen, so wie die Halle nicht mehr.

Die Marionette … Ein grün gekleideter Kerl mit freundlichem Lächeln, roten Backen, einer zu großen Nase und grüner Zipfelmütz.

Der Kaschper!

»Eine, wenn du alle Dosen der ersten Pyramide abräumst. Zwei, wenn du zwei schaffst!«

Noch eine Marionette fiel von oben abher.

Sie war mollert, Sie trug eine hellblaue Uniform am Leib und eine Krone auf dem kargen Haupt. Ein Lächeln war unter dem buschigen Schnauzbart nicht zu finden.

Der König.

»Nummer drei!«

Dieses Mal fiel der Teufel abhin. Die Haut rot bemalt, die angekokelten Hörner fürchterlich verbogen, das Gwandl schwarz.

Der Oberstadtfrack.

Ihr erster Gedanke. Die Marionette sah ihm so ähnlich. Die schreiend bunten Anziehsachen, der Hut. Sein Blick. Ein anklagender Blick.

Was nur hatte das alles zu bedeuten?

Wieder sah sie sich um, sie suchte Antworten. Oder zumindest Halt. Sie wollte weglaufen und doch blieb sie … fasziniert stehen in den paar Quadratmetern ihrer morbiden veränderten Zelle.

Der vermeintliche Oliaglehrer fletschte breit seine verzogenen Zähne. Er hatte sich keck auf die Theke gesetzt. Er wirkte unecht. Und noch immer papierplatt.

»Was wäre eine Geschichte ohne eine Prinzessin, eine Königin gar?«, fragte er.

Wie damals. Es ist wie damals.

Im Hintergrund intonierte eine Jahrmarktsorgel »Heinzelmännchens Wachtparade«.

Es ging ihr nicht gut.

Eine weitere Marionette fiel herab und baumelte vor ihr. Mia betrachtete sie genau. Sie trug eine taillenhohe und enganliegende blaue Stoffhose mit großen Seitentaschen, darüber eine elfenbeinfarbene Bluse. Letztere war vorne kurz geschnitten und endete bündig kurz über dem Bauchnabel, war jedoch hinten am Rücken lang und fließend und reichte asymmetrisch bis kurz über die Kniekehlen. Als Verbindung zwischen der Bluse und der Hose schmiegte sich an ihre schmale Taille ein breiter und kognakbrauner, ebenfalls asymmetrischer, lederähnlicher Gürtel, der mit vielen glänzenden Schnallen und Ösen wie eine Art Korsett zusammengeschnürt war und ein Loch hatte, das ihren Bauchnabel kess zeigte. Die gleiche Farbe des Mieders war auch auf ihren knöchelhohen, derben Stiefeln und den fingerlosen, kurzen Handschuhen zu finden. Darüber trug sie einen stets offenen grauen Cardigan, der ihr fast bis zu den Kniekehlen reichte. Den Kopf schmückte hingegen ein elfenbeinfarbenes Tuch, das seitlich mit einem Knoten zusammengebunden war.

Das Gwandl, das sie sonst getragen hatte. Mit Stolz! Mit ihrer Einzigartigkeit.

Nur das Grinsen war hässlich. Es war verschoben und verschroben, vom Munderl abgewandt. Die Augen gärten und richteten.

Es war sie, die da hing.

Und die Marionetten glotzten sie an. Baumelten vor ihr. Fixierten sie. Ihr Grinsen war gräuslig und überheblich.

Ein lautes, gehässiges Lachen erschallte. Es war der Kerl auf der Theke, der vermeintliche Oliaglehrer. Er hüpfte auf den Boden, er krümmte sich vor Lachen, er bog sich, oh, war es laut und gehässig, verhasst und widerwärtig, bissig und schadenfroh, durchdringend und inbrünstig, hach, eine Ode ans Lachen und Freuen, an den Frohsinn und den Humor. Um ihn herum hantierten die Reitschulen schneller und intensiver, Funken begannen zu sprühen, Rauch stieg auf, mehr und mehr, Schraubmuttern lockerten sich, Bolzen ächzten, es quietschte und knarzte, bis ihnen alles plötzlich um die Ohren flog. Schraubenkonfetti, Nagelgeschosse. Metalltamtam. Mia duckte sich instinktiv, doch nichts flog, es wirkte nur so. Ein Knall! Dem Oliaglehrer vor ihr verblieb das Lachen im Rachen. Seine Klamotten verschwanden, kurz stand er enthüllt und blank da, eher er sich in Wasser verwandelte und klatschend auf den Boden fiel und so zu einem wässrigen Verflossenen ohne Trauergemeinde wurde. Aus dem Karussell flogen die Pferde und Kutschen, aus der Schiffschaukel das Schaukelschiff, die Gondeln des Riesenrades wurden zerstreut in alle Himmelsrichtungen. Nur die Orgel spielte einfach weiter. Im Hintergrund intonierte sie »Heinzelmännchens Wachtparade«.

Vor Mia aber tat sich ein Spalt in der Welt auf, ein schmaler Weltenspalt, als ob dem Nachthimmel ein böser Riss widerfahren war. Sie rannte los, sie hetzte hindurch. Dahinter war alles dunkel und schwarz, die Hinterdultfinsternis der Stadt, Schemen von Bäumen und Hecken, hinter ihr der Lärm des Reitschulenfeuerwerks, vor ihr ein Pfad, doch wohin?

Der Bauer, da stand dieser Bauer. Funkelnd seine Gier, in der einen Hand eine Henne ohne Kopf, in der anderen Mias abgehackter Haarbüschelschopf. Er schritt auf sie zu.

Sie fielen vom Himmel, sie hing an dünnen Schnüren, illuminiert in Rot und Blau.

Und die Marionetten glotzten sie an. Baumelten vor ihr. Fixierten sie. Ihr Grinsen war gräuslig und überheblich.

»Nein! Nein! ich will hier raus! Ich will hier raus!«

Über ihr eine Axt, wild fuchtelnd. Die Schnüre gekappt, sie verloren sich im Nichts. Sie rannte, ohne Ziel und Verstand, aufblitzende Lichter bildeten einen scheinbaren Weg. Sie rannte um Ecken und Kurven, um Winkel und Kanten, irgendwo hin, nur fort, nur fort.

Im Hintergrund intonierte eine Jahrmarktsorgel »Heinzelmännchens Wachtparade«. Und die Marionetten glotzten sie von weitem an. Baumelten vor ihr. Fixierten sie. Ihr Grinsen war gräuslig und überheblich.

Sie drehte sich um, sie blieb stehen.

Die Dult, Geduld, Geduld,

weit entfernt und doch so nah.

Wunderbar?

Orgelgedudel, es begann sich zu drehen.

Es ging ihr nicht gut.

Ein Blick, den sie warf, um nach oben zu sehen!

Die Welt begann sich zu drehen, wie sie befand.

Das Pferd bewegte sich zeam im Schnitt,

nicht zu schnell, sie kam gut mit,

flog es hoch am Firmament,

oben, wo man es kaum noch erkennt.

Kein Lächeln, nicht mal Stolz,

das Pferd, das Pferd, es war aus Holz!

Ein Galopp, ein Galopp, zappderapp,

bewegte es sich nun langsam ab.

Ein Galopp, der pelzig wurde, allerweil schneller,

so auch der unrunde Karussellteller,

der daneben durch die Gegend flog,

alle zusammen, Kutsche, Pferd, Zügel in einem Sog!

Wagner, Wagner, talentiert,

hatte dieses Karussell montiert.

Orgelsausen, tralali,

die Kutsche über ihr,

husch, husch, tralala,

Unwohlsein immerdar.

Es wickelte und windete,

es spulte und zwirbelte,

es drechselte und rollte,

der Wind, der zunehmend heulte,

es kugelte und haspelte,

es umlief, kippte und verdoppelte.

Alles flog durch die Luft,

Karussellteile, Riesenradgondeln und Pferdebeine, ausgehuft,

Spänner, Wurfbälle und die losen Dosen,

Schiffschaukelschiff, Dauerüberschlag, losgelassen!

Kein Lächeln, nicht mal Stolz,

das Pferd, das Pferd, es war aus Holz!

Und es prasselte danieder, wie auch das andere Zeugs!

Die Erde hatte sie wieder, wem freut’s, wem freut’s?

Mia hielt schützend die Hände über sich,

ein Krachen, ein Wummern, unglaublich!

Da hinten der Bauer,

erschlagen vom Requisitenschauer!

Feuer loderten von der Erde auf,

Luft fachte es an, Wasser machte Dampf daraus,

das Pferd, das Pferd, es brannte das Holz,

es loderte und flammte zu, der Zügel schmolz.

Und es lachten die Wände, diese gehässigen unechten Wände.

Alles fiel in sich zusammen, der Nerv zu Ende.

»Warum tun Sie das?«

Johannes Rothschild verteilte die Beweise über den Kneipentisch.

»Ich brauch Diridari«, log Großvadder.

»Die Neuesten Nachrichten können Ihnen dafür aber nicht viel zahlen! Sehen Sie den Pöbel in der Stadt, was können wir da schon für ein bisschen geschriebenes Papier verlangen?«

»Und doch ist der Herausgeber ein reicher Mann. Machen wir einen Handel. Wenn meine Geschichte einen Skandal auslöst, bezahlen Sie mich. Was verdient ein einfacher Soldat?«

»Etwas mehr als zwei Gulden.«

»Ein Feldwebel?«

»Um die neun Gulden.«

»Ein kommandierender General?«

»Er ist mit das ranghöchste Mitglied einer Armee. Ich würde sagen um die sechshundertfünfzig Gulden.«

»Das ist eine Menge. Aber doch nichts gegen einen Erzbischof.«

»Einen Erzbischof?«

»Was zahlt die korrupte Katholische Kirche diesem Geier in München?«

»Gregor von Scherr?«

»Mir egal, wie der Lump heißt. Was verdient er, außer der Hölle?«

»Achttausend. Pro Jahr schätze ich.«

»Du bist gut informiert. Das ist in etwa so viel wie der General.«

»Das ist es wohl.«

»Sollte Majestät stürzen oder sterben wegen dieser G’schicht, will ich des Erzbischofs Monatslohn.«

»Was?«

»Das war eindeutig genug.«

»Wieso … wieso soll der König, mein Gott …?«

Der Großvadder beugte sich zu Rothschild über den Tisch: »Das, mein Junge, wirst du herausfinden. Aber ich gebe dir einen Deuter.« Er schob ihm seine Beweise hin, gefunden im Schrank seines Schwiegersohns. Die Kugel aber, die pure goldene mit dem seltsamen, eingestanzten Symbol darauf, behielt er für sich. Er tippte mit seinem schwarzen Finger auf ein amtliches Blatt Papier. Seine roten Augen leuchteten mehr denn je.

»Gilbert. Auf der Geburtsurkunde steht Gilbert.«

Der Schulunterricht war monoton. Josuas Gedanken waren bei Mia und seinem Versagen. Er hatte sie einfach gehen lassen, hinaus in eine für sie fremde Welt.

Der Schulunterricht war monoton. Des Kronprinz Gedanken waren bei Mia und seinem Versagen. Er hatte sie einfach gehen lassen, hinaus in eine für sie fremde Welt.

Plötzlich hatte er eine Idee.

Die Märchenkönigin

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