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Lebensverlegung

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Hier bist du nicht richtig,

dort bist du falsch.

Die Welt war einst wundervoll.

Vollgesogen mit schierer Trauer plätscherte das verwärmte Nass verdorben durch die schmalen, steinernen Kanäle der stillen Stadt. Es war so unrein und herzermüdend, so stinkend und frischlos, dass ein Jeder diesen lebenswichtigen Wasserstrom tagein, tagaus mit sämtlichen seiner depressiven Sinne begegnen musste. Fixierend und missmutig, unfreudig und ätzend, erdrückt und ermüdend. Das war die Welt von Klatschertnass, die Welt der Tropfen.

»Passt auf und hört ihr Leut’, der Sinnierer hatte mir aufgetragen den Tag vor heut’, euch zu sagen, euch gar ins Ohr zu jagen, dass das Bacherl nicht zum Trinken genutzt werden darf, sonst haut’s euch das Dreckswasser ausm ... Hintern ganz scharf!«

Nun, es sollte nicht erneut so werden, wie es bereits damals geschehen war. Das Wasser verdreckt und verklumpt, verschnupft und verstunkt. Ein Jungbrunnen musste damals her, um es wieder kristallklar werden zu lassen. Ein Jungbrunnen könnte es wieder sein. Ein junger Tropfen, wie immer, bereit sich zu opfern, um das Wasserelement zufrieden zu stellen. Der Oberstadtfrack hatte sich sogar schon einen Tropfen ausgesucht.

»Eine Gemahlin? Ihr?«

Mit diesem Satz hatte ein Junge den Oberstadtfrack einst bei der Theateraufführung lächerlich gemacht im Beisein der anderen Kinder und deren Eltern. Diesen Aufmüpf wollte er opfern, musste er das Bacherl wieder zufrieden stellen. Heimlich würde er ihn beiseiteschaffen und seiner Selbstzufriedenheit genüge tun. Niemand würde es aussprechen und die Eltern würden stolz sein. Wie bei der Hemadlenzi, die sich einst die falsche Freundin ausgesucht hatte. Im Nachhinein hatte es dem Oberstadtfrack nichts gebracht. Sei’s drum.

Der Botschaftsspreißler stand allein am Kanal und betrachtete zukunftsverängstigt die Brühe, die direkt an seinen Füßen vorbei schwappte. Dann schwenkte er umhin zum Markt. Dort war das Treiben nicht mehr so lieblich und lachend wie noch von ein paar Dekadentagen. Es war still geworden in ihrer kleinen Welt. Der Nachrichtensprecher stand mit hängenden Armen und Schultern einfach nur da, ein tropfentrauriger Klops. Sein bunter Anzug, übersät mit kleinen Geschichtsfläschchen und Storyampullen, wirkte deplatziert. Er nahm seinen wuchtig wichtigen Hut ab und hielt ihn vor sich, als würde er dem kleinen Fluss die letzte Ehre erweisen.

»Es sind die Vorboten.«

Der Oberstadtfrack war mit dem Sinnierer zum Bacherl gekommen. Letzterer war sichtlich bestürzt ob der Wasserplörre, die da vor ihm siechte. Zu dritt starrten sie aufs Bacherl.

»Die Urgewalt«, flüsterte der Sinnierer.

»Die Urgewalt«, bestätigte der Oberstadtfrack. »Es ist wohl das Beste, Ihr tretet von Eurem Vorsitz zurück.«

»Ich werde den Kampf aufnehmen!«, sprach der Sinnierer stattdessen und reckte seine Faust Richtung böses Bacherl.

»Seid kein Narr! Ihr habt nicht die Fähigkeit, die Kenntnis und die Willenskraft gegen sie anzukommen!«

»Ihr wohl?«

»So ist es«, antwortete der Oberstadtfrack ruhig.

Plötzlich war aus der Ferne, aus den Tunneln ein Grollen und Donnern zu hören.

»Die Urgewalt erwacht! Klatschertnass … gute Nacht!«, sprach der Botschaftsspreißler bestürzt. Auf dem Markt kam das bedrückte Leben endgültig zum Erliegen. Alle lauschten dem Rumoren und Brummen, dass unter ihren Füßen durch den Boden rollte.

»Nur das fünfte Element kann uns retten«, sprach der Muhackl, der zu den Dreien hinzustieß. »Der Äther! Mia ist der Äther! Irgendwer hat das gesagt, Mia ist der Äther! Und so lange sie bei uns war, war die Urgewalt still und friedlich. Nun ist sie fort und die Elementewelt ist in Gefahr!«

Weitere Tropfen gesellten sich hinzu.

»Der Muhackl hat recht«, nickte der Dampfplauderer. »Ihr habt sie verjagt! Ihr habt sie nie gemocht! Weil sie anders war!«

»Die Hemadlenzi habt Ihr in den Fluss geworfen, den Ihr selbst verschmutzt habt!«, beschuldigte die Obstlerfrau den Oberstadtfrack.

»Das ist eine infame ...«, begann der Oberstadtfrack, als der Giftmischer dazwischen ging.

Er sprach: »Mia ist nicht der Äther. Die Stille war Zufall. Es ist nicht der Zeitpunkt zu streiten. Wir müssen uns wappnen. Die Urgewalt kann unsere Stadt vernichten. Einst hat sie die Stadt überflutet und aus Waschertnass wurde Klatschertnass. Dieses Mal wird es schlimmer kommen, denn Klatschertnass lässt sich nicht mehr steigern.«

Sind die Kugeln getrennt worden? Hat Mia sie … verloren? Er war so ein Depp!

»Doch was können wir tun?«

»Es gibt noch eine Welt. Sie ist nicht weit. Aber sie ist ebenso unsicher wie diese hier. Wir müssen abwägen.«

Das nächste Grollen ließ den Boden vibrieren. Die Tropfen zuckten zusammen.

Nur der Oberstadtfrack lächelte in sich hinein.

Die Tropfen waren nach Hause geschickt worden. Über die Gschmarriwuchtel wurden sie vom Sinnierer beruhigt, zumindest versuchte er das. Er war lausig im Beruhigen.

Der Oberstadtfrack und der Botschaftsspreißler waren in das Haus des Musihaberers gegangen. Der hatte seinen Hallodri zur Fressfotzn geschickt. Schwere Musik übertönte das Gespräch der drei Verschwörer.

»Niemand wird uns verdächtigen! Das Brummen und Donnern des Baumwollschießpulvers war zur rechten Zeit! Die Tropfen sind in angsterfüllter Aufruhr! Pfundig!«

»Eins muss ich dir sager, das Baumwollschießpulver liegt noch im Lager«, sprach der Botschaftsspreißler.

»Was? Was sagst du da?«

»Die Urgewalt ist zurück, oh Oberstadtfrack!«, betonte der Musihaberer. »Wir haben sie mit den anderen … Tätigkeiten geweckt. Wir haben sie entfesselt.«

Erst jetzt bemerkte der Oberstadtfrack, dass auch der Bildlamacher zugegen war. Aus seinem Maul schob sich eine Photographie hervor, düster war sie. Sie zeigte links den Elementeschrein und weiter hinten im Felsengewölbe einen hellen Schein. Weitere Bilder folgten, Unmengen an Bilder. Der Musihaberer nahm sie auf und steckte sie hintereinander. Dann ließ er sie über seinen Daumen ablaufen. Eine Abfolge entstand. Zu sehen war, wie Felsbrocken sich vom Gewölbe und dem Tunnel lösten und nach unten krachten. Staub erfüllte die letzten Photographien.

»Sie … ist entfesselt.«

»Der Bildlamacher war aufgebracht als er zurückkam!«

Der Bildlamacher quietschte und vibrierte zitternd und blechern.

»Hör zu, Oberstadtfrack!«, wurde der Musihaberer plötzlich aggressiv. »Du wolltest die Macht in Klatschertnass, über die Tropfen und sogar die gesamten Elemente übernehmen. Du bist auf der Suche nach dem Äther, dem fünften Element und der Giftmischer hat dich nicht nur einmal derbleckt, beginnend mit seiner Alchemie, Trinkbüchern und endend mit Mia, die damit angeblich nichts zu tun hat. Es war deine Idee über dem Giftmischer Sprengstoff aus der Oberwelt zu besorgen. Ich habe es allweil für gefährlich gehalten. Zum einen, weil es nie … niemals eine Verbindung nach oben geben darf. Die Tropfen dürfen nie … niemals erfahren, was es in dieser anderen Welt gibt. Zum anderen, weil du damit was auslösen kannst! Du zerstörst uns gerade mit deinen Machtfantasien, Oberstadtfrack!« Er tippte intensiv auf die Photographien in seiner Hand. »Wenn der Elementeschrein zerstört ist, sind wir alle zerstört und verflossen!«

»Weißt du was? Sieh dich hier doch um! Blechblasinstrumente! Schwere Musik! Alles Dinge aus der Oberwelt! Du trägst sie öffentlich zur Schau! Was, wenn ein Tropfen auf die Idee kommt zu fragen, wo all das Metall her ist? Und die Musik? Dann … Mia mag nicht der Äther sein, aber ich bin sicher, sie führt mich zu ihm. Wenn nicht hier, dann oben. Zum dritten: Der Elementeschrein den ihr dort auf den Bildern seht … er ist nicht echt. Es ist nicht der wahre Schrein!«

»Er wird streng bewacht. Es ist verboten ihn zu sehen. Nur der Sinnierer … oh!«, bemerkte der Musihaberer die Tatsache.

»Das ist alles nur eine Masche des Sinnierers um seine Macht zu stützen und zu schützen!«

»Ich hätte nicht besser gereimt ...«

»… und geschleimt. Klappe, Botschaftsspreißler!«, bemerkte der Oberstadtfrack trocken. »Mia wurde damals von der Drexxhexx erzählt, sie solle so schnell es geht zum König gehen.«

Er nickte dem Bildlamacher zu. Der spielte die Aufnahme ab.

»Und finde danach den König!«, hörten sie die Stimme der Drexxhexx.

»Sollen wir zur Drexxhexx gehen? Sie ist so sonderbar wie Mia. Vielleicht weiß sie mehr!«

»Sie weiß mehr, ganz sicher. Aber das bringt uns nicht weiter. Der Schlüssel liegt bei Mia! Ein König oben ist wie ein Sinnierer unten.«

Der Oberstadtfrack holte ein zusammengebundenes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasch hervor. Er zog es auf. Der Botschaftsspreißler und der Musihaberer blickten gebannt und neugierig.

»Diese goldene Kugel, meine Herren, war im Besitz von Mia.«

Sie begann zu lodern. Der Botschaftsspreißler und der Musihaberer wichen zurück, während der Oberstadtfrack sie ruhig in der Hand hielt.

»Wie … was …?«, stotterte der Musihaberer.

»Das ist ein Viertel des wahren Elementeschreins. Sie war im Besitz des Giftmischers. Er hat sie, warum auch immer, Mia vermacht. Vielleicht dachte er, in der Oberwelt wären sie sicher, vor mir zum Beispiel. Doch nun wurden sie getrennt. Sie sind nicht mehr beisammen. Aus jedem Kugerl bricht nun die elementare Eigenschaft heraus wie hier das Feuer. Gleichzeitig erwacht die Urgewalt. Das muss der Grund sein.«

»Empedokles steh uns bei, sonst ist’s vorbei!«, schluckte der Botschaftsspreißler schwer.

»Empedokles? Vergiss Empedokles! Er war ein Mensch! Ein Mensch wie Leonardo und Mia und wer weiß noch! Menschen bringen Unglück! Ich werde die Kugeln einsammeln und damit die Urgewalt besänftigen. Nachher werden wir die Macht übernehmen und den Sinnierer in den hintersten Tunnel der Elemente verbannen! Ich werde mich auf den Weg machen! Sofort!«

Das Grollen, das unter dem Boden von Klatschertnass hinweggefegt war, war kein Grollen, dass durch Schießbaumwolle oder anderen Sprengstoff ausgelöst worden war. Der Giftmischer stand in seinem Garten. Seine Hand lag auf der glatten Felswand am Ende seines Gartens und dem Ende von Klatschertnass. Der Riss war größer geworden. Etwas Wasser lief heraus. Eigentlich keine nennenswerte Menge, aber für den Giftmischer war es Alarm genug, Maßnahmen zu ergreifen.

Er ging in seine Giftküche und kochte einige Tränke. Immer wieder sah er sich um, ob verdeckte Glupscherl lauerten und ihn beobachteten. Er musste aufpassen.

»Es ist Zeit.«

Er packte einen kleinen Koffer, wie er es sonst auch tat, wenn er länger an der Oberfläche verweilte. Mia musste etwas zugestoßen sein, wie er es befürchtet hatte. Die Kugeln waren getrennt worden. Deswegen erwachte die Urgewalt. Er hatte einen unverzeihlichen Fehler begangen, der zum Untergang der Elementewelt und darüber hinaus führen konnte. Er fühlte sich schuldig. Gut bepackt verließ er seinen Baum. Er ließ den Gmeindestadl rechts liegen und marschierte den Weg nach unten Richtung leergefegte Stadt.

Eine Ansammlung von Glupscherln vor dem Haus des Musihaberers ließ ihn stutzen. Die laute Musik dagegen schien normal. Von innen her flackerte das Licht, als ob innen ein tropfenfeindliches Element Feuer entfacht worden war.

Er spitzte durch ein Seitenfenster ins Innere.

»Ja da schau her. Die Stadtstrawanzer, die elenden. Was kaschpern die denn aus?«, flüsterte er zu sich selbst.

Plötzlich sah er sie, in den Händen des Oberstadtfracks: Die goldene Kugel des Feuers.

Wo hat der die her? Hat er Mia was angetan? Vielleicht fehlte nur diese eine Kugel und Mia hatte die anderen drei noch beisammen!

Verstohlen blinzelte er noch einmal hinein. Der Bildlamacher! Was tat der da drin? Vielleicht sollte er Geduld haben und kurz warten. Danach würde er Richtung Verbotenen Berg verschwinden. Wieder einmal. Aber dieses Mal würde er nicht wegen irgendwelcher Geschäfte nach oben steigen. Er war auf einer Mission. Sollte er die Kugel stibitzen?

Nein, viel mehr sollte er noch jemanden mitnehmen.

Die Drexxhexx saß in ihrem Bau, die drei Photographien in ihrer Hand. Nichts veränderte sich darauf. Niemand starb. Niemand! Sie hielt es fast nicht mehr aus, die Qual und das Leid, das Warten und das Hoffen, seit Jahren schon! Vielleicht sollte sie sich aufmachen.

Doch was sollte denn passieren? Sollte Ludwig sterben?

Und nachher?

Sollte Maximilian sterben?

Und nachher?

Sollte seine Frau sterben?

Das brachte ihr erst recht nichts.

Also blieb sie. Vorerst. Sie hatte Furcht vor der Wahrheit und dem veränderten Leben da oben. Zudem fehlte ihr die Kraft nach alle den Jahren. Doch die Sehnsucht nach dem Verlorenen wurde stärker und stärker. Was mochte sie verpasst haben in alle den Jahren?

Selbst für sie unerwartet brach sie aus ihrem Kistl aus. Sie musste sich bewegbar und geschmeidig formen, fesch und straff, verführerisch und eloquent. Sie kramte ihre selbstgeschneiderten Kleider hervor.

Die Märchenkönigin

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