Читать книгу Die Märchenkönigin - Der Augenlauscher - Страница 3
Annodazumalsaal
ОглавлениеGeschenke. Geschenke werden gekauft, bevor benötigt.
Kommt es anders, wird man zum Nichtschenken genötigt.
1857. Schloss Nymphenburg bei München.
Der junge Ludwig griff nach der geschwungenen Türklinke. Sie war Teil einer weißen Flügeltür aus Eichenholz, deren Fassungen reich verziert und verschnörkelt waren. Sie verschloss den Zugang zu einem Zimmer rechts neben dem Schreibkabinett des früheren Kurfürsten Karl Theodors in der Südlichen Galerie. Sie diente als Übergang zum Salon und der Schönheitengalerie seines Großvaters. Um Ludwig herum hingen Kronleuchter und feudale Leinwandgemälde mit geschnitzten, vergoldeten Rahmen. Sie zeigten Motive von Wittelsbacher Schloss- und Parkanlagen. Großzügige Fenster ließen einen ungehinderten Blick auf die Gärten zu. Freie Wandflächen der Galerie waren mit Weißgold gefassten Holzvertäfelungen verziert, rote Sessel nebst kleiner Tische luden zum Verweilen ein. Doch Ludwig beachtete die verschwenderische Schönheit nicht. Er war am Zögern.
»Nun mach schon auf!«
Otto, der kleinere Bruder Ludwigs zupfte ihn am Hemdsärmel.
»Nerv’ nicht!«
Ludwig schob den Schlüssel in das mit Goldrahmen hübsch gestaltete Schloss. Woher er ihn hatte, wusste Otto nicht.
Es klackte kurz, dann schob Ludwig die Flügel auf. Vor ihnen öffnete sich ein nicht allzu großer Raum. Er besaß nur zwei Fenster, die vom Regen verschmiert waren.
»Sieh dir das an!«
Otto rannte sofort hin zu der Tafel mit Spielzeug, Kleidung und Glückwunschkarten.
»Das … habe ich nicht erwartet«, sprach Ludwig nüchtern.
»Was?«
»Dass es eine Rumpelkammer ist … mit Geschenken. Für wen sind die?«
Otto setzte sich auf eines der beiden Schaukelpferde. Er lachte und schaukelte los, obwohl er mit seinen neun Jahren schon zu groß dafür war.
»Wieso hast du die Geschenke nie bekommen? Sieh dir das Puppentheater an!«
Otto stieg ab und erforschte mit großen Augen die Holzkonstruktion.
»Wieso sollen die für mich sein?«, fragte Ludwig, den nun auch die Neugier packte.
Schaukelpferde und Bausteine, weiße Kinderlkleidung, Kinderbücher, alles verziert mit Schleifchen und Anhängern. Ein Kindertheater hatte einen blau gestickten Vorhang, das andere einen roten. Über ihnen hingen jeweils vier Marionetten. An den Seiten baumelte je ein Büchlein: »Der Froschkönig«.
»Sie sehen alt aus«, begründete Otto seine Annahme.
»Ich bin nicht einmal drei Jahre älter als du. Merkst du nicht, dass jedes Geschenk zweimal vorhanden ist?«
»Eines für dich. Eines für mich!«
»Du bist so deppert, Otto!«
»Du auch! Vielleicht sind es meine Geschenke und du hast auch welche bekommen, weil man das so macht?«
Ludwig gaffte seinen Bruder an. Vielleicht hatte er mit dieser Theorie recht? Vielleicht gab es Glückwunschkärtchen, die …
»Was ist hier los?«
»Vater … ich meine … Eure … Majestät!«, stammelte Ludwig. Otto stand sofort stramm. Sie verneigten sich vor dem König von Bayern. Hinter Seine Majestät stand dessen Leibarzt Dr. Franz Xaver Gietl. Der rechte Unterarm des Königs war frisch verbunden.
»Ihr habt hier drin nichts verloren. Ich lasse über eure Erzieher Prügelstrafen anordnen.«
»Wir wollten nur sehen, was es noch alles für Zimmer hier gibt«, verteidigte sich Ludwig. »Und da haben wir all diese Geschenke ...«
Der König drehte sich zu seinem Leibarzt. Des Königs Blick war giftig.
Der Bulb. Dieser Bulb!
Unerwartet begann er zu kreischen: »Raus aus diesem Zimmer! Raus! Raus! Und wagt es nicht, hierher zurückzukehren!«
Während der König seine Söhne rüde unter Schmerz packte und nach den Erziehern verlangte, betrat der Doktor das Zimmer. Es war alt. Es war staubig. Es war verlassen. Das Mahagoniholz musste um die fünfzig Jahre alt sein. Er erinnerte sich, wie es vor dreizehn Jahren hier gewesen war. Nicht weit entfernt war das Schlafzimmer der Königin - gleichzeitig das Geburtszimmer. Sein Mund war trocken. Sein Hals zugeschnürt. Erinnerungen. Schlechte Erinnerungen.
Er entdeckte die beiden Schaukelpferde, die er selbst einst als Geschenk für den königlichen Familienzuwachs vorgesehen hatte. Er streichelte darüber. Die beiden imposanten Puppentheater dahinter erregten seine Aufmerksamkeit. Von wem sie wohl gewesen sein mochten?
Er nahm eine der Marionetten in die Hand. Die Prinzessin. Sie war wundervolle Handwerkskunst.