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Wahnsinnwahnsinn
ОглавлениеIrrenhaus,
das ist, wo der Irre haust.
Haust du ihn wirr,
irrt er herum im Haus.
Nachher kirrt der hausende Irre
im wirren Kirrenhaus.
»Du bist also schon immer hier?«, fragte Mia.
Mia lag auf dem Bett, die Arme hinter ihrem Kopf verschränkt. Sie starrte auf einen imaginären Punkt, weit oben an der Decke. Essen war gebracht worden. Das Fleisch hatte sie zurückgehen lassen. Die Äpfel waren gut.
Es waren die ersten Worte an Siloah, jetzt, wo sie ihn wiedersehen konnte, drüben, in der anderen Zelle.
»Wo soll ich sonst sein?«
»Jenseits der Gitterstäbe.«
»Es gibt mehr?«
»Oh ja. Aber diese Welt hier … die habe ich auch erst jetzt entdeckt.«
»Entdeckt. Was heißt das?«
»Etwas Neues finden, was nicht Bekanntes sehen.«
»Dieses … Sehen. Es scheint toll zu sein.«
»Es ist … unbeschreiblich. Du siehst wahrscheinlich anders. Mit deinen Händen. Mit deinen Ohren.«
»Ich sehe mit Tönen.«
»Mit Tönen? Dein Schnalzen? Dein Klicken?«
»So ist es. Das Geräusch zeigt mir, was hier ist, was sonst nicht hier ist.«
»Das … ist unglaublich!«
»Wo warst du vorher?«
»Die kleine Stadt heißt Klatschertnass. Dort ist mein Zuhause. Aber … es ist nicht meine Heimat.«
»Heimat. Das ist weich. Es hört sich gut an.«
»Aber ich weiß nicht, was Heimat ist. Manchmal fiel dieses Wort. Es gibt an, so etwas wie Sicherheit zu sein. Keine Angst haben vor dem was kommt, weil sich nichts ändern wird. Wo dir die anderen bekannt sind, du dich auskennst. Wie ein Baum, verwurzelt in der Erde. Ein Bach, der dir Wasser spendet. Luft, die dich atmen lässt.«
Die vier Elemente.
»Dann … ist das hier meine Heimat. Alles bleibt. Nichts geht. Immer ist hier.«
Nichts geht. Sie dachte an die Hemadlenzi. Die einfach zu Wasser geworden war. Konnte das sein?
»Ja, vielleicht … ist diese Zelle deine Heimat. Vielleicht ist das so.«
Siloah begann zu klicken und zu schnalzen.
Stille.
»Was ist, Siloah?«
»Halt dein Maul!«
Mia war brüskiert ob dieser Worte von Siloah. Doch vielleicht kannte er es nicht anders.
»Siloah, man sagt nicht ...«
»Es ist wer da. Viele! Viele!«
Mia drehte sich, schnell, so schnell, als kreise die Zelle sich um sie. Sie hatte Angst, Furcht, sie litt, waren die Worte Siloahs eindringlich und knapp.
Hans trat hinein in die Halle. In seinen Händen hielt er einen Kasten. Er schritt Mia ignorierend an ihrer Zelle vorbei hin zu Siloahs. Mit einem Klacken öffnete Hans die Holzschachtel und entnahm daraus eine Violine samt Bogen. Er schob sie durch die Durchreiche. Siloah nahm sie dankend auf. Sofort begann er sie zu stimmen. Hans verschwand wieder. Siloah begann zu spielen, er spielte den langen Tag lang.
Mia aber war überrascht und verzaubert zugleich. Was ging hier vor? Wie konnte manches so sein, wie es geschah?
Die Nacht hatte die Herrschaft übernommen, nichts weiter außer Siloahs Spiel war geschehen. Beide schwiegen nun. Hans hatte die Violine wieder abgeholt.
Das Abendessen hatte gefehlt.
Unruhig und hungrig war Mia in das Land der Träume hinüber gewandert.
Schlagartig riss sie die Augen auf!
Die Zelle war hell erleuchtet. Mia setzte sich auf. Ihr Bett stand auf einer Weide, im Hintergrund die schroffen und glatten Felswände von Klatschertnass. Alles wirkte brettleben, unecht und doch seltsam vertraut. Ein Weg tat sich auf, die Tür ihrer Zelle war geöffnet. Sie stand auf, sie durchschritt die Tür. Da, wo der Gang zwischen all den Zellen war, war nun ein Feldweg, um sie herum ein Wald. Über ihr war der graue und in sich drehende Wolkenhimmel.
Wo war sie? Was war los?
Sie ging weiter, sie wusste nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte. Die vielen Bäume, prächtig mit ihren Baumkronen, die Wurzeln, die sie zum Stolpern verleiten sollten, das Moos, die Büsche und Farne, einzelne Felsen und in der Ferne die Häuser von Klatschertnass und eine Weide. Sie erkannte das Riesenrad gar, die Dult mit ihren Fahrgeschäften. Bunte Blätter fielen herab, sie tanzten umher, sie erreichten nie den Boden. Sie versuchte eines aufzufangen, doch es glitt durch ihre Hand hindurch. Sie bog nach links ab, sie ging nach rechts, es war ein Labyrinth, dem sie folgte. Doch in ihr rührte die Unruhe. Sie drehte sich um, der Weg hinter ihr war in einem Dickicht verschwunden. Ihre Augen zappelten, sie suchten Punkte, Auswege, Hilfe. Das Licht ließ nach, es verflüchtigte sich. Gemurmel packte ihre Ohren, es war unverständlich, Echo, mehrstimmig und bedrohlich.
»Moder und Schimmel!«
»Durcheinand und Niedergang!«
»Flucht und Fall!«
»Schutzlos! Schutzlos!«
Schatten flossen über den Boden, tiefschwarz und unförmig, sie krochen die Bäume hoch, Löcher wirkten wie Augen und gehässiges Grinsen zugleich. Vor ihr tat sich plötzlich ein Massiv auf, hoch und imposant, ein Berg, der Verbotene Berg.
»Verräter! Verräter!«
»Egoist! Egoist!«
»Auflösung! Verfall!«
»Verdunstung! Verwesung!«
Der Berg, den sie einst bestiegen hatte, der die Flucht aus Klatschertnass, weg von den Tropfen, weg aus der Welt, zu der sie nicht gehört hatte, bedeutet hatte. Er schien sich über sie zu beugen, so, als wollte er sie jeden Moment packen und verschlingen. Doch er war alt, unbeholfen, verquer. Fäulnis zehrte an ihm, er wurde aufgefressen von Milliarden an Maden und Käfern. Sie waren die Schatten, sie waren es, die auch die Bäume besetzten und sich an ihnen labten.
»Gräuslig! Gemein!«
»Schönheitsschwund!«
»Kugelheilige!«
»Äh! Äh ...!«
Die Stimmen wurden wirrer, heftiger, intensiver. Mia hielt sich die Ohren zu, doch der dumpfe Bass durchbohrte Hand und Haut, Haar und Hirn. Ihr wurde schwindlig, über ihr die Spitze des Berges, dahinter ein ungezähmter Wolkenstrudel.
Plötzlich ein Zerren und Zaudern in den Stämmen der Bäume. Aus ihnen schälten sich dürre menschenähnliche Gestalten aus wirr geflochtenen Ästen und komposten Moos heraus, laubwerkentblättert und farnlos, verschimmelt und verharzt. Die Augenhöhlen waren schwarz, das Maul mit Zweigen zugenäht, Nasen und Ohren verfault oder abgenagt, vertrocknet das Herz und die Seele.
Mias Hände suchten nach Halt, nach Auswegen und Antworten, doch ihre Bestürzung und Ausweglosigkeit verloren sich in einem Sog der Höllenqual, als Tropfen von den Baumkronen fielen, an Hals und Händen, Bauch und Beinen gefesselt und aufgeknüpft an den muskelarmdicken Ästen. Ihre Augen aufgerissen, Schreie hilflos, sinnlos. Sie schaukelten hin und her, der Malefiz und der Muhackl, das Hutzlweib und die Fressfotzn, der Bipgockel und der Lichtlamacher.
Das Totengeäst wankte unbeholfen wie einst der Oliaglehrer, deren Fingerzweigerl griff nach ihr. Dutzende schlurften heran, eine stumme Armee, die abstrusen und verworrenen Stimmen aus dem Hintergrund zermürbten sie. Sie begann zu plärren, um sich zu schlagen, doch sie traf niemanden.
Sie drehte sich, sie suchte nach Wegen, doch da, da vor ihr, direkt vor ihr, fiel ein weiterer Tropfen von der Baumkrone hinunter, direkt vor Mia, direkt vor ihr Gesicht. Es war die Hemadlenzi. Mias beste und verschwunden Freundin aus vergangenen Tagen. Mia geschockt, Hemadlenzis Gesicht zu einer gefolterten Fratze entstellt, baumelte sie gefesselt und eingeschnürte hin und her. Mia sank nieder auf die Knie, ein Dolch in ihrer Seele, ein Stich in ihr Herz.
Plötzlich schlugen Flammen zwischen Fels und Baum empor, noch klein und doch lüstern, sie züngelten und warteten ab, ein Luftzischen fuhr durch das Feuer hindurch, der Boden ebnete sich, die Stimmen im Hintergrund raunten ergeben, die der Tropfen erkreischten in hoffnungsloser Panik, die Flammen wuchsen zu einem Inferno, der Boden bebte gehässig vor Ekel und Hass, während die Luft sturmprustete vor Lachen.
Der Wald tobte im roten Flammenmeer, es knisterte und knackte, es heischte und fraß, die gefesselten Tropfen an den Ästen schwitzten und träufelten, sie perlten und nieselten, sie litten und siechten, sie verdunsteten und verflüchtigten sich schließlich, sie verstrichen und verflogen. Mia raffte sich auf, sie griff nach der Hemadlenzi, um sie herum das Toben der Elemente, das Lechzen und Gieren, das Windfeixen und die Flammenvöllerei, doch sie bekam sie nicht zu fassen. Ein Hilferuf und Sehnsucht in den Augen ihrer Freundin, doch ebenso die Aufgabe und das leichte Kopfschütteln. Dann verschwand sie hinter der schmatzenden Feuergier, die sich weiter in den Wald hineinfraß.
Es war dunkel und still geworden. Baumskelette umgaben sie, verkohlt und verräuchert, An ihnen hingen leerbaumelnde Seile und Todesklagen. In ihren Augen verwässerten Tränen. Sie tropften zu Boden. Sie klatschten härter auf, als es der verbrannte Boden erwarten ließ. Rechts blinkte kurz etwas auf. Sie schleppte sich hin.
Es war der Helm des Giftmischers.
Sie brach wimmernd zusammen.
Frisch rasiert war Dr. Franz Xaver Gietl vom Bader zurückgekehrt. Seine Frau Anna Maria hatte bereits das Abendessen auf den Tisch gebracht. Zum Unmut des Doktors und seines Sohnes Josua gerierte sich Großvadder weiter als Gast im Haus Gietl. Die Stimmung war eisig. Erst Minuten nach dem Tischgebet fielen erste Worte.
»Wie war dein Tag?«, fragte seine Frau wie sie nach jedem Arbeitstag fragte.
»Warum sitzt der Alte noch da?«, kaute Gietl zerknirscht. »Gäste und Fische stinken nach drei Tagen. Der hier schon viel früher. Ich dachte, er hätte ein eigenes Zuhause in Starnberg. Aber wahrscheinlich wurde es schon vom Ungeziefer vernascht.«
»Nur zu deinem Schutze bin ich hier!«, antwortete Großvadder. »Nur zu deinem Schutze.« Seine Augen, unaufhörlich knallrot, sie funkelten herablassend.
»Ich sollte dich heute noch vergiften. Mein Schrank ist gut gefüllt!«
»Franz! Wie kannst du meinen …?«
»Still, Weib!« Gietls Faust donnerte auf den Tisch. Er erhob sich. Josua grinste. »Ich lasse es nicht mehr länger zu, dass dieser böse Greis seine Füße unter meinem Tisch stellt.«
»Das wirst du bereuen. Selbst wenn du mich tötest …«, raunzte Großvadder.
»Vater … Franz … niemand …«
»Beruhige dich, Tochter.« Großvadder erhob sein Brotzeitmesser und deutete Richtung Hausherr. Er kniff seine schlechten Augen nahezu zusammen. »Dein sogenannter Mann wird sich hüten, mir was anzutun. Ich sagte es bereits öfters. Ich habe dafür gesorgt, dass du nicht mehr zur Ruhe kommst, wenn du mir was antust.«
»Kann so ein Mensch wie er bei Gott dein Vater sein?«, wandte sich Gietl an seine Frau und setzte sich wieder.
Sie schwieg. Er hatte keine Antwort erwartet.
Aber Großvadder sprach: »Kann so ein Mensch wie dieser Quacksalber dich lieben und ehren, wie er es einst versprochen hat?«
»Hüte deine Zunge, alter Mann!«, forderte Gietl.
Großvadder legte nach und sprach seinen Enkel an: »Kann so ein Mensch wie dieser Saubazi, weiß Gott, dein Vater sein?«
Josuas Mutter zuckte zusammen, eine Stoffserviette fiel stumm zu Boden.
»Du widerliches Stück Scheiße. Sogar deine eigene Tochter diffamierst du«, geiferte Gietl. »Und deinen Enkel!«
Großvadder lehnte sich zurück. Die Stuhllehne ächzte. Seine schwarzen Zähne krochen hervor, als er schief zu lächeln begann.
»Franz, Franz, Franz. Du kannst jetzt dein Gewissen bereinigen. Was ist in jener Nacht mit dem unschuldigen Säugling passiert? Hast du mein Madl betrogen? War es dein Kind?«
Gietl unterbrach sein Kauen. Er wurde blass.
»Siehst du, Anna, mein Kind? Siehst du, wie er etwas verheimlicht? Josua, wie fühlt es sich an, ein Stiefgeschwisterchen verloren zu haben? Du hast es nie kennengelernt. Aber du würdest auch als des Kronprinzen Bruder durchgehen. Kein Verlust also!«
Er lachte hämisch. Er liebte es!
»Ich weiß von den Geburtsurkunden im Schlafzimmer«, eröffnete Anna Maria Gietl unerwartet.
»Und was willst du mir jetzt sagen?«, ging ihr Mann ruhig darauf ein. Er griff in den Brotkorb in der Mitte.
»Sie stammen aus den vierziger Jahren, Stadt Nymphenburg.«
»Und?«, fragte er nach.
»Eine ist zum Teil ausgefüllt. Kein Datum, aber der Name des Kindes beginnt mit einem L. Danach ist ein Loch in der Urkunde.«
»Es ist Ludwigs erste Urkunde. Ich hatte mich verschrieben und ich musste eine neue Geburtsurkunde ausfüllen. Es gab Uneinigkeit mit dem Namen. Ludwig, Otto, wieder Ludwig ...«
»Wieso ist kein Datum aufgeführt?«
»Das zweite Problem. Die Geburt war lange. Ich war mir nicht sicher, ob es am 24. August geschah oder ob der 25. August bereits begonnen hatte. Es war wichtig, schließlich ist der damalige König Ludwig an einem 25. August geboren worden.«
»Die zweite ist aus dem Jahr 1849. Da steht nur der Nachname darin. Gilbert.«
»Eine Patientin von mir. Der Junge ist sofort nach der Geburt leider verstorben. Ich hatte damit an sich nichts zu tun, sollte aber bei der Geburt anwesend sein. Die gottgeplagte Mutter wollte nicht … dass ihr toter Sohn eingetragen wird. Also habe ich es sein lassen. Und doch konnte ich die Urkunde nicht so einfach zerreißen. Ich bin Arzt. Es gibt Gesetze. Das Leben ist wichtig. Hier kam es mir so vor … als sei es einfach … das Kind ... es sollte begraben werden, doch sie konnte es sich nicht leisten. Also habe ich das Kind genommen. Aber ich konnte es ebenso nicht einfach beseitigen, wie ich gedacht hatte. Meine Irrfahrt ging bis nach Starnberg und ...«, Gietl kämpfte plötzlich mit den Tränen, »Ich war bei deinen Eltern, nur dein Vater war da. Vielleicht hatte ich damals gehofft, er könnte mir einen Rat geben, aber hat er jemals …? Das Leben ... als sei es einfach … weggeschmissen worden!«
Er griff nach seiner Stoffserviette und trocknete seine Augen. Während Anna aufstand und ihren Mann zu trösten versuchte, verschoss Großvadder stumme Hasstiraden in dessen heuchlerische Richtung. Josua bemerkte es. Der Mann muss weg.
»Glaubst du das, Tochter? Glaubst du das? Es war nicht 1848 oder 1849 oder was weiß ich! Es war 1845! Da stand er bei uns im Haus. Es war zur Geburt Ludwigs!«, ereiferte sich der Großvadder.
»Es war zufälligerweise zur Geburt Ottos, in der Nacht danach! Was willst du eigentlich, alter Mann?«
»Es war im Sommer! Im Sommer ‘45!«, keifte Großvadder.
»Er ist mein Mann, Vater! Sei still!«
Es herrschte einige Zeit Ruhe am Tisch.
»Ich stricke einen Pullover für Josua. Willst du auch einen, Franz? Der Winter soll sehr kalt werden.«
»Ich werde nicht gefragt? Ich bekomme keinen?«, knarzte Annas Vater.
»Wenn du einen willst, bekommst du einen. Ich dachte nur, du willst keinen. Die von Mama hast du nie getragen.«
Sie aßen weiter. Die Atmosphäre wirkte gestellt.
»Ich will von deiner Mutter nichts mehr hören. Sie war eine Badhur!«
Annas Finger krallten sich erneut an diesem Abend in die Stoffserviette.
»Was war das letzte, was Oma von dir gehört hat? Ein Schuss?«, bemerkte Josua trocken. »Hörte sie den Schuss noch oder war sie vorher schon tot?«
Großvadder unterbrach sein Essen und fixierte seinen Enkelsohn. Doch das erwartete Inferno blieb aus. Die Antwort war gelassen: »Deine Oma war eine Badhur, wie deine Mutter eine Badhur ist.« Das Brotzeitmesser wurde in Richtung Anna erhoben. Jetzt wurde sie bleich. Er richtete das Messer Richtung Josua. »Sieh dich doch an, du Enkelsohn mit dem schiechen Spitznamen. Von einem Johann zu einem Josua. Warum wohl? Weil du ein elender Jude bist. JHWH … Rettung, Hilfe bedeutet das. Da schaut ihr, was der alte Großvadder alles weiß, oder?« Er lachte hämisch. Er legte das Messer neben den Teller, seine beiden Arme umrahmten diesen auf den Tisch liegend. »Josua, Nachfolger und Heerführer Mose. Er führte das verdorbene Judenvolk zurück in das gelobte Land. Über den Jordan. Darüber solltet ihr alle auch gehen, es würde der Welt guttun.«
»Was … erzählst du da? Raus!«
Gietl erhob sich barsch, sein Stuhl kippte nach hinten über. Großvadder griff erneut das Messer und fuchtelte in Gietls Richtung. »Hast du dich nie gefragt, warum dein Sohn mit dem sonderbaren Spitznamen dem Herrscher dieses Landes so ähnlich sieht? Hast du dich nie gefragt, warum deine Frau ein Gemälde von unserem allerliebsten König da drüben aufgehängt hat?« Er deutete zur Wand. Dort hing ein umrahmtes Bild von Maximilian II. Joseph in Militäruniform.
»Ich huldige ihm. Franz Xaver ist seit jeher Leibarzt des Königshauses! Ich bin stolz auf ihn und seine Arbeit.«
»Leibarzt? Ja, den würde ich mir als Arzt auch vom Leib halten. Was ist nun, Madla? Du kannst nicht abstreiten, dass Josua Maximilian ein Abbild ist. Die Augen! Die Partie um seine Goschn! Siehst du das nicht? Seht ihr das alle nicht?« Er holte tief Luft. »Naa, das kannst du nicht!«, schrie er plötzlich und stand auf. Er brüllte: »Ich dulde kein Rumhuren in meiner Familie!«
»Familie? Welche Familie?«, erhob sich seine Tochter erbost, während Gietl orientierungslos durch das Zimmer schritt. »Und sag nicht, dass du Mama nie betrogen hast.«
Er zog eine Augenbraue hoch. Dann: »Ich habe sie nie betrogen, bei Gott. Niemals. In dieser Familie betrügen nur die Weibersleut. Das Essen war scheiße wie immer. Ich empfehle mich und ziehe mich zurück.«
»Du wirst auf der Stelle dieses Haus verlassen, alter seniler Mann!«, polterte Gietl.
Großvadder zog sich seinen Hemdsärmel über den Mund und wischte ihn sich ab.
»Werde ich das? Wer war das Kind, dass du damals im Würmsee versenkt hast, du kleiner mörderischer Schlingel? Das Kind lebte noch. Von wegen 1845 und tot. Und du, mein Dirndl, wie war das Vögeln mit dem König? Trug sein Schwanz eine Krone? Und du, mein Enkel, wie lebt es sich so als Mörder?« Er lächelte. »Seht ihr? Seht ihr, wie ihr alle Dreck am Stecken habt? Und ihr ereifert euch über den Tod der Badhur. Ihr seid alle zwiefotzert, seid ihr!«
Noch ehe der Donnerhall des Widerstands aufbegehren konnte, klopfte es an der Tür. Während Dr. Gietl dorthin eilte, verließ der Großvadder seelenruhig die Stube nach hinten hinaus.
Der Doktor riss die Tür auf, noch immer unter dem Druck der Vorwürfe, doch sein Grant wich schnell dem Moment des Erstaunens: »Königliche Hoheit? Wollt Ihr zu Josua? Er ist ...«
»Ludwig genügt, das wisst Ihr. Mein verehrter Doktor, Ihr seht gehetzt aus! Nun, das wird sich jetzt sicher nicht ändern, ich brauche Eure Hilfe, es ist bressant.«
»Meine Hilfe? Jetzt? Um diese Zeit?«
»Wäre es unwichtig, wenn ich nicht selbst käme? Ein kleiner Plausch hier draußen?«
»Nun … nein, natürlich nicht. Ich hole meine Jacke.«
Nur wenige Minuten später, nachdem der Hausherr gegangen war, verließ der Großvadder humpelnd und langsam seine momentane Unterkunft unbemerkt. Er hatte sich Geld aus der Schatulle in der Küche genommen und war auf einem gepflegten Rausch aus. Ein paar Straßen weiter betrat er eine Arbeiterkneipe, einen kleinen, überfüllten Ausschank für die niederen Stände, ausgestattet mit Bier vom Fass, einer Theke und ein paar Tischen mit abgenutzten Stühlen. Großvadder hasste diese Art der Schänke. Die zunehmende Industrialisierung auch in Bayern formte ein neues Publikum. Tagelöhner und Industriearbeiter, Habenichtse und Handwerker, Gesindel und Bedienstete; es war das Proletariat in Reinform. Hergekommen zum Schwatzen und Saufen, zur Flucht aus der eigenen Kleinstwohnung und Arbeitsmonotonie. Die Schänke als Anlaufpunkt zur Arbeitssuche, zum kurzzeitigen Armutsvergessen. Sie war gesteckt voll, es wurde gegrölt und geschrien, gekotzt und gerauft, gespielt und gelallt. Großvadder setzte sich neben einen geschniegelten Herrn auf einen Stuhl an der Schenk.
»Ein Bier.«
Der Kerl hinter der Bar nickte und griff zu einem Krug.
»Sie sind nicht der typische Stammbesucher dieses Etablissements«, sprach es neben ihm.
»Als ob Sie besser hierher passen. Und ihre imprägnierenden Fremdwörter können Sie sich in Ihren Arsch, Pardon, After stecken.«
Der junge Kerl mit dem glattgebügelten und fleckfreien blauen Hemd lächelte. Doch es erstarb jäh, als er die teufelsroten Augen des alten Mannes entdeckt hatte. Es sah furchterregend aus, gefährlich gar!
»Darf … ich Ihnen das Bier ausgeben?«
»Wenn es sein muss.«
Das Bier wurde vor Großvadder auf dem versifften Tresen serviert. Er nahm sofort einen Schluck. Wie lange hatte er darauf warten müssen? Er wischte sich den Schaum mit seinem Ärmel von der Oberlippe. Es schmeckte wundervoll frisch.
»Darf ich mich vorstellen?«
»Ich will meine Ruhe«, brummte Großvadder.
»Johannes Rothschild, allerweil im Dienst der Neuen Münchener Zeitung.«
Er hielt ihm die Hand hin. Doch Großvadder griff erneut zum Bier.
»Ein Zeitungsfritze? Und Jude«, raunzte er.
»Wenn Sie so wollen, ja.«
Unerwartet drehte sich Großvadder zu dem Journalisten: »Mit der Pressefreiheit ist es ja noch nicht so lange her.«
»Es ist besser geworden seit der Märzrevolution, auch wenn der aktuelle König … nun …«
»Raus mit der Sprache. Sie werden doch nicht … eingeschüchtert sein?«
»Nein, natürlich nicht. Sie könnte besser sein, die Freiheit, aber wir sind zufrieden. Die Auflage boomt, wir behaupten uns gegen andere Zeitungen wie die Allgemeine Zeitung.«
»Was schreiben Sie so?«
»Was in München passiert.«
»Und was passiert so?«
»Nun, der König ist nun schon sehr lange unterwegs, die Geschäfte gehen ruhig ihren Gang. Ein Skandal könnte guttun! Den Rest können Sie gerne selbst nachlesen.«
»Ein Skandal? So wie der mit der Montez damals?«
»Das war vor meiner Zeit, ich war in etwa halb so alt wie jetzt, aber ja. Ich kenne den Fall. Nun bin ich auf der Suche nach Meinungen des einfachen Volkes zum König, der Stadt und dem Land.«
»Mein Schwiegersohn ist der Leibarzt des Königs.«
»Sie sind Franz Xaver Gietls Schwiegervater?«
»In voller Größe!« … und voller Wut.
»Berichtet er viel von seinen Visiten?«
»Nein. Nein, er hält sich an die Schweigepflicht. Aber es gibt vielleicht etwas Anderes, was für Sie interessant wäre.«
»Ich bin ganz Ohr! Noch ein Bier?«
»Mein Kronprinz! Wie kann ich Euch helfen?«
Sie standen in einer dunklen Gasse. Niemand war zu sehen.
»Mein Anliegen mag Euch seltsam erscheinen. Josua hat ein junges Weib aufgetan und den Ball auf Schloss Berg zu Ehren meines Geburtstages und den meines Großvaters etwas durcheinandergewirbelt. Dieses Ding … hat eine unglaubliche Ähnlichkeit mit mir. Ihr wart damals bei der Geburt anwesend. Ist da etwas Sonderbares widerfahren?«
Nicht nur da, mein Kronprinz. Auch davor, auch davor. Danach! Danach! Wieso nur kommt diese Geschichte heute derart oft auf den Tisch?
»Nun, es war eine ungewöhnlich lange Geburt. Ihr habt Euch sehr viel Zeit gelassen.«
»Diese Antwort befriedigt mich in keinster Weise, Doktor. Wisst Ihr wo dieses Madl nun sein könnte?«
»Nein. Leider nicht. Leider nicht ...«
»Es war nichts … besonderes? Keine … zwei Kinder?«
»Es ist mir nicht gestattet, darüber zu reden, Hoheit. Bitte versteht das«, antwortete Gietl.
Ludwig verabschiedete sich unzufrieden in die Nacht. Gietl beobachtete ihn, bis er außer Sicht war. Er selbst ging danach in die andere Richtung. Spazieren. Den Kopf freibekommen.
»Der Doktor hat Leichen im Keller. Wie seine Frau. Der Sohn der beiden hat eine unglaubliche Ähnlichkeit mit dem jungen Maximilian.«
Großvadder nahm seine Schnupftabakdose heraus und gönnte sich eine Brise.
»Seine Frau? Ihre Tochter? Sie wissen, dass diese Lügen Sie ins Gefängnis bringen können?«
»Mein lieber Johannes. Ich bin alt und fast blind. Ich war mein Leben lang in Starnberg und sitze nun hier. Bevor ich gehe, sollte die Welt nicht erfahren, was diese Großkopferten da oben für Sünder sind?« Er bekreuzigte sich und wisperte ein kurzes Gebet. »Meine Tochter hurt mit dem König, mein Schwiegersohn ist Komplize dubioser Geburten und ich bin mir sicher, das Königshaus hat noch mehr zu verheimlichen. Vielleicht hängt das auch alles zusammen. Und mein Enkel ist auch nicht ohne.«
»Übergeben Sie mir Beweise und ich werde selbst weiter bohren. Ich habe gute Verbindungen.«
»Gerne, Johannes, gerne! Noch ein Bier!«
Nun reichte er ihm die Hand.
Wenig später war der Großvadder zuhause. Zu seiner Überraschung war seine Tochter noch wach.
»Du wagst es wiederzukommen?«
»Ihr seid meine Familie, Kind!«, lächelte er so freundlich wie er konnte.
»Du zerstörst meine Ehe! Es ist eine glückliche Ehe! Nur weil deine unglücklich war, musst du meine nicht zerstören!«
»Anna, hör zu. Deine Mutter hat mich nur so lange rangelassen, bis sie wusste, sie ist schwanger. Es sollte mir recht sein. Aber wir haben es mit Gottes Segen gschnackselt. Du aber … du hast es sogar mit Seiner Majestät gschnackselt. Josua ist nicht Franz Xavers Sohn. Es ist Maximilians Sohn! Du weißt es! Ich weiß es!«
Sie verschränkte die Arme.
»Woher?«
»Ich hatte stets einen Verdacht. Es gibt dieses Bild von der Königsfamilie mit dem jungen Maximilian, als er vielleicht sechzehn war. Er sah aus wie Josua jetzt aussieht. Diese typische Wittelsbacher Inzestfresse. Die Ohren, die Augen. Du siehst es doch auch. Jeden Tag! Und jeden verdammten Tag hoffst du, dass es dein Mann, der jeden verdammten Tag dem König gegenübertritt, es nicht merkt. Welch eine Ironie!« Er lachte schief. »Aber ich weiß fei auch … Josua hat bestimmt erzählt, wie er in mein Haus eingedrungen ist und beobachtet hat, wie mich der Starnberger Pfaff fast umgebracht hat. Blind hat er mich gemacht! Blind mit seinem verdickten Weihwasser! Töten wollte er mich, weil ich zu viel weiß. Schindluder hat er getrieben. Eine Frau haben sie im See versenkt. Ich habe es gesehen, Anna! Mit meinen eigenen Augen. Beim Schloss! Auf der Jagd. Und als er dachte, ich verreck, hat er mir erzählt, dass der König bei ihm Beichte abgelegt hat. Nicht mehr ertragen hat es sein Gewissen, dass er mit dir … geschlafen hat. Und dass daraus wohl der Johann entstanden ist. Johann heißt er, euer beider Sohn. Johann ist hebräisch und bedeutet »Gott ist gnädig«. Josua, sein Kosename bedeutet JHWH, wie ich schon sagte und das bedeutet wiederum »Hilfe«. Du bist nicht mehr meine Tochter, Anna. Du bist eine verlorene Königshure.«
Dr. Gietl war froh, sich die gefütterte Jacke und den Zylinder mitgenommen zu haben. Ihm war kalt, er fröstelte. Er geisterte weiter durch die Straßen Münchens.
»Wie nur, wieso nur hast du das alles getan? Du bist ein Narr. Du bist ein Verräter. Du bist ein Vater anderer Kinder.« Er dachte an die Worte seines Schwiegervaters, der elend verrecken ... »Johann sah sehr wohl dem König ähnlich, Es war mir nie aufgefallen. War es wahrlich möglich, dass er … und der König seine Frau …? Das wäre ein Treppenwitz der noch jungen bayerischen Geschichte.«
Jäh wurde sein Selbstgespräch unterbrochen: »Dr. Gietl? Zu dieser späten Stunde noch unterwegs? Entschuldigt mein Benehmen. Mein Name ist Johannes Rothschild, Neueste Nachrichten.«
»Presse? Was wollen Sie?«
Gietl fühlte sich ertappt, nicht das erste Mal an diesem fürchterlichen Abend.
»Sie sind der Leibarzt des Königs. Ich schreibe gerade an einem Bericht über die beiden Königssöhne, vor allem über den jungen Ludwig. Ich weiß, dass Euer Sohn Josua mit ihm sehr gut befreundet ist. Sie sind sich sehr ähnlich, in jeder Beziehung, wenn Ihr versteht, was ich meine.«
Er grinste falsch.
»Und?«
Gietl fühlte sich unwohl. Sehr ähnlich. Es war der nächste Akt einer abendfüllenden Hetzjagd mit wechselnden Jägern.
»Gibt es irgendwelche Anekdoten oder Geschichten über den Königssohn. was den interessierten Münchener Leser interessieren könnte? Natürlich würden wir uns für Informationen erkenntlich zeigen.«
»Verschwinden Sie!«
»Wie Ihr meint, Herr Doktor, wie Ihr meint. Überlegen Sie es sich. Ich melde mich!«
Der Kerl verschwand so schnell wie er aufgetaucht war. Verwundert schlurfte Gietl weiter. Kurz darauf war er wieder zu Hause.
»Was war los?«, fragte seine Frau, die die Küche aufräumte.
»Verschwiegenheitspflicht.«
Sie setzten sich an den Esstisch. Sie nahm seine Hand in die ihren.
»Ein schwerer Fall?«
»Ein alter Fall. Nicht der Rede wert, wahrlich nicht. Jugendprobleme. Willst du was sagen?«
»Wegen Großvadder? Ich verstehe dich. Er musste das Haus verlassen.«
Gietl schnaufte schwer durch. Er rang mit sich, er wusste nicht, ob er …
»Anna, in einem hat er recht. Josua sieht dem jungen Maximilian wahrlich sehr ähnlich.«
»Franz! Franz, du glaubst doch nicht, dass ich … «
Gietl starrte sie nur an. Es war ihm rausgerutscht. Einfach so. Er war ein Depp.
»Franz … ein Verhältnis mit dem König? Wie soll das gehen? Wie sollte das … möglich sein?« Sie sah ihn fragend an. Sie legte ihre Hand auf seine Wange. »Traust du mir das wahrlich zu? Ich weiß nicht, warum sie Ähnlichkeit haben, alle, alle, Ludwig, Otto, Josua, dieser Paul von Thurn und Taxis. Vielleicht sehen Burschen heute einfach so aus!«, argumentierte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Gietl schroff. Er stand auf und verließ den Raum.
Du reitest dich immer tiefer hinein … in den Strudel, in diesen verfluchten Strudel!