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Bilderurgewalt

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Bilder ausgestellt,

damit verängstigt werd

die ganze klatschertnasse Welt.

»Ich hatte eine Vision! Die erste seit Monatsdekaden!«

Der Sinnierer, der Hüter und Hirte des Elements Wasser, lag unter seinem Schreibtisch, der aufgrund der Größe und des Sitzverhaltens der Tropfen nicht allzu hoch war. Dennoch wirkte sein Liegen als Leiden und gequetscht. Wepsert öffnete er seine schwarze Weste sowie den obersten Hemdkragen seines weißen Hemdes, so, als ob er mit diesen Aktionen mehr Platz nach oben schaffen würde. Dem war aber nicht so. Er schnaufte schwer. Unrund rückte er seine Brille mit den runden Gläsern zurecht und starrte weiter die Tischunterseite an. Der Pyramidenhut lag quer über auf der anderen Seite des antiken Möbelstücks.

»Eine Vision?« Der Oberstadtfrack hatte auf dem Gästeschemel Platz genommen. Er musste sich leicht zur Seite bücken, um den Sinnierer unter dem Tisch zu sehen. Noch ließ er seine Kleidung wie in der Amtsvorschrift gestaltet, geschlossen. Kurz kribbelte es in des Oberstadtfracks Fingern. Der Sinnierer lag so perfekt, ein Stich mit einem Messer, ein Würgen mit den Händen, ein Umdrehen des Kragens und er wäre ...

Stattdessen ruhten beide in dieser rustikalen Räumlichkeit im ersten Stock des Gmeindestadls, dem Regierungssaal des Elements Wasser, der wertvollsten Stube in Klatschertnass, dem Mittelpunkt der Macht, und das auch noch im wichtigsten, imposantesten Gebäude der Stadt. Mehr als doppelt so groß und hoch erbaut als all die anderen Tropfenhäuser, verspielter mit farbig gestrichenen Anleihen und Elementenelementen. Ein Riesentropfen, nur, dass dieser Gebäudetropfen etwas langegezogener und breiter war als ein üblicher abtropfender Wasserhahntropfen.

Die Wände unter der rustikalen Räumlichkeit waren spartanischer und nur für die schmalere Herrschaft über die Stadt ausgelegt, denn dort befand sich die Wohnung des Oberstadtfracks. Dessen Ziel war aber nicht dieses obere Zimmerl hier. Er hatte anderes vor.

Die Hand des Sinnierers wanderte auf die Tischoberfläche, erst tastend, dann zugreifend. Er ergatterte einen Becher Eiswasser, er manövrierte ihn nach unten, hin zu seinen Lippen, er verschüttete einiges, alles war nass, alles war kalt und doch, er war ein Tropfen, es war ihm gleich. Gierig schüttete er das Wasser in sich hinein, so dass seinem Tropfenwasserwamperl gleich eine dünne Wasserebene schwabbelnd hinzugefügt wurde.

»Wahrlich jung. Nun, ich will kein Unheil oder Angst stiften, solange mich nicht weitere Visionen erreichen. Aber sie waren sehr bedrückend!«

»Bedrückend, oh Vorsitzender? Wie der Tisch, unter dem Ihr dermanscht seid?«

»Es waren farblose, ja gar weiße Fetzen, Fransen, die vor meinen Augen abliefen. Es waren Bilder, die hölzern das Laufen gelernt haben, so, als ob der Bildlamacher in jeder Miniminute zwei Bilder aufnehmen und ablaufen lassen würde. Auf diesen Bildern … waren … schreiende Tropfen, die hysterisch über Leichenpfützen liefen, überall Tote, tote Erwachsene, tote Kindstropfen … vielleicht schliefen sie aber auch nur, denn sie lösten sich nicht. In dieser Vision hörte ich keinen einzigen Ton. Es war stumme Schreie. Es war zudem nichts von Gewalt zu sehen. Nur der Berg, er wurde bestiegen, von einer Gestalt, bestiegen …«

»Brannte es? Oder gab es Erdbeben? Oder Luftbewegungen?«

»Vielleicht war es die Urgewalt. Vielleicht auch nicht. Wir waren es nicht. Kein Selbstersäufnis. Es ist vielleicht nur die Art und Weise, wie diese Bilder mir erschienen sind. Diese Stille. Und doch diese Eindringlichkeit. Dieses Grauen in den Augen von denen, die noch lebten. Diese Ausweglosigkeit. Es waren anonyme Tropfen, niemanden den ich kannte und ich kenne sie doch alle! Alle! Wie wir uns alle kennen!« Er merkte auf: »Und dann … verlor sich alles in einem weißen Nichts. Schweißgebadet war ich erwacht.«

Die Augen des Sinnierers waren glasig. Starr hielt er den Becher, der allmählich durch seine Hand auf den Boden rutschte. Einzelne Tropfen landeten auf dem Teppich und dem Parkett.

Stumme Tropfen eines Tropfens. Er schloss die Augen.

Der Oberstadtfrack nutzte den Moment und holte einen Bocksbeutel hervor. Den Inhalt füllte er in des Sinnierers Hausflasche nach. Die nun darin enthaltene Trinksage hatte er sich selbst ausgedacht und abgefüllt. Er war stolz auf sich. Der Sinnierer würde seinen Namen weiterhin Ehre machen.

Eine Sage zu trinken,

ist wie der Wirklichkeit zu winken.

Mia war fast zu am Baumhaus des Giftmischers angelangt.

»Wasser … ist brisant!«, hatte der Giftmischer mich einst gelehrt. »Wasser ist banal! Wasser ist wie eine Frau. Seine Anwesenheit ist unerklärlich. Es kann zu Zuständen kommen!«

Als Kind habe ich meinen Ziehvater und Lehrmeister oft beobachtet. Wie er so hantierte, die Kolben und Messgeräte, die Brenner und Gefäße bearbeitete und untersuchte, wie er fluchte und wieder von vorne begann. Wie einst damals, ich weiß es noch genau, wie ich einst am Tisch gesessen habe und er seine Versuche halb beschwipst durchgeführt hatte. Manche Lehrflaschen hatten wohl zu viel Alkohol intus, andere waren voller Unwahrheiten.

»Siebzig Prozent bestehen Wesen aus dieser Ursuppe namens Wasser. Tropfen vielleicht sogar noch mehr. Wasser hat Anomalien! Es ist nicht ganz dicht, um es absurd zu sagen! Seine Dichte! Es zieht sich zusammen. Noch bevor es gefriert, zieht es sich wieder auseinander! Wasser besteht aus Geschwistern! Wasser besteht aus zwei Flüssigkeiten! Wasser ist sozial! Tropfen sind sozial! Wasserstoff! Sauerstoff! Positive Ladung! Negative Ladung! Unsozial! Unsozial! Und doch hängen sie aneinander! Wird Wasser nicht sozial, wenn es sich von Dampf in Flüssigkeit verwandelt? Wird es noch sozialer, wenn es zu Eis wird? Ich will Wasser verstehen! Ich muss es verstehen! Hochdichte Tropfen! Niedrig dichte Tropfen! Und Tropfen, die nicht ganz dicht sind, aber das wissen wir vom Ordnungsdokta ja.« Ein Prost auf sich selbst, halleluja! »Wasser hat so viele unerforschte Eigenschaften, ist es vielleicht gar spirituell? Was hat dieses Element alles noch für Geheimnisse? Hör zu, du Wasser! Ich bin Alchemist, ich habe dich levitiert und strukturiert, aufgeladen und energetisiert, ich habe dich getrunken und wieder ausgespuckt, dir die Trübheit rausgeprügelt, die kristalline Haut der Tropfen untersucht und … das große Ziel in all der Zeit aus den Augen verloren.«

Ich habe bis jetzt nicht herausgefunden, was er damit gemeint hat.

»Besitzen Tropfen Gedanken und Gefühl? Oder ist es das Wasser selbst? Leben Tropfen? Lebt Wasser? Leben beide, weil beide sich ergänzen? Richten sich die Namen auf den Gläsern nach dem Inhalt des Wassers oder richtet sich das Wasser nach dem Namen auf dem Glas? Wieso können wir Wasser trinken und uns dadurch Informationen inhalieren? Ist das Kannibalismus?«

Er hatte sich damals an mich gewandt: »Bin ich ein Wasserrevoluzzer oder doch nur ein Tropfenkünstler?«

Ich hatte mich sogleich an ihn gewandt: »Bin ich ein Nichtwasserrevoluzzer oder doch nur ein Tropfenopfer?«

Getrieben von diesem Gedanken im Kopf rannte sie die letzten Meter die Kuppe hinauf, auf deren linken etwas höher der äußerlich weiche und reich verzierte und doch voller Spannkraft thronende Gmeindestadl lag und auf der rechten das Haus, in dem sie wohnte. An sich war die Bleibe des verrückten Giftmischers kein richtiges Haus, auch kein Tropfengebäude. Es war vielmehr ein verbeultes, mit essbaren Warzen, Pilzen und grünen Streifen, ähnlich Lianen, überwuchertes, aus der Erde hochgewürgtes Wurzelgebilde eines nicht mehr vorhandenen mächtigen männlichen Baumes.

Ja, es gab männliche Bäume, so wie es weibliche Bäume gab und mit ihren Wurzeln verbündeten sie sich, soziale Wesen, tief unter der Erde, fernab von den Augen aller. Bäume reagierten auf Veränderungen und kommunizierten diese an andere Bäume weiter. Doch der Baum des Giftmischers war besonders, nicht nur wegen seines außergewöhnlichen Durchmessers, auch weil er ausgehöhlt war, das Holz dem Feuer trotzte und er der einzige seiner Art war.

Die Wurzeln des abgeholzten Riesenbaums waren die geheimnisvolle Hülle für die Werke und Taten des Giftmischers. Er, der Alchemist, der Lehrer und Arzt des Elements Wasser. Er, der Kerl, der neben dem Erfinderinschinör, der übrigens fast auf der anderen Seite der Stadt hauste, für den Fortschritt und die Bildung aller zuständig war. Und für die Erziehung von Mia.

Als drittes Gebäude dieser Anhöhe konnte vielleicht noch die ein paar lange Schritte entfernte und verfallene Bude der Drexxhexx gewertet werden, nicht ganz so hoch wie die beiden anderen Tropfenhäuser, aber dennoch höher, da spitzer, als die gemeinen Hütten und Häuser weiter unten. Mia hatte stets Furcht vor ihr und sie versuchte, weit genug von ihr Abstand zu halten, wie die Tropfen auch. Ihre Furcht erklären konnte sie sich aber nicht, es war einfach ein Gefühl. Die Drexxhexx wohnte noch nicht lange dort, niemand kannte sie näher, sie galt als spinnerte Schrulln.

Plötzlich wurde Mia angelockt von einer murmelnden Tropfentraube außen vor dem Gmeindestadl. Der Oberstadtfrack trat in dem Moment vor die Tür zu seinem Volk, als auch Mia zum Pulk hinzustieß.

»Herr Oberstadtfrack! Herr Oberstadtfrack!«

»Was ist, mein lieber Botschaftsspreißler?«

Wie der Oberstadtfrack war auch der Botschaftsspreißler großkindsgroß und kugelrund. Er trug einen bunten Anzug, der übersät war mit kleinen Fläschchen und Ampullen, die zu hüpfen begannen, wenn er sich bewegte. Er hatte sie immer dabei, es war das Archiv der wichtigsten Nachrichten, selbstgeschrieben, in allen Farben, lustig, traurig, spannend, eintönig, aber immer berichtend! Ein Schluck und er konnte über alles reden oder mit seinem Wissen andere ausflascheln. Dazu thronte auf seinem Haupt ein wuchtig wichtiger Hut, nebst einem Dietsch, einem flachen unförmigen Hutdeckel. Die Kopfbedeckung war überall sichtbar, so hoch, so tief hineingezogen in sein Gesicht, so tief, um zu verhindern, dass die Bürger seine Mimik vor der Verkündung seiner Nachrichten erkennen konnten. Seine Ehe mit der Gurgelpulvern war in die Brüche gegangen, lag es an den nackten Wahrheiten oder am unerträglichen Klatsch und Tratsch seiner Frau, aus deren Kehle Dauernörgeleien die Luft verpesteten, niemand wusste es so genau.

»Hört, hört, ihr Wählerkrampen, was der Bildlamacher mir hat zugetragen heut, ganz brühwarm, und ich garantiere euch, es ist kein Schmarrn!«

Und tatsächlich, der kleine Maschinenkerl mit den zu kurzen Haxn ohne Kniegelenke hechelte in dem Moment steif durch die Masse hachtig her, blieb aber erst direkt vor dem Oberstadtfrack stehen. Er deutete mit dem umgedrehten Zeigefinger seines Arms ohne Ellenbogen vehement Richtung seines Mundes, so als hätte er einen Hunger. Aber nein, stattdessen lag ihm etwas auf der Zunge.

Entstanden ist jenes durch hereinkommende Gschmarrifluten. Auf dem Kopf hatte der sprachstumme Bildlamacher einen Apparat installiert, der ein Zufluss- und ein Abflussrohr außen an dem Dosenbehälter angedockt hatte, die wie Henkel wirkten. Seine Augen waren schmal und fokussierten wie Kameras, die kaum einer in Klatschertnass nutzte, die Umgebung. Oder es waren Augen wie die eines Aufnahmegerätes, was für das photographische Gedächtnis nützlich war. Seine Wascheln waren Ohren und Lautsprecher für musikalische Genüsse zugleich, wie Mia nun wusste. Sein vielleicht vorhandener Mund war hinter einer metallenen und blankpolierten Apparatur versteckt. Aus dem dortig quer liegendem Schlitz spülte er ratternd ein Bild hervor. Es war bunt, mit Wasserfarben kreiert, die im Inneren ihre Arbeit kleinlich verrichtet hatten. Die kräftige Primärfarbe Rot tat sich eindeutig hervor und verhieß nichts Gutes.

Es stoben weitere Klatschertnasser herbei, um zu sehen, was der Bildlamacher entdeckt hatte. Es musste wichtig sein, wenn er sich doch gerade mit dem Oberstadtfrack abgab.

Der nahm das Bild in die Hand und betrachtete es voller Sorge.

Es war dunkel, sehr dunkel. Nur ein Umriss war zu erkennen. Drohend hatte sich dieser über den Schrein der Elemente erhaben. Jener Schrein, der ein Stalagmit war und vier Ablagen besaß. Jedes Element besetzte eines dieser Fächer, eingebracht in einem Glaskubus. Reinstes Wasser für das Element Wasser, das ewige Feuer für das Element Feuer, ein Klumpen dichtester Erde für das Element Erde und die sauberste Luft für das Element Luft.

Mia erkannte den Schrein sofort, dank ihrer Größe konnte sie über alle hinwegsehen und das vier Hände große Bild gut erkennen.

»Was ist damit?«, fragte der Oberstadtfrack.

»Es wurde aufgenommen am frühen Tag, als ihr noch in den Federn lagt.«

Kritischer Blick. Und dann: »Ja … und? Das Bild hat neben dem Rot sehr dunkelintensive Farben, intensiver als sie in echt sind.« Er deutete Richtung Tunneleingang, der vom Gmeindestadl aus gut zu sehen war. Der Tunnel war der Beginn des Weges zu den anderen Elementen. Etwas abseits lag der Pfad zum Elementeschrein.

»Hier!« Der Finger des Botschaftsspreißlers tippte auf einen großen Punkt neben dem Berg. »Seht den Umriss wie der eines schwarzen Brocken! So groß, es haut einen aus den löchrigen Socken!«

Der Oberstadtfrack vernahm sich seiner Brille, um den Punkt näher zu bringen. Seine Augen weiteten sich bis unter seinen Zylinder, der prompt vor Schreck aufgesaugt zu werden drohte und kurz zitterte.

»Was ist das, Herr Oberstadtfrack sagt uns was?« fragte der Botschaftsspreißler.

»Dieser Brockenumriss ist … die Urgewalt! Ihr wisst, dass ich sie kenne, denn ich bin es, der gegen sie waghalsig kämpft! Sie … ist beim Schrein!« Panik brandete kurz auf, pressiert und beschwichtigend hob der Oberstadtfrack seine Arme, um die seinen zu beruhigen: »Der Rat der Elemente ist auf dem Weg dorthin! Herr Botschaftsspreißler, sind Schäden, Irrungen und Wirrungen des Rats bekannt?«

»Nun … nein, vielleicht weiß unser …«

Sie alle hielten inne. Ihr Blick fiel auf die nahe Unglückswehr. Deren Pforten waren aber geschlossen, die roten, wasserbetriebenen Fahrzeuge standen still im Inneren.

Der Unglückswehrvoda stand inmitten der aufmerksamen Menge. Er holte wie aus dem Nichts seinen blank polierten goldenen Helm hervor, wienerte sicherheitshalber noch einmal mit dem unglückswehrblauen Ärmel darüber, eher er das glückliche Wort aus seinem Mund vertrieb: »Mir … mir ist nichts über eine Gefahr für den Rat der Elemente samt Tunnelhalligalli bekannt!« Und wenn, dann hätte es seine Frau, die frühere Frau Botschaftsspreißler, schon rechtzeitig genug erfahren und kundgetan. Die aber stand still im Hintergrund, die Lockenwickler grauslich in ihrem Haar, die Kehle stumm, unverpulvert.

»Bildlamacher, was willst du uns mit diesem Bild lallen? Die Urgewalt ist noch nie in die Höhle des Elementeschreins eingefallen!«

Ein weiteres Bild ratterte aus dem Schlitz seines Apparates.

Es war dasselbe Bild. Nur blasser.

Er druckte noch eines aus. Dessen Lichtschein war noch fader. Die Farben waren kaum mehr sichtbar, sie waren dem Bild entflohen. Der Elementschrein wirkte angegriffen, zerstört gar! Der Botschaftsspreißler höchst selbst entnahm es aus dem Schlitz, wedelte es in der Luft um es zu trocknen und machte sich still wie er sonst nicht war auf in Richtung Gmeindestadl. Dort heftete er die drei Bilder an das leere Blablabrett.

»Es sind keine Bilder des Jetzt! Es sind Bilder aus der Zukunft! Der Rat der Elemente ist unfähig uns zu beschützen. Ich aber werde gegen die Urgewalt kämpfen!« Der Oberstadtfrack packte den stummen Bildlamacher hart am stockigen Arm. Der starrte seinen Angreifer nur an. Es ratterte. Aus seinem Mund entfloh ein weiteres noch feuchtes Bild.

Darauf war der Bildlamacher reproduziert, grotesk demoliert, karikiert in grellen Farben.

»Grrrr! Du … Ich tue dir nichts! Drei Bilder in drei Abstufungen! Was soll uns das sagen?«

Das Volk kannte die Gedanken des Oberstadtfracks nicht, es wunderte sich aber über dessen Ausbruch.

Der Botschaftsspreißler mischte sich ein: »Er weiß es net. Vielleicht ein technischer Defekt. Wir werden den Bildlamacher senden durch die Gassen, ihn beim Erfinderinschinör überprüfen lassen.«

Ruschert versuchte der Oberstadtfrack sich vor seinen Wählerkrampen wieder zu beherrschen: »Lass den Bildlamacher! Der Unglückswehrvoda und seine Truppe hat den Auftrag, sich dem Schrein zu nähern und zu ermitteln, was den Bildlaalarm ausgelöst hat. Ihr seid gewarnt, außer ihm darf sich niemand dem Tunnel nähern oder, was sowieso schon verboten ist, den Abzweig zum Schrein nehmen! Die Urgewalt könnte jeden töten! Die anderen Elemente werden darüber informiert. Es gibt nichts mehr zu sehen!«

Die Meute verströmte murmelnd nunter Richtung Stadt. Nur der Unglückswehrvoda nahm seinen goldenen Helm vom Kopf und kratzte sich auf demselben. Mia trat einen Schritt auf ihn zu:

»Darf ich mit?«

»Bitte?«, sah er fragend zu ihr auf.

»Darf ich mit? Ich wollte den Schrein schon immer aus der Nähe sehen. Und das wäre eine gute Möglichkeit!«

»Madla, viel zu gefährlich. Schau dir die Bildla an! Außerdem hat es eben eindeutig geheißen …«

»Eben! Ihr seid doch mit eurer Saubande dabei und ihr würdet doch nie unvorsichtig sein. Wenn nicht mit euch, mit wem dann?«

»Hm, das ist ein Neuner beim Kegeln. Ich werde es mir überlegen. Du bist alldiweil groß und schlau geworden, warum also nicht? Wobei ich nicht weiß, wo dich deine Größe noch hinführt?«

»Das weiß ich allerdings auch nicht!« Mia gab dem verdutzten Unglückswehrvoda ein schnelles Bussi auf die runde Nase und verschwand freudig nach Hause.

Der Unglückswehrvoda schmachtete kurz, ehe ihm das knurrige Gesicht seiner alten Brenten, ein Zuber von einem Weibstropfen, entgegen schlug.

»Haben die Deppen wieder Krampf erzählt? Schön kreiselig im Kreisverschluss standen sie da mit leeren Gesichtern um Umkehrschluss!«, schmiss der Giftmischer die Worte durch den Raum, ehe er sich wieder der Ruhe hingab.

Mia verschloss die Türe des runden Hauses hinter sich. Vor ihr breitete sich das hohe Innere ihres Zuhauses aus: Oben in der Galerie die Bibliothek gefüllt mit Flüssigkeitssagen und -geschichten. Unten das Labor des Giftmischers, alles zusammen als einziger großer Raum. Nur direkt geradeaus gab es drei weitere Gelasse: Der Reinigungsraum, sein Zimmer und ihre eigene Kammer mit Blick auf die Stadt. Fast überall lagerten Unmengen an brennbarem Material, sei es natürlich oder unnatürlich, flüssig, gasförmig oder fest, trinkbar oder tödlich. Sie waren mischbereit für Notizen und Lehrbücher, Geschichten und Sagen, Medizin und Alchemie, Aktionen und Reaktionen. Auf den runden Tischen residierten wild Reagenzgläser, leere und volle, in hellen und in ekligen Farben, einige dampften, andere glotzten, beigestellt von Kolben, bauchigen Gefäßen, die fast wie Tropfen geformt waren, Messkolben, Rundkolben, Halskolben, Kolbenkolben, zum Destillieren oder Erhitzen, zum Schwenken oder Abmessen, daneben Bunsenbrenner und Messgeräte, Alembik und Aludel, Retorte und Serpentine, Mörser und Stößel, Schläuche und Rohre, mit Knoten und ohne Knoten, Zirkel und Lineale, Geodreiecke und Parabeln, gespitzte wie abgestumpfte Stifte, farbig und anthrazit, geduldiges und ungeduldiges und daher zusammengeknülltes Papier, Papier, Papier, das nicht nur lag, sondern auch festgeklemmt war mit Klammern, die an Schnüren quer an Wand und durch den Raum wie frisch gewaschene Wäsche hingen. Dies war einfacher, als es in Flüssigkeiten aufzuschreiben. Das tat der Giftmischer erst nach getaner Tat. In den Schränken standen Tränke und Pasten von oberster Güte, gegen jedes Leiden und Zipperlein. Und Schädel. Große Schädel. Weniger große Schädel. Und Füße. Eingelegt. Schweißfüße. Hornhautfüße. Warzenfüße. Plattfüße. Hirne. Hände. Griffbereit. Als ob diese jemanden erwürgen wollten. Flach. Geballt. Den Mittelfinger gestreckt.

Tränke überall. Mit Alkohol. Ohne Alkohol. Dickflüssig. Dünn. Verdünnt. Ein Schnacklerschlenzer, trüb rot, gegen den gemeinen Schluckauf, der Wehdamplärrer, rotzgelb, gegen den üblen Schmerz, geriebener Zehenkäse, schimmelweiß, gegen stinkenden Fußgeruch oder ein Gscheitheitszapferl, knackbraun, gegen plötzlichen Gedankenausfall. Und nicht zu vergessen, der Lochstopfer.

Als Ersatz für ausgefallene Zähne, für was auch sonst?

Oder die Ingredienzien für das geliebte Sinnesradio des Giftmischers. Unzählige Wässerchen und Utensilien in Gefäßen und Kistchen. Daneben ein fest verschlossenes Glas mit einer dunkelroten Flüssigkeit und einem breit gezogenen »M«-Aufkleber darauf.

Die Bibliothek aus dunklem Holz vereinnahmte den oberen Ring des Saales, einem Umlaufbalkon, rund wie ein Baumstamm und hoch wie manch zweistöckiges Gebäude, umgeben von jenen dunklen Holzregalen samt braunen und schwarzen Glasschwarten, erträglich unterbrochen durch ein großzügiges Fenster mit kleiner Glastür, die einen freien Blick auf seinen Kräutergarten und die unbezwingbare, absolut glatte Felswand zuließen. Oben die Empore, deren Längsseite rundherum führte und durch ein rustikales Holzgeländer für Fallsicherheit sorgte, wenn man denn nicht angedudelt war und man war natürlich nie angedudelt in Klatschertnass. Ein Tropfen war höchstens benebelt. Durch das Haus selbst verliefen an den Wänden, Decken, Boden und Säulen schief montierte Rohre mit Pfropfen und Verschlüssen, die das lebenswichtige Wasser an alle Ecken und Enden beförderte. Es hatte durchsichtige Blase- und Wasserbalgs um dieses als Fußboden- oder Wandheizung, als Trink- oder Badewasser oder als Strom- und Drucklieferant zu nutzen. Denn es war nicht nötig im Baum zu laufen, das Innere rotierte um sich selbst, auf Knopf- und mittels Wasserdruck drehte sich das Labor oder man wurde hinauf auf die Empore zur Bibliothek gehoben.

In den Regalen schlummerte Wissen und Information in unzähligen Dekantierkaraffen und Flaschen, in Reagenzgläsern und Trinkhörnern, in Lederbeuteln und Kolben aller Art, deren genaue Inhalte nicht einmal der Giftmischer im Detail kannte. Die Farbe einer Tinktur konnte Auskunft über den Inhalt geben. Richtiges Rot bedeutete Spannung und Gefahr, ein glückliches Gelb Leben und Gesellschaft, ein schwieriges Schwarz Unheil und Geheimnis, ein wissentliches Weiß Auskunft und Neutralbericht und völlige Durchsicht Ehrlichkeit und Fakten. Natürlich konnten Farben manipuliert werden um den Inhalt zu verschleiern, dem Trinklesenden zu manipulieren, den Inhalt den Erwartungen entgegenstellen oder gar verleumden!

Er selbst nutzte nur ein paar ausgewählte Exemplare, um seine Arbeit verrichten zu können, doch er wusste, dass das eine oder andere Gefäß noch ungelöste Geheimnisse wahrte. Denn wenn man davon nippte, und es genügte ein Schluck, um den Inhalt in sich aufzunehmen, dann wurde natürlich ein Teil davon weggelesen. Dazu nagte der Zahn der Zeit, der das flüssige Wissen verfliegen ließ. Der Giftmischer hatte also auch damit zu tun, das Wissen zu bewahren, es zu reproduzieren und sicher zu lagern ohne es zu verwässern.

Es gab verschiedene Möglichkeiten ein Buch zu verwässern. So, wie es der Giftmischer manchmal tat, in dem er es mixte und verrührte, gärte und verquirlte. Oder er setzte sich an die Wasserhackern, eine üppige und schwere Schreibmaschine, hinter der an jeder der fünfundfünfzig Tasten ein kleiner Zweihalsrundkolben hing, wo beim Anschlag Flüssigkeit in einen großen Behälter geschwappt wurde. Auf den Tasten waren aber nicht nur Buchstaben, sondern gleich ganze Wörter, was natürlich zum einen das Wasserschreiben leichter machte, aber auch schwerer, wenn das Wort nicht als Rundkolben angehängt war. Der Botschaftsspreißler haute am liebsten in die Tasten, anstatt selbst zu mischen. Schnell konnte das zu Unwahrheiten oder faktischen Alternativen führen.

Und manches in dem Labor flog durch die Luft, es flog als Nebel, als Luftfeuchtigkeit. Ein jeder Tropfen kannte und inhalierte es bewusst oder unabsichtlich, man lenkte und dachte und plötzlich kam einem etwas in den Sinn, was absolut abstrus und themenfremd war. Ein leidiges Tropfenproblem!

Mia konnte diese Wasserwissen aber nicht zu sich nehmen. Es wirkte nicht, war sie doch kein Tropfen, sie schmeckte lediglich den Inhalt, aber sie las ihn nicht. Sie hatte es probiert. »Abhandlung über die Elemente und vermeintlicher Unterstützer« war auf dem Etikett gestanden. Die Flüssigkeit darin war dunkel und zäh, es war schwer zu trinken. Sie hatte es aber dennoch getan und es war das letzte, an was sie sich erinnerte. Der Inhalt aber, der blieb ihr verschlossen. Elendig und zugerichtet hatte sie nie wieder ein Trinkbuch probiert.

Papierbücher waren kaum bekannt. Hier im Haus gab es wenige, zu umständlich waren sie, wie lange doch dauerte es, eines zu lesen, wenn man es doch trinken konnte. Und doch wurden Buchstaben und Wörter genutzt, um die Gefäße zu beschriften oder selbst schnelle Aufzeichnungen zu tätigen. Sie war auf das Wissen und die Auskunft des Giftmischers angewiesen. Und das ärgerte sie.

Doch der unwiderlegbarste Zauber befand sich im Zentrum des Hauses. Wohlfeil in der Mitte thronte nämlich auf einer Stufe eine flammende Feuerstelle mit einem goldenen Kessel, darüber war ein Rauchabzug angebracht, dessen Rohr die Dämpfe des Kessels nach oben und damit nach draußen beförderten, was bereits öfters den Unmut und die Fragen der dreihundertdreiundzwanzig Wählerkrampen samt Rotzlöffel hervorgerufen hatte zwecks einer klaustrophobischen Klimakatastrophe. Jene Rotzlöffel aber besuchten den Giftmischer zuweilen, war er doch der einzige langerfahrene Gelehrte. Vielleicht konnte man auch noch den hageren Erfinderinschinör damit gutheißen und Mia, die aufholte. Der Giftmischer wurde in der kleinen Stadt mit Argwohn der Eltern bedacht, ebenso Mia, deren Unterricht am WWW (bisher) nur geduldet wurde.

Dennoch war diese Feuerstelle die einzige offene erlaubte in einer Welt, die keine brennenden Bäume wollte, wo das Element Feuer sowieso schon verhasst war und man es nur ab und an auf kleiner Flamme zum Grillen, Garen und Kochen des Gemüses nutzte. Zur Stelle hing stand ein abgenutztes rotes Sofa. Es war stets kalt, wenn man sich daraufsetzte. Mia wollte es schon lange rausschmeißen, doch der Giftmischer saß zu gerne darauf.

Noch weiter oben, unterm Dach und kaum sichtbar, hing noch eine dunkel gefärbte Kugel mit seltsam herausgewachsenen Armaturen, die wie Arme aussahen. Sie sah aus wie ein mit Gas gefüllter Ballon oder Luftschiff, welcher oder welches nach oben entfleucht war. Mia hatte nie gefragt, was es bedeuten sollte und der Giftmischer hatte nie daran hantiert.

Zum Gmeindestadl hin hatte sein Haus keine Fenster und nahezu täglich erwischte er sich bei dem Gedanken, endlich einen solchen Wanddurchblick vom Muhackl einschlagen zu lassen, doch dessen grobschlächtige Art ließ ihn zögern, würde bei seinem mit einem Schlegel entstandenen Wandloch bestimmt das Baumwurzelwerk samt Galerie und Bibliothek in sich zusammenbrechen. Und ein jeder, der Bürokratie zu erledigen hatte, würde hereingaffen können.

»Erst war ich einkaufen, dann kurz spazieren … und danach gab es noch einen kleinen Tumult vor dem Gmeindestadl. Der Bildlamacher hatte wohl zufällig gebildert, wie die Urgewalt den Elementeschrein bedroht. Sie haben die Bilder sogar an der Wand des Gmeindestadls anbringen lassen. Der Oberstadtfrack war sichtlich geschockt, muss ich sagen.«

Der Giftmischer lag tiefenentspannt auf drei Wasserfontänen, die aus den Boden schossen und ihn sicher in der Waage hielten. Auf den Augen trug er Gläser, die ihm dem Blick auf die Welt vermiesten. An ihm hingen Schläuche der Sinne und der Zeit, deren Enden tief in ihm drinsteckten oder an ihm befestigt waren und seinen Geist auf Vordermann brachten. Sie endeten an einer stampfenden Maschine, zu dessen linken Abschluss eine vergilbte Sanduhr festgeschraubt war. Die Sanduhr lief gegen den Uhrzeigersinn. In ihrem Innern fuhr linksgedreht ein Gummikolben auf und ab, er presste mittels Wasser nach unten, verengte sich zur Mitte hin, schlüpfte hindurch und vergrößerte sich wieder, was wie Sand wirkte. Dann zog er sich zurück und begann von vorne. Er drückte die aufkeimende und knappe Zeit stetig in die fingerdicke Schlauchöffnung, die an seinem Hinterkopf unter dem Helm endete. Eine Nadelanzeige daneben, ähnlich einer Uhr mit Zifferblatt, zitierte und zitterte stetig, ihre Ziffern darauf suggerierten, dass die Zeit zurücklaufen könnte, raus aus dem Schlauch, wieder hinein in die Sanduhr, zurückgesaugt vom Kolben, immer noch linksdrehend. Die Anzeige daneben war zuständig für die Geruchsbalance, suggerierten Gerüche doch Tatsachen, die nicht vorhanden waren. Ein schlechter Geruch aus den tiefen Achselhöhlen (woher sonst?) der Fressfotzn trugen die Hölle der toten Nasen zur Schau, doch in Wahrheit war sie ein wunderbarer Tropfen, der wiederum ein hervorragender Gastgeber war. Der sich stetig drehende Glasbehälter etwas weiter in der Mitte, rechtsdrehend, vermischte die guten und schlechten Gerüche der bekannten Welt, die wie dunkle Totenköpfe und helle Elfen um die Vorherrschaft rangen. Der Schlauch, der die Mischung dann in die Nasennadel des Giftmischers drängte, sorgte dafür, das nasale Geruchsergebnis und die Vorurteile zu trennen wie den fetten Oberstadtfrack von seiner Leberkässemmel. Unter seinen Fingernägeln klemmten tief kleine Röhrchen, aus denen die Essenz der groben und feinen Gefühle flossen, die am gusseisernen Kasten durch harsche Bürsten und streichelnden Samt herausgepresst worden waren und regelmäßig ausgetauscht werden sollten, was der Giftmischer zu selten tat. Weiter oben waren die weit aufgerissenen Augen nicht zu verstöpseln, sie drückten nach vorne und mutierten zu Knödelaugerten, es war ihm unmöglich die Schalusien darüber zu drücken, verhinderte doch ein Drahtkonstrukt das Schließen derselben. Die daran angeklebten Schläuche spülten abwechselnd Wasser als Ersatz für die Tränenflüssigkeit und eine rote Brühe in seine Glotzer. Ausgangspunkt war ein schnell zirkulierendes kleines Fass, kaum zu erkennen, ob links oder rechts herum, so schnell war es, in dem die Zentrifugalkraft das durchsichtige vom roten ausdröselte und der Sog einmal vom Wasser und von der roten zähen Flüssigkeit naschte und es in die Röhre beförderte. Auf seinem Bläschel, seiner Zunge, pappten Plättchen für die üblichen Geschmäcker, doch damit war der Giftmischer nicht zufrieden, war der Geschmackssinn doch ebenso abhängig vom Geruchssinn, was ein jeder bei einem teuflischen Katarrh nachvollziehen konnte. Und doch tröpfelte auch hier etwas in seinen Körper, ein Schaber am Ende der Plättchen verteilte es gleichmäßig auf seinem Bläschel, süß und sehr süß, bitter und umami (das keiner außer ihm damals kannte), salzig und sauer und doch liebte er das Süße am meisten und so war das wabernde Fett in der Maschine, auf dem die Geschmäcker ruhten noch süßer eingestellt, als es eigentlich sollte. Die Schläuche, die aus den Ohrwascheln des Giftmischers kamen, sich zu einem zusammentaten und an der Maschine in einem schmatzenden und kauenden Topf, der als Zopf einen Tauchsieder hatte, waren gefüllt mit samtgelben Ohrenschmalz, dem trockenen Zerumen, mit hohem Anteil an gesättigten Fettsäuren, denn diese filterten das aus, was der Giftmischer nicht hören sollte, nicht hören wollte, Nuancen und Schwingungen, die mehr sagen konnten als Worte selbst.

Doch das Gschmarri von Mia hatte er gehört. Abrupt riss er sich die Utensilien aus und hüpfte zurück auf den Boden seines Heims. Er riss sich die Gläser vom Haupt und stellte sein Sinnesradio ab. Die Zahnräder darüber drehte er eilends auf »Normal« zurück, das Blubbern und Gluckern des Wassers erstarb. Ein Zahnrad ist ein Zeitrat, hatte er immer dazu gesagt.

»Geschockt? Das Oberstadtwrack?«

Mias Ziehvater war kaum als Element Wasser erkennbar. Die Tröpfchenform eines jeden Einwohners war nur vage an ihm ablesbar, doch wie die Tropfen auch, reichte er Mia nur bis zu deren Hals. Sein Körper war verhüllt in ein buntes, mit Brandlöchern übersätes Baumwollhandtuch, sein Kopf unter einem grauen Stahlhelm, der nicht von dieser Welt schien und eine Erinnerung an einen Krieg hervorrufen würde, wenn üppiger Kampf den Einwohnern überhaupt bekannt gewesen wäre. So aber wirkte er auf viele wie ein verrückter Spinner. Seine schief auf der Knollennase sitzende Rundbrille tat ihr Übriges. Er schlupfte in seine dürren Schlappen, während Mia wie stets im Haus bloßfüßig unterwegs war.

Ihre Stimme war voller Unsicherheit: »Er hat wohl die Sorge, dass die Urgewalt den Schrein zerstört und Unglück über uns bringt! Ich habe übrigens ein neues Kleid genäht. Soll ich es anziehen?«

»Nein. Nein, das ist es nicht.« Was für ein Themenwechsel!

»Das mit dem Kleid?«

»Nein. Nein, das ist es nicht. Es ist das mit der Urgewalt, mein Kind!«

Eilig, aber traumhappert, legte er den Stift ab und stürzte auf die Aufzugsplattform, die ihn nach einem Knopfdruck graziös nach oben beförderte. Er flog an den gläsernen Behältnissen vorbei, zog hier und da eines heraus, während der Staub um ihn herum schwofte. Er schüttelte immer wieder den Kopf, um gleich danach den Helm zurück in die richtige Lage zu setzen und weiterzuziehen. Schließlich packte er eine Leiter, zog sie hart bis an das Ende der Galerie, an die gegenüberliegende Seite. Mia beobachtete ihn mit fragenden Blicken, doch sie wartete und beobachtete das summende Treiben über ihr.

Er kletterte die Leiter hoch, bis unter die Decke und zog dort eine unscheinbare, schmale Vierkantflasche heraus.

»Heureka!«, sprudelte es durch den Raum. Nur wenig später stand er wieder unten vor ihr. Er nahm einen kleinen Schluck, er benetzte damit seinen Bläschel, schmatzte und schluckte ihn hinunter. Sofort drang das Wissen hinein in seinen Kopf, seine Guckserl begannen zu leuchten.

»Also. Der Berg über dem Meer. Ganz klar, es könnte auch einen Berg im Waldmeer geben, oder mehr Berge, oder solche, die wir gar nicht bergen können, weil sie sich verbergen.« Wie ein kleines Schlitzohr zog er die Nasenspitze nach oben, die Augen zusammen und grinste von einer Seite zur anderen. Er richtete seine Brille. Doch sofort wurde er wieder ernst: »Das kleine Oberfrackwrack unserer noch kleineren Stadt weiß noch vielleicht von dieser süßen Sage hier, wobei ich davon ausgehe, dass es eher die Altmuffligen sind, die sich daran erinnern. Einen Moment!« Sein Zeigefinger schnellte in die Höhe. Und schon war er erneut unterwegs, dieses Mal zu den drei Rohren, diesen Tröten, die da direkt und nebeneinander über der Haustür hingen. Es war das Meldesystem der Stadt, in dem nicht nur wichtige Nachrichten, sondern manchmal auch Musik übertragen wurde, die vom Musihaberer initiiert oder gar aufgeführt wurde. Mia hatte es mit ihrem Theater noch nicht zu einer Übertragung per Gschmarriwuchtel gebracht. Der Giftmischer mochte diese Tröten nicht, er hatte sie nicht bestellt und er hörte auch nicht zu, aber doch hatte er den Einbau erdulden müssen. Was bildete sich der Sinnierer eigentlich ein? Oder war es der Oberstadtfrack? Oder der Botschaftsspreißler gar? Zumindest fühlte er sich verfolgt. Was, wenn der Schall nicht nur sein Haus gepumpt werden würde, sondern auch abgezogen wie bei einem Schmutzwusch? Daher hatte er sie verstopft, was er nun jeden Tag prüfte. Nach getaner Sorgfalt setzte er sich zurück zu Mia.

»Eine Sage? Und … wieso der Berg?« Sie setzte sich in einen kleinen Sessel neben der Feuerstelle. Wie die Klamotten des Giftmischers war der bunte Stoff mit Brandlöchern übersät. Der Giftmischer gesellte sich dazu, er wirkte leicht beschwipst, eine Folge, wenn die Trinkbücher zu lange offen herumstanden und zu gären begannen. Zwischen ihnen stand ein Glastisch. Brandfleckenfrei. Mia nahm dies alles schon nicht mehr wahr. »Das hört sich spannend an.«

»Einen Moment.«

»Was ist?«

»Verfluchter Parasit!«

Der Giftmischer ploppte hoch und eilte in Richtung Haustür. Er zog dabei einen Hausschlappen vom Fuß und holte aus.

Dann schlug er zu. Und noch einmal. Und noch einmal.

»Ein Glupscherl?«

»Ein Glupscherl. Lästig.«

Glupscherl waren heidelbeergroße, braune Ungeziefer, die mit ihrer kugelrunden Form über den Boden rollen konnte. Wenn sie stillstanden rissen sie ihr Einauge auf und glotzten. Der Giftmischer tat alles, um sie aus dem Baum zu halten. Doch immer wieder fanden sie Nischen und Ritzen.

Er holte eine Schaufel und beförderte den zu Matsch geschlagenen Eindringling nach draußen. Es widerte ihn an.

»Sie beobachten einen. Sie beobachten ganz genau. Wie diese Gschmarriwuchtel. Die Oberen schicken sie. Bestimmt! Spione!«

»Übertreib nicht!«, lachte Mia.

Frohgemut über seine Heldentat kehrte der Giftmischer zu Mia zurück und fuhr fort.

»Sagen sind überbewertet, deswegen heißen sie Sagen. Sie sagen kaum was aus. Also eigentlich Kaumwasaussagen. Eindiemal schläft man dabei vor Langeweile ein, dann müssten sie Sägen heißen. Eigentlich müssten sie Schreien heißen, Gerücht, oder Pein oder Bier, denn sie schmecken grässlich und … es ist zum Schreien! Wie du weißt sind wir das Element des Wassers … nun gut … vielleicht mehr oder weniger. Auf jeden Fall leben wir in diesem mathematisch nicht richtig definierten, aber doch einem Kasten ähnlichen Quader. Eigentlich existieren wir in einem gigantisch großen Zimmer, das von Felswänden umgeben ist, deren Bevölkerung zu fünfundneunzig Prozent aus Wasser besteht. Ja, die lieben Tropfen. Der obere Teil ist der Himmel, wo wir wissen, dass sich darüber Unmengen an Wasser befinden.«

»Weil wir das Element Wasser sind.«

»Unsinn. Das ist Zufall. Die anderen Elemente wie Luft, Erde und Feuer haben keinen Lufthimmel, Erdhimmel oder Feuerhimmel über sich. Nun, beim Element Erde könnte es doch so sein und auch bei Luft … es kommt darauf an, wie weit man einen Himmel definiert. Wie dem auch sei, wir wissen es auch nur, weil der Himmel einst einen Riss erlitten hatte, der sich im Dusel wieder verstopfte. Die Tropfen hatten Angst, der Himmel könnte alle ersaufen, welche eine Ironie … und weiß der Empedokles, warum das so ist.«

»Warum schwimmt ihr nicht einfach durch? Im Gegensatz zu mir könnt ihr im Wasser …«

»Ein Mythos! Wir atmen! Wir bräuchten ein Experiment, dass Tropfen … irgendwann werde ich mir einen Freiwilligen holen und es ausprobieren. Du hast es selbst schon probiert und … der Himmel, wer sagt, dass man da durch kann?«

»Wenn der Himmel einstürzt, dann …«

»Die glorreiche Zeit des Wasserelements muss lange her sein. Wir wissen kaum was darüber. Ironischerweise hat Wasser alles davongetragen. Etwas Schreckliches muss irgendwann mal passiert sein. Und all die Trinkbücher … sind leider sehr vergänglich.«

»Der Sinnierer passt aber auf uns auf?«

»Ich liebe deinen Humor. Liebes, du bist doch inzwischen alt genug, es besser zu wissen. Der Sinnierer liebt nur seinen Rat der Elemente, dessen Ratsvorsitzender er ist und bleiben möchte. Was interessiert da das Volk? Wobei der Schrein schon wichtig ist, ohne Frage!«

»Was ist nun mit dem Berg? Geht es nicht eher um die Urgewalt?«

»Der Kofel ist eigentlich namenlos, doch er wird der »Verbotene Berg« wegen eines Gesetzes genannt. Das soll wohl die Erhabenheit, Furcht und Demut zeigen, die wir vor ihm haben. Nun zur Sage, dessen letzten Geschichte ich nun intus habe: Der Berg steht stets im Nebel. Ein Wasserprodukt übrigens. In diesem Nebel lebt angeblich ein Tier.«

»Was ist ein Tier?«

»Nun … es ist wie ein Insekt. Nur größer. Und ansehnlicher. Wie wir! Mit einem Knochenbau, die Haut vollständig bedeckt, so als ob Baumwolle direkt auf deiner Haut wächst. Wie deine langen Haare, die du trägst, nur überall. Zotteln halt!«

»Es wächst am ganzen Körper?«

»So ist es. Und sie laufen auf allen vieren, weil sie vier Beine haben. Zumindest dieses Tier. Aber ich denke nicht, dass es sowas gibt. Ein Mythos!«

»Vier Beine?« Vier Beine, zwei Hände … was für ein Wesen! Sie malte es sich aus. Wie es fest auf dem Boden stand, mit dreckiger Wolle überzogen, mit den beiden Händen ein Glas Wasser trinkend. Die Augen glühten böse.

»Tier. Tier. Ein seltsames Wort. Tiiiierr. Wobei es verschiedene Arten gibt. Wir kennen Kleingetier, Insekten, wie Ameisen, Bienen, Spinnen, Mücken oder Fliegen, aber so ein … Säugetier … keiner traut sich auf den Berg, also hat es nie jemand gesehen.« Er breitete seine Arme nach oben aus. »Vielleicht findet sich oben in den Gefäßen noch das eine oder andere Versprechen über die Existenz eines solchen Individuums. Aber es ist unmöglich, sie alle durchzutrinken.«

»Macht einer deiner Tränke aus jemandem ein Tier?«

»Mach dich nicht lächerlich, Mia!«

»Überall stehen hier kleine Fläschchen und Dosen, die vielleicht ein Zauberpulver beinhalten wie Mach mich zum Tier!«, wurde Mia euphorisch.

»Ich muss dich enttäuschen. Obwohl … lass mich nachdenken. Es macht einen vielleicht nicht äußerlich zum Tier, aber dein Verhalten könnte dich dazu machen. Aber es ist nichts, was wir nun ausprobieren müssten. Tropfen sind im Übrigen manchmal schon Tier genug. Ein Säugetier.«

»Ein Säugetier, weil es ... am Glas saugt?«

»Nein, an der Brust. So wie die deinen. Solltest du ein Kind gebären, dann ...«

»Ich habe noch nie einen deiner alkoholischen Tränke probiert«, wich sie aus.

»Weil du ein quietschfideles und pumperlgsundes Mädchen bist. Aber diese Tränke sind nicht nur bei Krankheiten gut, oder dafür, zum Tier zu werden. Die Sage basiert auf einer Erzählung Empedokles’. Ein Wesen, das mal hier war, wie so viele schon. Lange her. Siehst du diesen Kasten da drüben?«

»Den mit den vier großen Ziffern?«

»1863. Was mag es bedeuten? Etwa alle sechsunddreißig Dekadentage zählt es um Eins weiter. Unregelmäßig und doch auch nicht. Ist es die vergangene Zeit, seit Empedokles hier war?« Er drehte sich zurück.

»Ist nicht auch auf meinem Tuch eine ähnliche Zahl? 1845?«

Er nickte, ging aber nicht näher darauf ein. Stattdessen fuhr er fort: »Empedokles war der Sohn reicher Eltern und Großeltern. Er war Philosoph, Politiker, Redner, Dichter, Arzt und Alchemist. Vielleicht war er ein Tropfen. Vielleicht ein Tier. Wir wissen es nicht. Vielleicht war er sogar wie du!« Er lachte lächerlich, übertrieben gar, dann beobachtete er Mia innig, ob sie ihm zuhörte, ob sie reagierte. Sie hing an seinen Worten, wieder einmal. Wissenstransport, obwohl sie diese Geschichte schon kannte. »Er war weise, redegewandt und allwissend. Das führte zu Irritationen, denn die Leute erkannten nicht, wen sie da vor sich hatten! Denn er ist der Gründer der vier Elemente. Vielleicht aber auch mehr. Schließlich verjagten sie ihn, verbannten ihn, weil er ihnen überlegen war, unheimlich, modern, philosophisch, reinigend. Wo leben wir? In einem Kosmos, in einer Ordnung und Beschaffenheit. Und darin erkannte er: Das Werdende und das Vergehende ist wahr, doch das Sein selbst unterliegt keiner Veränderung. Die Ursprünge des Seins sind Wasser, Luft, Erde und Feuer. Sie sind quantitativ und qualitativ nicht fest und wie du weißt, erfüllen sie den Raum! Auch wenn wir das Element Wasser sind, findet sich hier doch auch jedes der vier Elemente wieder, jedes an seinem Platz, ohne dass ein Loch, ein Nichts entsteht. Die Welt, der Kosmos ruht in sich. Er wird zu einer Kugel, Sphairos genannt. Eine Kugel ist der perfekte Körper, es gibt nichts Vergleichbares!«

»Eine Kugel, wie Tropfen es sind.«

»Ein Tropfen hat seine bekannte Form, kurz nachdem er sich löst, von einem Wasserhahn zum Beispiel. Er selbst ist aber kugelrund nachdem er sich gelöst hat. Perfekt! Unvergleichbar!« Er lächelte. Sie war eine hervorragende Schülerin, er liebte es, sie zu lehren. Bereit für höhere Weihen! War die Zeit schon gekommen? Die er nie für möglich gehalten hätte und doch an ihr schon vorbereitet hatte?

»Stimmt es ... Tropfen können nicht lieben?«

»Ich habe versucht, dir Liebe zu geben, wie ein Vater seiner Tochter nur Liebe schenken kann. Aber es stimmt. Tropfen sind folgsam. Da ist Liebe, aber auch Hass nur hinderlich.«

»Kann ich dahin zurück, wo ich herkomme?«

Des Giftmischers Stimme wurde leiser, intensiver: »Nur einer hat es geschafft, diese Grenzen je zu überwinden!«

»Empedokles!«

»Verblüffend!« Er nickte ein paar Mal zufrieden. Dann stand er auf und legte etwas Holz auf die Feuerstelle in der Mitte des Raumes. »Ein armer Tropf wie ich wirft Erdenholz in das Feuer, das mithilfe von Luft brennt.«

»Und dem Wasser gefährlich wird.«

»Ist es nicht eher umgekehrt? Das Wasser wird dem Feuer … gefährlich?«

»Viel Feuer … wenig Wasser, das Wasser verdampft. Viel Wasser, kleines Feuer … das Feuer erlischt!«

»Streit. Kampf. Macht! Irgendjemand tut einem Anderen was an. Von wegen folgsam! Jeder kann einem anderen Leid antun, vor allem, wenn er in der Überzahl ist. Empedokles war der Ansicht, dass Unrecht, Gewalt oder gar Krieg sich an dem Urheber rächen würden, Schritt für Schritt, Lebensform für Lebensform. Irgendwas lief hier in unserer Welt schief. Er musste das Element verlassen und ins Exil gehen. Erst dort wurde er zum Seher, Philosoph, Wundertäter, es muss eine grandiose Welt gewesen sein, in die er als Strafe hineingeraten war.«

»Wo kann diese Welt sein?« Sie hielt inne. »Oh, beim Empedokles … die umhüllte Spitze des Berges ist der Weg dorthin!«

»Du faszinierst mich, Kind!« Noch einmal stand er auf, um ihren Kopf zu streicheln. Würden nur alle Wassertropfenschüler so schlau sein wie Mia. Aber dann wären sie nicht mehr hier.

»Und was hat das mit der Urgewalt zu tun?«

»Eine andere Sage besagt, dass Empedokles die vier Elemente nicht erschaffen, aber doch entdeckt hat. Die Urgewalt, ein Art Wolke oder Nebel, wie um den Berg herum, gilt als so etwas wie das fünfte Element. Angeblich sieht es sich aber als einziges Element. Wenn dem so ist und sie zerstört den Elementeschrein und damit alle vier Elemente, ist das Ende der uns bekannten Welt unabwendbar. Dies wird momentan als größte Gefahr vom amtierenden Sinnierer gedeutet. Oder eigentlich mehr vom Oberstadtwrack, wie du es ja eben selbst gesehen hast. Er hat sich dem Kampf gegen die Urgewalt verschrieben.«

Giftmischer! Besorge mir mehr von dem Zeugs! Es ist so kraftvoll und einschüchternd! Ich werde die Urgewalt besiegen! Besorge mir mehr von dem Zeugs. Oder ich tu ihr was an!

Es war meistens schön, sich mit ihm zu unterhalten. Doch heute gärte irgendetwas in ihm und das direkt nach dem Sinnesradio, was unüblich war.

Der Giftmischer war ein Einzelgänger, wie sie auch, beide waren keine typischen Tropfen, sie vertrauten einander, sie traute sich immer öfter, ihr wahres Ich zu zeigen, etwas auszuprobieren und nicht, wie sonst draußen auf jedes Wort acht zu geben, das sie von sich gab.

Das war selbst bei ihrer Freundin so.

Doch die Hemadlenzi war seit einiger Zeit verschwunden. Niemand verlor ein Wort darüber, eisiges Schweigen, gschamte Blicke auf den Boden. Wenige Nachrichten, nur, dass sie angeblich am anderen Ende der Welt sei. Als Strafe. Für ihren Ungehorsam. Keine Liebe.

Am anderen Ende der Welt. Am anderen Ende der Welt! Wo sollte das sein?

Mia vermisste sie. Es war ihr untersagt worden, nach ihr zu suchen.

Sie war eine der wenigen Tropfen, mit der sie sich dennoch gut unterhalten konnte, mit der sie sich verstanden hatte.

Wir hatten oft oben auf der Galerie zwischen den Regalen, den geschriebenen und den Flaschenbüchern Verstecken gespielt. Sie hat oft gewonnen, weil sie so klein und biegsam war. Ich habe ihr Geschichten aus alten Büchern vorgelesen, während sie aus Flaschen getrunken hat und mir deren Geschichten erzählt hat. Manche ergaben keinen Sinn, manche waren lustig, manche nur traurig und oft genug waren wir an wissenschaftliche und alchemistische Schriften dabei, wo wir uns nur fragend ansahen und dann laut loslachten. Wir tollten durch den Garten, wir versuchten an dieser glatten Felswand hochzuklettern und nie schafften wir auch nur die Höhe unserer eigenen Körpergröße. Wir kletterten auf Bäume, wir pflückten heimlich Äpfel, wir naschten Beeren und fingen Fliegen. Sie war mein Glück neben dem Giftmischer, bis sie nach Hause ging, von ihrer Mutter liebevoll empfangen wurde und ihr Vater sie nach der Schule fragte. Es duftete nach Reiberdatschi und es war der schönste Geruch der Welt, selbst wenn er angebrannt war, was die Tropfen umso mehr hassten, weil es wieder ein Erfolg für das Element Feuer war.

Vorbei.

»Lass mich die Geschichte zu Ende bringen, mein Kind. Vielleicht sind die Sagen alles nur Lug und Trug, Falschmeldungen, um von irgendwas abzulenken. Es gibt Deuter, nun, eher Gerüchte, die besagen, dass Empedokles uns alle testen wollte, ob wir rein wären, ob die Elemente wahrlich den Weltkreislauf in Bewegung halten. Es soll eine Wassergöttin geben, Nestis. Aus ihren Tränen sollen wir Tropfen entstanden sein. Ist unser See weit hinten das Grab der früher geweinten Tropfen?«

Unwillkürlich dachte sie erneut an Hemadlenzi. War sie dort? Vielleicht sogar …? Mit dem Wasser aus dem Bach, der aus dem See kam, wurden zudem die Felder und Stadtpflanzen gegossen.

Tranken sie ihre Leichen?

»Ich weiß, was du denkst, mein Kind. Aber Wasser ist Leben und Kreislauf. Eines Tages erreichte eine Nachricht die Elemente. Empedokles sei tot. Irdisch geworden hatte er es nicht geschafft, ein Gott zu werden. Er soll sich in einen Vulkan gestürzt haben.«

»Einen Vulkan?«

»Ein Berg, der schmelzendes Gestein in sich trägt, tief aus seinem Inneren nach oben drückt, als hätte er Bauchkrämpfe und schließlich ausspuckt. Dieses Magma sei flüssig, gasförmige und feste Stoffe werden mit hinausgetragen. Er ist wie eine Frau. Er kann plötzlich und grundlos wütend werden und die Umwelt vergiften. Wie die Frau des … nun … es gäbe einige Beispiele.«

Mia fand das böse. Und lustig. Und traurig, stand doch keine Liebe dahinter.

»Vulkane gelten als Sitz der Götter. So gesehen ist die Sage, das Gerücht, Empedokles starb in einem Vulkan nicht ungewöhnlich. Und doch merke dir eines, Mia. Es gibt keine Götter! Es gibt sie einfach nicht! Empedokles war auf dem Holzweg und das als Entdecker oder Gründer der Elemente! Er hat sich in unsere Sprache und Gesellschaft genistet als Zeichen der Überraschung, aber es gab nichts, was übersinnlich war, was als Wesen die Welt erschaffen hat. Denn das waren die Elemente. Wasser, Erde, Luft, Feuer. Er war ein Blender, einer der Flatulenzen entfachte! Er war nicht der, der er zu sein schien. Vielleicht war er in seiner Welt nicht mehr zurechtgekommen und hat sich in der unseren einfach übergeordnet angepasst. Eigentlich nicht dumm!«

»Und doch ... bedeutet das, der Berg ist der Weg ... vielleicht zu meiner Welt? Ergeht es mir unfreiwillig so wie ihm?«

»Der Berg ist für Tropfen verboten! Es ist ein altes Gesetz.« Der Giftmischer blinzelte bedeutungsschwanger. »Aber wie gesagt, es sind unbedeutende Sagen. Auch ohne diese erkennt man mit gesundem Verstand, dass der Kofel einfach zu gefährlich ist. Ich persönlich glaube die Sage nicht. Und der Himmel selbst ist eine Sperre.«

»Glaubst du nicht daran, weil ich … aus dieser Welt komme?«

Ihr Magen schmerzte, ihr Kopf dröhnte. Nachdruckverhalten.

Er winkte lapidar ab. »Genug philosophiert … Du warst auf dem Markt, wie ich sehe. Lass uns essen! Mein Magen knurrt wie der eines ausgehungerten Tieres! Tiiiier!«

Es war dunkel geworden über Klatschertnass. Mia war zu Bett gegangen in ihr kleines, aber feines Kammerl mit seitlichem Blick auf die Stadt.

Sie schlief tief und fest, als der Giftmischer sie noch etwas zudeckte.

So, wie er es immer getan hatte, seit sie ein Kind war. Er würde es heute ein letztes Mal tun. Sie war nun kein Kind mehr.

Er stand in ihrem Kammerl. Es war karg eingerichtet und immer aufgeräumt, kein Ramasuri wie in seinem Labor. Ein Bett, ein Teppich aus getrocknetem Gras lag über den Holzdielen. An der Wand stand ein runder Schrank, in dem sie ihre selbstgenähte Kleidung ordentlich aufgereiht hatte, auf dem Nachttisch verteilten sich ein paar Blätter Papier für die schnelle Notiz, wie es für einen Nichttropfen wohl üblich schien. An den Wänden hingen selbstgemalte Bilder, einige schief. Viele waren sehr dunkel, finster. Doch sie war kein Mädchen, dass Angst in der Dunkelheit hatte, zumindest hoffte er das nicht. Oft genug war sie im Finsteren ausgebüxt, um durch die Straßen zu ziehen. Wieder geisterten Bilder durch seinen Kopf, wie er sie ... doch es war gut so.

Neben ihm ... ihr Spiegel an der Wand. Das Bild war glasklar, das Wasser floss perfekt. Er sah sich darin. Sein holziges Gesicht, mit all den Maserungen und Kanten. Alt war er geworden, verbraucht, verschlissen. Zeichen eines langen Kampfes, der noch immer andauerte. Er berührte mit den Fingern den Spiegel und der leisen Hoffnung, sein Spiegelbild dadurch glätten zu können. Doch das Wasser umkurvte das Hindernis und sein Antlitz verschwamm ins Unkenntliche.

Ihr zartes Gesicht rückte wieder in seinem Fokus. Ihr ganzes Leben lang beobachtete er sie schon. Ihre Veränderung, innen wie außen. Ihr Wachsen. Ihre Frisur. Ihr Lachen. Ihr Weinen. Ihr Suchen. Ein Bild von ihr hatte der Giftmischer aus dem Spiegel irgendwann einmal abgezogen. Es war gut versteckt.

Das Bett hatte sie stets selbst gebaut und vergrößert. Die Bettenbrettl für das Brettlbett hatte sie sich vom Brettlbauer vorsägen lassen und dann selbst zusammengezimmert. Tatendrang.

In der WWW war sie oft geschnitten und gemobbt worden. Kinder konnte grausam sehen gegenüber denen, die nichts auf die Reihe brachten und denjenigen, die als einzige wesentlich schlauer, auffassungsfreudiger und auch größer waren. Tropfen selbst waren nicht mit Intelligenz gesegnet. Es gab keine herausragenden Persönlichkeiten, keine großen Dichter und Lenker, keine Charismatiker und Tropfenfänger. Alles geschah im Kollektiv. Herausragen war schlecht, in jeder Hinsicht. Sie hatte viel durchmachen müssen. Sehr viel.

Wie lange würde er sie noch einfangen können? Sie in der bekannten Welt agieren lassen? Er lächelte. Das war gar nicht in seinem Sinne. Überhaupt nicht!

Sie war anders, das wusste sie. Das wusste er. Sie war lebensfroh und hilfsbereit. Sie mochte keine Tropfenmassen, auch wenn es nicht allzu viele Tropfen überhaupt gab. Sie interessierte sich für alle neuen Dinge, sei es von ihm oder dem Erfinderinschinör, sie probierte selbst neue Sachen aus. Und sie liebte ihr Theater. Nicht mehr lange, und sie würde selbst auf der Bühne stehen. Talent dazu hätte sie. Und es wäre etwas Neues in Klatschertnass. Aber sie hätte eine größere Bühne verdient! Sie würde sie bekommen!

Und sie war in Gefahr. Durch ihn. Durch sein Tun und Handeln.

Er streichelte ihren Kopf. Sie wusste nicht, welche Last auf ihr lag. Er überlegte, sie mitzunehmen. Doch oben könnte sie genauso in Gefahr sein. Er ahnte es zumindest.

Und nun?

Sie ermuntern, doch nach oben zu gehen? Wo sie hingehörte? Oder hier zu lassen um den Oberstadtfrack ruhigstellen? Aber konnte er sie überhaupt aufhalten?

Sie war die Person in seinem langen Leben, mit der er am meisten gesprochen hatte. Und für die er so etwas wie Zuneigung hegte. Verantwortung. Vaterliebe.

Und doch konnte er niemals ihre wahren Eltern ersetzen. Eltern, wie sie andere Tropfenkinder hatten.

Nie hatte sie den Kopf weggedreht. Weggehört. Desinteressiert. Nie.

Sie liebte es, ihre eigene Kleidung zu schneidern, und es machte ihr nichts aus, Kopfschütteln von den Tropfenfrauen dafür zu ernten. Sie waren es nicht gewohnt, während sie sich daran gewöhnte.

Sie konnte einen Ball werfen. Und das schon als sie noch nicht einmal laufen konnte. Und als sie laufen konnte, beließ sie es nicht dabei. Er war damals nahe eines Herzinfarktes, als sie die Galerie hochgeklettert war.

Sie hatte nie eine Freundin. Außer die Hemadlenzi.

Doch sie war gegangen.

Das tat ihm leid.

Er hoffte, er würde nun ihr Freund sein, die freigewordene Stelle besetzen können. Niemanden zum Reden zu haben lässt einen sterben. Erst den Geist, dann den Körper.

Still verließ er ihr Kammerl und begab sich direkt zum Ausgang.

Einen Spalt weit öffnete sich die Tür des Wurzelhauses. Der Giftmischer spitzte mit neugierigen Augen heraus. Der Lichtlamacher hatte seine Arbeit bereits getan und die fast haushohen Lampen entzündet, die warmes Licht auf dem Festland des Elements Wasser verbreiteten. Im Gegensatz zu früher war seine Arbeit einfacher geworden. Er musste nicht mehr jede Fackellampe ankurbeln, er brauchte nur noch einen Drahdium betätigen, der das Wasser zu den Lampen leitete und dieses eine Turbine antrieb, mit Magneten versehen, und das Wasser just an höchster Stelle zu Leuchten brachte.

Es war kein Tropfen auf den Trottoar zu sehen. Der Spalt öffnete sich vorsichtig weiter und er spähte zum Gmeindestadl hinüber, der im Dunkeln lag. Der Sinnierer aus dem ersten Stock außer Haus, der Oberstadtfrack, der ebenerdig wohnte und seine Stuben nach hinten hinaus hatte, war ein Pfleger des Schlafs und daher immer rechtzeitig im Bett. Wie Mia auch, die sich während des Abendessens sichtlich Gedanken über die erzählte Geschichte gemacht hatte.

Der Giftmischer huschte aus seinem Rundhäusl heraus, schloss dabei die Türe und überquerte den Weg rüber zum Gmeindestadl. Zur Nachtruhe schallte engelsgleich eine Melodie durch die Stadt, hinausposaunt durch die Gschmarriwuchteln, eine elfenhafte Stimme unterlegt von einer Violine, die die Bürger beruhigen und in den Schlaf begleiten sollte. Gschmarri halt.

Am Stadl angekommen, prüfte er die Gegend. Er lupfte seinen Stahlhelm, darunter kam seine aufflammende Schädeldecke zum Vorschein. Dann schwenkte er Kopf und Flammen zum Mauerwerk des Gmeindestadls und studierte im Feuerschein die Bilder, die Mia erwähnt hatte.

Drei Bilder, in verschwindenden Kontrasten, doch immer dasselbe Motiv: Die aus den Tiefen des Tunnels herauskriechende Urgewalt, die sich am Elementeschrein vergehen und dann zerstören würde. Skizzen aus der Zukunft.

Seine Hand griff nach dem dunkelsten Bild, doch er zögerte. Seine Griffel zogen sich zusammen, sie wollten eine Faust bilden, doch sie überlegten nur, so wie er überlegte.

Der Oberstadtdepp von einem Oberstadtfrack hatte diese Bilder initiieren lassen. Er wollte den Tropfen Angst machen und den Sinnierer in seiner Abwesenheit schwächen. Vielleicht aber war es doch wahr, denn kurz vor der Veröffentlichung hatte er den Giftmischer gedroht, Explosives zu besorgen, um die Urgewalt bekämpfen zu können. Er wollte dies alleine tun, was ein Akt auf dem Wasserstrahl bedeutete. Es war ein gefährliches Spiel und der Giftmischer vermochte es nicht einzuschätzen. Was, wenn …?

Er sah abhin zur Stadt, zu den Lichtern, die über die gepflasterten Wege flackerten, in den Häusern Wärme verströmten, doch er konnte nur ahnen, wie unwohl sich die Einwohner gerade fühlten.

Wieso hatten sie nicht ihn um Rat gefragt?

Sie schickten die Kindstropfen zu ihm, sie fragten ihn, falls die Ernte Schwierigkeiten machte … aber hier … schnitten sie ihn genauso, wie sie auch Mia schnitten.

Der Giftmischer konnte das alles nicht deuten, nicht erklären. Er war Alchemist und kein Wegbereiter. Der Oberstadtmacker hatte zudem ein gutes Wasserwerk unter den Tropfen geknüpft. Er konnte niemanden trauen, geschweige denn alleine kämpfen.

Er setzte seinen Stahlhelm wieder auf, das Flackern verschwand. Sein Bote war noch nicht zurück.

»Unheil«, brummelte er. »Unheil!«

Der Oberstadtfrack hatte sein Gemurmel gehört, stand er doch hinter der Tür seiner lichtlosen Amtswohnung.

Unheil. Genau!

Er grinste und feixte.

Die Märchenkönigin

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