Читать книгу Die Märchenkönigin - Der Augenlauscher - Страница 4

Klatschertnasswasserwelt

Оглавление

Verortet und verstohlen,

verträumt liegend in Talsohlen.

Die Welt des Wassers war wundervoll.

Vollgesogen mit schierer Freude plätscherte das kühle Nass glasklar durch die schmalen, steinernen Kanäle der kleinen Stadt Klatschertnass. Das Wasser war so rein und herzerfrischend, dass ein Jeder diesem lebenswichtigen Schmalstrom tagein, tagaus mit sämtlichen seiner Sinne begegnen wollte. Beobachtend und lauschend, freudig und lächelnd, entzückend und erquickend. Ja, das war die Welt von Klatschertnass.

»Passt auf und hört ihr Leut’, der Oberstadtfrack hat mir aufgetragen heut’, euch zu sagen, euch gar ins Ohr zu jagen, dass aufd Nacht nicht mehr in den Bach geodelt werden darf. Denn sonst macht das Wasser unseren Most so scharf!«

Nun, es sollte nicht so werden wie beim vorletzten Mal. Da war das Wasser verdreckt und verklumpt, verschnupft und verstunkt. Ein Jungbrunnen musste damals her, um es wieder kristallklar werden zu lassen.

Das sonst allerweil fidele Bächlein verzweigte in das weite und doch abrupt begrenzte Gefilde. Es floss durch das Dorf, unter Brückerln hindurch, das Land, den Wald und schließlich hinein in einen kleinen See und von dort irgendwohin ab. Die Anwesenheit der höchsten Pflanzen in der Gegend dieses eingepferchten Landstrichs war eher eine zufällige Baumbegegnungsstätte als ein Wald. Der Wuchs der stämmigen Pflanzen war, egal ob Obst oder Nadel, nur doppeltropfengroß, spärlich, kläglich und mehr grünbraun als braungrün. Deren Äpfel und Birnen wurden mit Wasserdruckmaschinen gepflückt und gelesen, verfrachtet und eingelagert. Gepflückt und gelesen, verfrachtet und eingelagert wurden ebenso Sträucher, Stauden und Küchengewächse.

Die Ernte war nunmehr geschafft, der Schweiß versiegt, die Schwielen versorgt, die Schwermaschinen gewartet. Jetzt ging es ans Eingemachte, und zwar dem des Obstes, das Einlagern von Gmias und ans unvermeidliche Rammerdammer. Schließlich, am Ende und zu guter Letzt am Schluss ans Wischen und Bohnern im ganzen Land. Danach würde es eine Gaudi geben.

Die Eingeborenen dieses kleinen Landstrichs, die Tropfen, waren mit sich im Reinen, sie sangen und lachten, sie feixten und klatschten, sie arbeiteten hart und schwer zwischen Mahlzeit und Brotzeit, zwischen Brotzeit und Abendbrot und zwischen Mahlzeit und Abendbrot. Manchmal schliefen sich auch in den verbliebenen Furchen des Nichtessens. Sie waren glücklich, und das, obwohl sie, wie schon erwähnt, in einer sehr kleinen, beengten Umgebung lebten.

Sicher trat der Oberstadtfrack vor die Tür, der hochanständige Bazi. So, als hätte er eine Bühne geentert, den Bretterboden des hohen Schauspiels, den Kampfplatz der machtbesessenen Politik. Die Nase leicht in die ständige Windstille erhoben, der Blick abgrundtief abfällig, aber auch felsenwandhoch mächtig, stand er da am fast höchsten Punkt der Stadt, am Ende der bekannten nördlichen Welt, massiv festgeerdet vor dem Gmeindestadl von Klatschertnass.

Doch Missfallen machte sich in ihm breit. Leere. Unbeobachtet. Missachtet. Niemand sonst war gerade hier.

Er war ein Tropfen, wie neunundneunzigkommafünfundzwanzig Prozent der anderen hier auch, aber er war der zweite Mann im Staat. Er war ungemein wichtig, in den Augen seiner selbst wichtiger als das Tropfenoberhaupt und der Ratsvorsitzende, der Sinnierer. Viele Tropfen nannten ihn, den Oberstadtfrack, hinter den vorgehaltenen Tropfenfingerl das Chefzapferl, das Schleimscheißerl oder den Popperskriecher vom Sinnierer.

Kurz räusperte er sich. Seine Hand fuhr nunter in die Tasch’ und beförderte eine kleine Dose hervor, an der ein Rädchen, ein kleiner durchsichtiger Wasserbehälter und ein goldfarbenes Röhrchen befestigt waren. Zwei Mal schnippte er gegen das Wasser, bis es zum Blubbern begann. Sogleich drehte er am Rädchen und steckte sich das Röhrchen in seine Nase. Das Wasser drückte die gestoßenen Wurzelextrakte auffi in sein Hirn, worauf er fiebrig zu summen begann. Nach einem tiefen Durchschnauferl packte er die Dose wieder weg.

Er hob nicht den Kopf auf zum Himmel, nein, das tat er nicht. Das tat niemand, denn das Wetter war immer dasselbe, es regnete und stürmte nicht, es schien und brannte nichts, es schneite und windete nicht und doch waren alle Häuser nach oben hin mit einem Dacherl verschlossen, der umsorgten Heimeligkeit wegen. Es herrschte stets die gleiche Temperatur, nur die Helligkeit trat ab und an verschieden zugange, die Gründe hierfür kannten sie nicht. Er überlegte kurz, sich im Bacherl abzulassen, wie es Tropfen möglich war, waren sie doch eins mit dem Wasser, doch er zog per pedes vor.

An einem nunmehr gleichen Tag wie jedem anderen setzte sich der schwammige Oberstadtfrack mit seinem krummen Hackelstecken in der Hand in Gang, um mit seinen dürren Steckerlhacken nach unten ins Dorf zu watscheln. Das restliche diesige Tageslicht musste ausgenutzt werden. Sehen und gesehen werden, für was und wen auch immer.

Er war opulent gekleidet, mit aufgeplusterten schwarzen Hosen und einem ausgedehnten, unkontrolliert buntgefleckten und gutgeleckten Oberteil samt und weich zu großem Zylinder. Aber es war so, wie es seine dreihundertdreiundzwanzig Wählerkrampen nebst ihren Rotzlöffeln erwarteten. Er wirkte insgesamt wie eine optische Täuschung, noch runder, als er eh schon war, noch pausbäckiger, noch knalliger, noch karikierter. Eine runde Sache, das war er, aber eine blasse, wie alle hier blass waren. Denn, wie erwähnt, nichts brannte runter vom Himmel, um die papierdünne Haut zu vitaminisieren. Seine Haxn wirkten rund, wenn er lief, sein Wamperl wirkte rund vom vielen Essen, sein Kopferl wirkte rund vom vielen Denken, seine Nase wirkte rund vom vielen Schnupfen, aber halt! Dieser Riechkolben besaß eine knifflige Einschränkung und das war die fitzelige, quarze Schrumpelwarze auf dieser, eine Art Verbotener Berg, aber sie wirkte ebenso rund, wie seine Locken auch rund wirkten, die unter dem obenrunden Zylinder keck rundherum hervor kräuselten. Sein helles Gesicht wirkte freundlich, frisch rasiert und ebenso rund, was in etwa bereits erwähnt wurde und seine Kulleraugen ebenso in Form brachten. Seine Füße wirkten nicht nur nackert, sie waren es auch. Aber sie waren nicht allzu rund, mehr länglich. Rund wiederum war nur der große Zeh. Nur trugen Tropfen, die nicht allerweil feucht oder gar nass waren, selten Schuhe oder Socken. Der Oberstadtfrack zum Beispiel war gepflegt, was von einem Pfundskerl in Machtposition einfach erwartet wurde. Seine Kleidung war gepflegt. Hier die aufgenähten Flecken, um Löcher zu stopfen, die er sich irgendwo in aller Hast gerissen haben musste, dort die Flicken schief aneinander gezwirbelt und getackert. Jeder Faden war aber nicht allzu fachweiberisch angebracht, was darauf hinwies, dass er alleinstehend war und es in Klatschertnass zwar einen Klamotten-, aber noch immer keinen Näh- und Mähladen für Hautbedeckungen und Haarfrisur gab. An seinem rund wirkenden Körper fand sich auch kein Schmuck, es hinderte ihn beim schnellen Umziehen, dazu später mehr.

Zugegeben, er wirkte nicht nur rund, ja, er war es. Er war wie die anderen dreihundertdreiundzwanzig Wählerkrampen samt Rotzlöffel ein Wassertropfen, welcher besonders sichtbar wurde, wenn seine Silhouette einen Schatten, der ihn auf Schritt und Tritt folgen musste, an die Wand eines Hauses oder auf den Boden der gepflasterten Straße werfen durfte. Des Tropfens Größe selbst konnte am besten mit einem laufenden Meter und der Lineallänge von zwölf Tropfennasen beschrieben werden, sie kam dem eines ungequalmten Wunderstumpen am nächsten. Doch physikalisch betrachtet war ihre Körperform indes nicht die kommende Form eines Tropfens in einer normalen Fallposition, sondern die in jenem Moment, in dem er sich von einem Körper ablöste, um sich heroisch nach unten zu stürzen.

Und doch war Mut kein Hauptcharakter der Tropfen.

Der Weg hinunter vom erhöhten Gmeindestadl in Richtung Kleinstadtkern freute ihn stets besonders, folgte er dem Stieg doch bergab, was seine Schritte und seine Laune schnackerlfidel federn ließen. Unten näherte er sich damit folglich dem Innenkern seiner kleinen, aber langgezogenen Gemeinde, linke Pratz’n neben ihm rauschte das Bacherl, dessen Wasser bald für den Apfelwein nötig wäre. Manches musste einfach gestreckt werden. Das hatte er dem Botschaftsspreißler aufgetragen und der hatte ordnungsgemäß und sehr ordinär verkündet, dass die geschäftsfreudigen Tropfen den direkten Weg ins Bacherl eine Zeitlang zu unterlassen hätten.

Kreuzende Tropfen grüßten den Oberstadtfrack jovial und zuvorkommend, einige nahmen sogar den Hut von ihrem Haupt, um ihre Freundlichkeit fast schon popperskriechend ausschweifend kundzutun. Ja, Freundlichkeit tat gut. Tropfen reinigten die Seele. Der Oberstadtfrack fühlte sich äußerlich geschmeichelt.

Wenn ihr wüsstet, ihr Trotteltropfen …

Auf Höhe des Obstlers blieb er derart abrupt stehen, dass seine Zehen etwas schmerzten. Kurz drückte er sich seine Tropfennase am Schaufenster platt, die aufgrund der Glasquetschung sogar etwas zu triefen begann. Er ließ von der nun verschmierten Scheibe ab und trat samt seinem erröteten Erker in den Laden. Die Eingangstüre, die so hoch wie ebendem breit war, stupste an eine kleine Glocke, die hell und taktlos, fast schon anarchisch bimmelte.

»Schau an, der Herr Oberstadtfrack! Ich hab ihren Nasenrammel am Ladenguckerl schon bemerkt. Was darf’s denn sein?«

»Pfiati, mein lieber Obstler, ich hätte einen Hunger. Vielleicht ist es aber auch nur mehr die Lust auf Eure Köstlichkeiten. Eine Leberkässemmel bitte schön für mich, also, bitte schön, zum gführigen Einverleiben in mein’ Ranzen, mein’ aufgeblasenen!«

Der leicht bayerische Dialekteinschlag war typisch wie das gelegentliche Singsang in ihrer Sprache und Ausdruck.

Der Obstler, ein ebenso kugelrunder Tropfengeselle auf schmalen Stecken, nickte. Er trug ein weißes Schiffchen auf dem Haupt, er trug es bestimmt auch im Bette bei seiner Frau, so wie er auch stets seine grundweiße, aber stets verschmierte Schürze trug.

»Eine lange Zucchinischiffchensemmel mit frischen Pilzen und wuchtigen Warzen also. Eine gute Wahl! Aber dennoch möchte ich auf andere Schmankerl deuten. Ich hätte auch noch einen Okotztn, eine blitzfidele neue Kreation. Dazu verrühren wir alle möglichen Obstsorten im Maulwannerl, und quirlen es darin, bis diese wild vermischt wie mundausgeschiedenes Gereihertes als Rachnputzer ausgespuckt wird. Dazu patschen wir eine Gemüsesoße hinzu und wer es würzig will, kann noch etwas Spinnenpfeffer, Wurmapfelsenft oder Laussalz darauf streuen. Oder auch Alkohol, sonst wäre ich nicht der Obstler und meine Frau nicht die Klarer! Eine prima Brotzeit, das gefällt dem Wamperl.« Er rieb sich seinem Bauch, der bei weitem nicht mit dem des Oberstadtfracks mithalten konnte. Und nein, er hegte keinen Neid. Neid war fremd in Klatschertnass.

»Die Leberkässemmel passt scho'!«

Der Obstler grummelte kurz, dann nahm er mit seinen Pranken das Pfund Zucchini auf und platzierte es in der Nähe seiner Säge an der ein dicker Schlauch hing. Spielend leicht legte er einen schweren Hebel um. Im Inneren war das Treiben des kühlen Nass’ zu hören, das sich seinen Weg Richtung Säge bahnte. Dort angekommen, trieb es ein Rad an, welches wiederum mit dem Sägeblatt verbunden war und es mitzog. Das Blatt begann sich unbändig zu drehen. Der Obstler schnitt akkurat die Zucchini in zwei Teile. Der Zucchinispaghettischalenabfall schwurbelte in den Abfluss, wurde zerhäckselt und rutschte in die Haidgrube unterm Haus. Die wiederum war momentan gesperrt, um nicht das Bacherl zu stressen.

Die Semmel dagegen trennte er simpel mit einem Messerschnitt akkurat in beide Hälften und legte sie auf die Theke. Dann platzierte er das überlange grüne Stück auf ein Tontablett und beförderte es in den brennenden Steinofen.

»Ein zartes Gmias, wenn man es rechtzeitig vom Feld und aus dem Feuer holt! Das Feuer … manchmal braucht man es halt.«

»So ist es. Die Ernte war gut! Und die Lagerung scheint dieses Mal funktioniert zu haben!«

»In der Tat!«

Der Obstler kratzte sich am Tez. Waren doch in der letzten Saison die Zucchini unerlaubt neben den Tomaten und Äpfeln gelagert worden und verdorben. Eine Hungersnot war die Folge in der Elementewelt. Was für ein Patzer eines erfahrenen Bauernvolkes!

Flinker als seine fetten Pratzen es vermuten ließen, packte er einen Ofenhandschuh, zog ihn über und holte die rösch gegrillte Kürbisart wieder hervor. Er höhlte sie geschickt aus und platzierte den gewünschten Pilz- und Warzensalat darin. Darauf noch ein paar hellgrüne, sprossige Schlingerl. Schließlich presste er alles in die längliche Semmel und übergab den Hochbau samt baumwollenen Wischtusch für Mund, Mundsäckel, Blasengel und der Fresshand dem Oberstadtfrack.

»Bitte schön, die Leberkässemmel! Kross, in keinster Weise letschert!«

Es mag nun die nicht unberechtigte Frage aufkommen, warum diese Brotzeit Leberkässemmel hieß und nicht Pilzwarzenkrauselschlingerlzucchinischiffchensemmel. Aber Leber in einer Semmel zu essen, wäre doch Käse, oder nicht?

Der Oberstadtfrack sabberte zufrieden, während er in seinem Hosensäckel kramte. Zwei unförmige goldene Münzen tanzten sogleich auf dem Zahlteller.

Selig verließ er den Laden, er pustete kurz, wobei er zudem unvermeidlich spuckte. Genüsslich biss er sodann in seine frisch erstandene Brotzeit. Seine Backen plusterten sich auf, der Blasenengel, jeder Winkel seines Mundinnenraums wurde benetzt von der besten, und zugegeben einzigen Zucchinisemmel in seiner Gemeinde. Die Zunge informierte das Gehirn über den üppigen Geschmack, auch wenn sie leichte Verbrennungen erlitten hatte, und das obwohl eine Tropfenzunge sehr wässrig ausgebildet war.

Das Wischtuch würde er waschen und es dem Obstler zurückgeben. Es gab zwar den Schmutzwusch alle paar Meter, doch der sollte so wenig wie möglich gebraucht werden. Ressourcen waren rar in Klatschertnass, ein Gebrauchtwarenrückgabesystem und regelmäßige Rammerdammer selbstverständlich. Dieser Schmutzwusch hatte die Form eines Trichters, an dessen Ende aber ein Wassersauger installiert war, der den Müll dann mit einem kräftigen Anzug, dem Wusch, hin zu einem engmaschigen Gitter, fachmännisch Sieb genannt, beförderte. Dort wurde alles aussortiert, was die ehrenvolle und wichtige Aufgabe des stets orange gekleideten Drecksbazis war.

Langsam und gestärkt ging er weiter Richtung Stadlmarkt, auf dem jeden Tag die frischesten Köstlichkeiten präsentiert und verkauft wurden. Weiter hinten, rechte Hand, am Ende der Ladenstraße, gab es noch einen Flecken, die Dult, der Rummelplatz.

Das Licht über seiner Stadt Klatschertnass verlosch allmählich. Wasser setzte sich gurgelnd und rauschend in Bewegung, planschte und flutschte, und spülte durch die am Boden verlegten Lampenröhren, so arg, so schnell, so druckvoll, und dann durch den Mast hinauf bis in die Spitze, dass die Lichtla zum Leuchten begannen und die Welt um sie herum in ein hochtöniges Seeblau verwandelten.

Der Oberstadtfrack hantierte wieder in seinem Hosensäckel und begutachtete kurz die Rohre durch die herausgefischte dünne Brille. Das Wasser war so wichtig für seine Stadt, es war überall anzutreffen. Es war ihre Lebensader, ihre Energie, ihr Dasein. Es war ihr Element. Er musste auf deren Ordnung und Sauberkeit achten.

Das Wasser … sie alle könnten bei arg widrigen Umständen daran zugrunde gehen.

Zufrieden schlenderte der Oberstadtfrack über den Stadlmarkt mit seinen Ständen und Buden, dahinter die kunstvoll arrangierten Stadthäuser, die nie zwei Stockwerke überstiegen und die Form ihrer stolzen Einwohner, also der Tropfen besaßen. In diesem Fall die Form eines Tropfens, wie man ihn sich so im Allgemeinen vorstellen würde: Unten breit auslagernd, nach oben hin schmaler werdend, mit einem leichten kecken Knick am oberen Ende spitz zur Seite weg. Fenster mit einem Laden oder Läden mit einem Fenster, Grünpflanzen und anderes Gmias wucherten an den Fassaden empor. Bänke davor luden zum gemeinsamen Ratschen ein. Es war einfach ein schönes, uriges Dorfbild. Dazwischen verwöhnten ausschweifende Brunnen, die stets die Wichtigkeit des Wassers darstellten, die Optik. Dahinter rankten sich Gras, Büsche und Bäume, davor das eine und andere gepflegte Gärtchen, Stauden und Beete.

Die Tropfen selbst feilschten und handelten oder sie saßen einfach nur da und genossen das Treiben.

Die Stimmung war angetan und romantisch, leichte klassische Musik eines kleinen Tropfenorchesters mit Holzinstrumenten säuselte über den Platz. Die Untertanen belagerten die Stellplätze, die ihre frisch geernteten Ware feilboten, sie begutachteten die knackig roten und grünen Äpfel, den frischen Salat oder den unverzichtbaren Reis. Sie verkauften und kauften Wurzeln und Pilze, Moose und Felswarzen, Brot und Gebäck, Seetang und Teichalgen in allen möglichen Formen. Drüben im Wasserstandtank stand Wasser im Tank, wie Tafelwasser, Kurwasser, Sodawasser, Heilfastwasser, Sprudelwasser und Wasser des Lebens, aber nicht alle waren geschichtslos. Wasser, Flüssigkeiten überhaupt, trugen Erzähltes und Erlebtes, Sagen und Märchen, Klatsch und Tratsch in ihrem flüssigen Geist, wenn sie den richtig geschrieben und abgefüllt wurden. Wie auch die Tropfen übertrugen sie Gerüche und Gerüchte, Klatsch und Tratsch.

Doch zurück zum Oberstadtfrack. Niemand sprach ihn an, was ein gutes Zeichen war, so konnte er in Ruhe verdauen. Keine Sorgen, keine Nöte in ihrer kleinen, aber ungemein wichtigen Elementewelt. Die Musik inspirierte ihn und er vergaß seine Abneigung gegen den Musihaberer. Und doch, die rechte Faust steuerte hinein in den linken Handballen. Es war Zeit für ein neues Instrument! Also veränderte der Oberstadtfrack seinen Weg freudigspontan Richtung Musikladen, einem herrlichen runden Fachwerktropfenhaus, illustriert mit Noten und Schlüsseln, die die Anfänge einer Melodie eines unbekannten Komponisten intonierten und die, wie bald passend, »Die kleine Nachtmusik« hieß.

Der Musihaberer begrüßte erfreut den höchsten gewählten Mann der Stadt, überlang schüttelte er seine Hand.

Schauspieler, elendiger!

Depp, damischer!

Wieso teilen ausgerechnet wir uns ein Geheimnis?

In seiner anderen Hand hielt der Tonleiterfreund der Tropfen ein kleines Piano und noch bevor der Musihaberer etwas sagte, spielte er mit seinen Fingern derselben Hand eine kleine Melodie, passend zur Stimmung.

Es folgten die Klänge einer Geschäftsfrage: »Ein frisches Instrument, Herr Oberstadtfrack? Die Lust auf was Neues im Gehörgang?«

»Es wäre an der Zeit. Die Wasserpfeife ist doch etwas ausgeleiert!«

Die Ode der Bestätigung: »Ich verstehe, ich verstehe! Seht Euch um in meiner beschaulichen baulichen Hütte.«

Der Oberstadtfrack begann zu stöbern in der knuffigen Musistubn, mit all der Stubenmusi. Der Laden hatte lediglich zu den beiden Straßen übers runde Eck hin je ein Fenster, was ihn duster machte. Im beengten Laderl baumelten Instrumente und Taktstöcke, Notenständer und Notenblätter von der Decke, die holzvertäfelten Wände waren verschwunden hinter Musikbüchern und Kompositionsmappen, hinter holzedlen Violinen und Bratschen, hinter blechgoldenen Tubas und Trompeten, dazu gesellte sich mangels üblicher Geschlechterrollenverteilung, der Musihaberer war alleinstehend, einfacher Staub. Am Rand stand gar ein Stutzflügel, seine schwarze Farbe war teilweise abgeblättert. Der Musihaberer galt als einer der Reichsten in der gesamten Welt, er war vorsichtig und distanziert, außer es ging um das Geschäft.

Eine Ideemelodie: »Ich habe etwas getüftelt, Herr Oberstadtfrack! Mein Hallodri und ich nennen es Organ.«

»Organ? Wie das Herz?«

Wirres Geklimper: »Ja. Nur die Betonung ist mehr auf das O als das A. Das ist aber nicht nur das A und O … nun, es lässt die Organe beben, wenn man es zum Spielen beginnt und tief hantiert! Ich habe mich inspirieren lassen von einer Erfindung aus einem Wasserbuch, von dem ich etwas genascht habe.« Er schien stolz zu sein auf seine Errungenschaft und des zwielichtigen Zusammenbaus. Ein kurzes hohes C und E.

»Genascht, soso!«

»Aber so hören Sie doch!«

Der Musihaberer ließ die Kleinpianomelodie bleiben und drehte sich nach hinten. Er schob den Vorhang zum Lager beiseite und rollte einen Kasten hervor.

»Ich hoffe, es ist ein Instrument des Elements Wasser?«

»Nun … es ist mehr Holz aus Erde. Dazu etwas Kupfer und Messing!«

»Holz? Kupfer? Messing? Die neuen Elemente? Das gefällt mir nicht, Musihaberer. Das gefällt mir ganz und gar nicht!«

»Wir sind doch selbst nicht reinstes Wasser, oh Herr Oberstadtfrack. Wir inhalieren Luft und in uns ist Feuer, wir sind Wasser und doch auch etwas Erde. Hört! Der Klang wird durch Pfeifen erzeugt, die durch das Organwasser angedrückt werden! Der Druck macht dann den Ton! Die Pfeifen selbst haben übrigens nichts mit den Elementen zu tun. Nichts mit Erde oder Feuer oder Wasser.«

»Aus was bestehen sie? Luft? Denn die geht Ihnen noch ab!«

»Ein Geheimnis meiner Zunft! Aber sehen Sie doch, wie es funktioniert!«

Er drehte an einem Rad.

»Ah, ein kleiner Schelm! Es erfüllt seine Funktion also doch mit einer Wasserflut. Sie blasen ihre stinkende Luft darin durch, während bei anderen Instrumenten reines Wasser das Spiel vollbringt. Nur sind einige nicht perfekt. Ich mochte die Wasserpfeife nie. Der Ton war selten gurgelnd genug, viel zu luftig, zu durchsichtig, zu erdig, zu viel Feuer, kein Quell der Frische und Freude! Wie bei einer Trompete, wie sie so zu oft draußen auf dem Marktplatz gespielt wird und nicht unsere Art der Musik ist!«

»Aber vergessen Sie nicht! Der Ton entsteht bei der Wasserflut dennoch durch die Luft und nicht durch das Wasser!«, bemerkte der Musihaberer mit leicht erhobenen Zeigefinger, was dem Oberstadtfrack sichtlich missfiel.

»Darf ich was vorspielen?«

»Wenn’s denn sein muss!«

So hatte der Oberstadtfrack es sich nicht vorgestellt. Er wollte doch lediglich ein Instrument für seine karge freie Zeit. Er hatte an etwas einfach zu Spielendes gedacht, was leichtes Schnödes vielleicht gar entspannend und unterhaltend. Ihm fiel das Instrument ein, mit dem es angeblich möglich war, dreifach Pflanzen, nämlich Seerosen, Tang und Algen im See zu locken: Eine Tri-Angel.

Doch in diesem Moment setzte die Wucht der Organ ein und ließen prompt seine harttonumklammerten Ohren schlackern. Druckvoll wurde das Wasser gegen die Pfeifen gepresst, die Luft ächzte und floh als flötenhafter, hoher Ton aus dem letzten Loch. Danach folgte ein tiefer, brummender Laut, ein ureigener Organdialekt, der wahrlich die inneren Organe vibrieren ließ. Um sie herum begann der Laden zu schlottern, einige Instrumente fühlten sich gar berufen von alleine mitzuspielen. Vielleicht riefen sie auch nur nach Hilfe. Der Oberstadtfrack fühlte sich unwohl, er umsorgte mit seinen beiden Händen erst seine Ohren, dann seinen bebenden Ranzen und die aufgefressene Leberkässemmel, die bald eine Odel-Revolution ausrufen würde. Alles drohte zu zerplatzen. Doch das Unheil kam von einer ganz anderen Seite. Der tiefe Ton forderte seinen Tribut, der Bass ließ das hinterlistige Wandwasserrohr bersten, es riss mit einem Zisch, und gischte auf als Fontäne, als wäre sie der Stadtbrunnen vor der Tür! Das Rohr löste sich gar garstig von der Wand und schlängelte sich fortan durch den Musiladen und kotzte weiter Wasser und Galle. Der Musihaberer unterbrach sofort, es blieb entsetzt der Mund offen stehen, eher er hyperventilierend seinen Hallodri rief und sich selbst auf den jetzt randalierenden Schlauch warf. Wasserbruch statt Wasserbuch.

Aufmüpfiges Wasser war nicht ungewöhnlich in Klatschertnass, deshalb trugen sie, wenn sie denn Schuhe trugen, fast immer imprägnierte Stiefel, denn ein trockener Fuß galt als unterster Beginn einer glücklichen Seele, selbst für Tropfen.

Ein Wasserwirbel wäre nun angebracht für die erfolgreiche Darbietung der musikalischen Wasserschlacht.

Eine Organ! Pah!

Der Oberstadtfrack war wieder vergnügt zurück auf der Straßenspur und hinein in den Stadlmarkt gekehrt, das Fontäneninferno hinter sich lassend, welches der Musihaberer und sein Hallodri knirschend einzudämmen versuchten. Tropfen, die eine Überschwemmung verursacht hatten, welch eine Ironie! Ausgelassen war er auch deshalb, hatte es dieser Musihaberer doch verdient, er hatte seine Abneigungsgründe dafür, und war er doch vorzüglich unterhalten worden, so wie es auch die Puppenkiste am Markt stets tat.

Er hielt inne, stoppte seinen Weg und dachte darüber nach. Er zog an der langen fein goldenen Kette, deren Ende in seinem Hosenstadl verschwand, so, als wäre sie ein windiger Wurm und der Hosenstadl ... nun ... der schmatzende Schlund eines …, die eindeutige Form eines … Was gab es schon hier, das einen Regenwurm verspachteln würde? Nichts! Außer das Versehen eines gierigen Hungernden. Letztlich war es nur ein Band zu einer goldenen Uhr, die aus dem verhärmten Tiefen des Hosenrachens ausher gewürgt wurde. Wasser pumpte durch das Gehäuse, es hielt die Zeit und Zeiger am Laufen. Der einzige Zeiger war unten angelangt, fast genau in der Mitte.

In diesem Moment begann der Stadtbrunnen zu keuchen und zu fleuchen, zu trudeln und zu sprudeln. Fontänen rissen in die Höhe und klatschen nacheinander oder miteinander auf die Wasseroberfläche wie Kinder in ihren Klatschreimen. Dadurch entstand eine Tonabfolge, ein Musikstück, wenn auch ein sehr sparsames. Sie erinnerte die Tropfen an das Aufstehen, dem Arbeitsbeginn, dem Arbeitsende, dem Saufstartschuss, das Zubettgehen. Der Musihaberer hatte die Melodie gestaltet, nun, da musste man durch, zumindest am Tage.

Das kleine Puppentheater stand leicht unterhalb der Buden und Stände des Marktes. Kurz dahinter lag bereits der See. Simpel und fest aufgebaut, symmetrisch zusammengezimmert aus Brettern und Verschlägen, fesch illustriert durch Bilder über Wasser, Tropfen (den Einwohnern), Tropfen (aus Wasser) und einem roten Vorhang (aus Wolle), der die Marionettenbühne noch verschlossen hielt. Sie versprühte den Charme einer kleinen Wanderbühne, doch sie hatte nur diesen einen Standort. Sie wurde lediglich abgebaut, falls sie repariert, erweitert oder der Platz für ein kleines Fest abseits der Dult gebraucht wurde. Im Gegensatz zu den Ständen und Buden wirkte das Theater nicht wie von Tropfen erbaut, und das war es auch nicht, bot es doch eine außergewöhnliche eckige Form, wie sie sonst in der Wasserwelt selten vorkam. Vor ihr waren kleine runde Bänke aufgestellt, um den wenigen Tröpfchen der Stadt Platz zu bieten für das kleine Bühnenstück, welches gleich mit seiner Aufführung aufwarten würde.

Der Oberstadtfrack setzte sich zu den sieben Nachwuchstropfen, deren Eltern entweder zuhause, beim Tagwerk oder beides waren, oder noch am Markt, um Einkäufe zu tätigen. Oder die einfach danebenstanden. Oder saßen. Das kleine Theater war der pfundige Bengelhort, die Rotzlöffelaufbewahrungsstelle, kostenlos und sorgenfrei.

Der Vorhang öffnete sich und die Spannung in den Gesichtern der Kleinen wandelte sich in große Augen und freudiges Grinsen, unterstützt von den kleinen Händchen, die fast schon frenetisch Applaus spendeten, obwohl noch gar nichts passiert war, außer dass eben jener rote Vorhang sich geöffnet hatte.

Und schon erschien der obligatorische Kaschper, mit seiner grünen Zipfelmütz, darunter sein geschnitztes, leicht schief hängendes Gesicht mit einer unglaublichen Spitznase, eingehüllt in eine zu große grüne Jacke und gelber Hose. Eindeutig war er kein Tropfen! Sein Kopf wackelte ebenso wie seine linke Hand, während die rechte wie nach einem Schlaganfall, gar tragisch in diesem jungen Alter, taub hängen blieb. Vielleicht hatte sich auch eine der Marionettenschnüre verheddert oder war gar gerissen.

»Hallo Kinder! Seid ihr alle da?«

Seine Stimme war fistelig hoch, beinahe fiebrig.

»Ja«, gellte es zurück. Wie gerne hätte der Oberstadtfrack mitgeschrien. Weitere Elterntropfen gesellten sich nun hinzu und dem Oberstadtfrack war es eine Freude zu sehen, wie glücklich die Tropfenwesen waren ob dieser Vorstellung des naseweisen Kaschpers.

»Ich bin weit gereist, um in eure schöne Stadt zu kommen! Denn ich hörte, dass es hier so schön ist und es an nichts mangelt. Selbst die Kinder sollen hier sehr brav und lieb sein!«

Gelächter.

»Doch ich habe auch gehört, dass ein wunderschönes Wesen hier zuhause ist. Ein Wesen mit leuchtenden Haaren, frohem Lachen und einem kleinen Krönchen auf dem Kopf. Und daher frage ich euch: Habt ihr die Prinzessin gesehen?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Hat fürwahr niemand von euch sie gesehen? Sie muss einzigartig sein, jeder kennt sie doch!« Der Kaschper wanderte auf der Bühne hin und her, die Antwort schien ihm wichtig zu sein. »Ihr müsste wissen, ohne Prinzessin kann ein Königreich nie ein Königreich sein. Es ist dem Untergang geweiht.«

Doch da kam der Teufel von links in die Bühne einher gesegelt, flugs, wie es nur eine Marionette konnte, gekleidet in Schwarz, der Kopf hochrot, die Hörner angekokelt. Er war furchteinflößend!

Ein Wesen, das in Klatschertnass bis zum Auftauchen dieser Puppe absolut unbekannt war, so wie fast alle Figuren, wenn man den Kaschper oder die Prinzessin oder den König nahm. Und vielleicht liebten es die Kinder deswegen so arg, was wiederum den Erwachsenen missfiel, vor allem dieser Teufel, schien er doch eine Nähe zum Feindeselement Feuer zu frönen. Doch da er allerweil den Kürzeren zog, waren sie jedes Mal aufs Neue wieder beruhigt.

»Du glaubst doch nicht etwa an Prinzessinnen?«, fuhr er den Kaschper an.

»Was ist eine Prinzessin?«, fleuchte jemand aus dem Publikumsraum.

Der Kaschper wandte sich an den kleinen Fragesteller. Er legte seinen Kopf zur Seite, seine Hand bewegte sich langsam auf und ab.

»Eine Prinzessin ist eine hübsche Person, die jeder gerne hat und die irgendwann einmal die Königin, also der Herrscher wird und die Stadt regiert!«

»Gibt es dann den Oberstadtfrack nicht mehr?«, resümierte ein kecker Minitropfen schnell.

Der Oberstadtfrack horchte erschrocken auf, rümpfte pikiert die Nasn samt Warzenberg und antwortete sogleich: »Doch, den Oberstadtfrack wird es immer geben, aber seine Gemahlin könnte die Königin sein«, spielte er mit.

»Eine Gemahlin? Ihr?«

Gelächter. Schallend. Bei Groß und Klein.

»Was soll das?« Sein Kopf drehte sich schnell hin und her. »Was soll das? Warum sollte ich keine Gemahlin haben? Weil ich viel zu tun habe? Weil ich alles für die Stadt tue?«

Der Kaschper wurde plötzlich regungslos, der König kam mit seiner Tochter im Arm auf die Bühne: »Du machst mich stolz, mein Kind! Du trotzt dem Teufel, du trotzt dem Bösen! In den Tagen nach meinem Tod wirst du den Thron besteigen und …«

»So etwas wird es bei uns nicht geben! Keine weiblichen Wesen! Nur ein Mann ...«, zürnte der Oberstadtfrack böse erbost, laut und vorlaut. »Wenn ich eine Tochter hätte, würde sie niemals …«

»Eine Tochter? Ihr?«

Gelächter. Überschallend. Bei Groß und Klein. Sie hielten sich die Bäuche, es war, als ob ein Meer vor dem Theater auf und ab schwappte, Ebbe und Flut in Einigkeit.

Wie konnte so ein kleiner Tropfen nur so ein Schlaucherl sein und ihn mit einer lächerlichen Aussage dermaßen bloßstellen? Der Oberstadtfrack warf seinen Kopf erneut in die Höhe und verließ brüskiert die Vorstellung. Das würde Konsequenzen haben, Konsequenzen!

Trotteltropfen! Wenn ihr wüsstet! Doch er haderte noch weiter! Eines Tages wird das Theater für immer geschlossen sein! Gefahr! Gefahr!

Die Figuren verschwanden zur Seite und der große Kopf eines Mädels tauchte anstelle ihrer auf.

»Herr Oberstadtfrack! Sie werden doch nicht beleidigt sein?«, rief sie ihm schallend hinterher. Das freche Grinsen konnte er sich denken!

Applaus, Applaus, Applaus!

Sie war hübsch und rein wie eine Fee, ihr Haar ein Meer an brünetter Seide mit einem Hauch Rot im Feuerballschein (der hier jedoch sehr trüb ausfiel). Sie reichten ihr bis zur den Schultern, ihre Rehaugen kastanienbraun und lebensfroh, ihr Körper schmal und somit absolut tropfenunähnlich. Ihr Blick war aufgeweckt und neugierig, so offen wie herzlich, unschuldig aber auch frech, wobei das meistens einseitig war, war ihr linkes Auge doch fast immer von einer vorwitzigen Strähne verdeckt. Nicht nur ihr offensichtliches und frisches Aussehen, auch ihre Kleidung grenzte sie von den Tropfen ab und sorgte für reichlich Aufmerksamkeit. Sie trug eine taillenhohe und enganliegende blaue Stoffhose mit großen Seitentaschen, darüber eine elfenbeinfarbene Bluse. Letztere war vorne kurz geschnitten und endete bündig knapp über dem Bauchnabel. Sie war jedoch hinten am Rücken lang und fließend und reichte asymmetrisch bis kurz über die Kniekehlen. Als Verbindung zwischen der Bluse und der Hose schmiegte sich an ihre schmale Taille ein breiter und kognakbrauner, ebenfalls ungleicher, lederähnlicher Gürtel, der mit vielen glänzenden Schnallen und Ösen wie eine Art Korsett zusammengeschnürt war und ein Loch hatte, das ihren Bauchnabel kess zeigte. Die gleiche Farbe des Mieders war auch auf ihren knöchelhohen, derben Stiefeln und den fingerlosen, kurzen Handschuhen zu finden. Darüber trug sie einen stets offenen grauen Cardigan, der ihr fast bis in die Kniekehlen reichte. Den Kopf schmückte hingegen ein elfenbeinfarbenes Tuch, das seitlich mit einem Knoten zusammengebunden war. Darüber trug sie ab und zu einen schwarzen Zylinder, der nach oben hin auseinanderging. Ihr Körper war reizvoll, aber nur deswegen, weil sie eben anders war als die Tropfen. Sie überragte selbst die erwachsenen Tropfen um mehr als die Hälfte und war damit zu groß für jede normale Tür in Klatschertnass, zu groß für so manche Zimmerdecke, zu groß für Durchgang zur Ladenstraße hinten links. Sie war rank und gertenschlank, der Busen ein wenig erkennbar, ebenso ihr Wandel von einem Kind zu einer selbstsicheren jungen Frau, einer Gattung, die in der Welt der Elemente gänzlich unbekannt war.

Und ihr auch.

Sie war einzigartig.

Ihr Schlafplatz war ein Gemach im hohen Inneren des Baums des Giftmischers, der sie großgezogen hatte. Ihre Klamotten schneiderte sie inzwischen selbst, waren die der Tropfen doch zu klein und zu langweilig geworden. Die Tropfenfrauen trugen meistens eintönige Tücher und weite, glatt herunterhängende Kleider, die Männer, so sie denn nicht der Obrigkeit angehörten, waren meist in ihrer Arbeitskleidung ausstaffiert, die passend, leger und hässlich war.

Sie hob den Teufel und den Kaschper hoch. Sie hutschten an ihren Schnüren. Beide starrten sie an.

Der Kaschper fand als erstes Worte: »Wenn du dein Publikum dermaßen vergrätzt, wirst du bald nur noch Selbstgespräche führen!«

Der Teufel nickte: »Was soll ich sagen? Am Schluss verliere ich immer! Und er ist schon beleidigt, wenn er nur eine Prinzessin an die Seite bekommt. Ihr glaubt doch an Prinzessinnen? Ihr müsst nun an Prinzessinnen glauben, schließlich ist der Oberstadtfrack abgedampft. Das tut er sicher nicht, wenn es nicht wahr wäre!«

Gelächter. Schwallend.

Prinzessinnen! Pah!

Er stapfte. Er brummte. Er zürnte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, seine Arme wippten ausufernd auf und ab, während er die Stiegen zum Gmeindestadl hochkochte.

Prinzessin. Woher kam eigentlich dieses Wort?

Hätte er ein Instrument bekommen, er würde ihr den Marsch blasen! Am besten mit dieser Organ, die würde sie gleich noch mit verrenkter Milz fortschwemmen!

Dieser hochnäsige Musihaberer! Diese freche Göre! Diese unerzogenen Kinder!

Ach, was regte er sich denn auf.

Trotteltropfen. Wenn ihr wüsstet! Und dabei bin ich auch noch selbst schuld an dieser Misere.

Das Stück ging inzwischen weiter, welches in der Vernichtung des Teufels in einer bösen Feuersbrunst, dargestellt durch rot-gelb gefärbte Tücher endete und Kaschper und Prinzessin glücklich werden ließ. Nächstes Mal würde wieder ein anderes Element im Mittelpunkt stehen. Zufrieden und freudig gingen all die Zuschauer ihres Weges.

Sie stellte sofort die Bänke ordentlich zurück und nahm dann hinter der Bühne einzeln ihre Darsteller in Augenschein. Sie waren wunderschön. Geschnitzt aus dem edlen Holz rarer Bäume. Wusste der Wasserhimmel wie jemand diese Kunst angestellt hatte.

Die Puppen hatten einst vor der Haustür des Giftmischers gelegen, ordentlich aufgereiht und mit Namen versehen. Kaschper und Prinzessin, König und Teufel. Namen und Figuren, die es bis dato so in Klatschertnass noch nie gegeben hatte. Und bis heute wusste sie nicht, wer sie vor der Tür abgelegt hatte. Und doch … und doch hatten sie reale Ebenbilder, da war sie sich sicher.

Dass der Kaschper nach dem Ordnungsdokta und der Teufel nach dem Oberstadtfrack kamen, durften die beiden nie erfahren, nach der Vorstellung heute sowieso nicht. Der König könnte der Sinnierer sein und nicht der Oberstadtfrack, wie es so eben dargestellt worden war. Und sie, sie selbst war die Prinzessin, eindeutig nach ihrem Ebenbild geschnitzt. Sie hatte ihrer Puppe ein Kleid genäht, ein zitronengelbes Kleid. Sie liebte diese Farbe, weil sie nach Frische und Wärme schmeckte.

Der Giftmischer hatte das Geschenk damals so hingenommen, hatte es nie kommentiert oder kritisiert. Sie war sich sicher, er wusste, von wem die Schnurfiguren stammten. Vielleicht gar von ihm selbst.

Geduldig kniete sie auf dem steinernen Boden und richtete die Haare ihres Ebenbilds, als just in diesem Moment die Krone herunterfiel und nach vorne rollte. Sie kroch direkt hinterher, bis plötzlich ein paar Füße, eingehüllt in schreiend seltsam gehäkelten Blausocken vor ihren Augen auftauchten.

»Pfiati Mia!«

Sie blickte auf, rundhügelig über den tropfenförmigen Bauch bis hoch zur spitzen Nase des Ordnungsdoktas. Der, schwarz gekleidet und mit einer viel zu hohen Pickelmütz’ mit noch höherer Pickelspitz’, die Hand wie immer am noch nie genutzten, brutalen Schlagstock, grinste verächtlich mit seinen schiefen Zähnen von oben auf sie abher. Als wäre er der Deifi persönlich … Mia rappelte sich auf und klopfte den Staub von ihrer Hose ab.

»Oh, grias di Herr Ordnungsdokta. Alles in Ordnung in Klatschertnass?«

»Solange ich wache, wird allerweil Ordnung sein, mein Kind.«

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Der Oberstadtfrack schien sehr angesäuert ob des Theaterstücks, das du da aufführst!«

Er nahm seine Ordnungspickelhaube ab. Er hatte eine hohe Schädelstirn, eine sehr hohe sogar, tropfenseltsam. Vielleicht die Zeichen einer langgezogenen Geburt. Er kratzte sich hinterm Ohr.

»Er konnte mit dem Humor der Kinder nicht umgehen, wie es scheint.«

»Oh! Ich dachte, er hätte sich aufgeregt wegen des Teufels!«

»Wegen des Teufels?«

Beide betrachten sie ihn, wie er friedlich auf dem Boden lag und in die Luft starrte mit seinen dunklen Hörnern und dem rotspitzen Kinn. Sie lächelte innerlich, als sie sich wieder zum Ordnungsdokta wandte, besaß der doch auf seiner hohen Stirn just zwei letzte Haarinseln, die seit der Pickelhaubenabnahme ungemein gehörnt stramm standen.

»Teufel … weiß unser Empedokles, was das bedeuten soll. Er sieht zumindest nicht nach einem Guttropfen aus. Der Kaschper, meine Liebe … ich finde, er sieht mir irgendwie ähnlich. Abgesehen von der Nase. Aber er sieht mir ähnlich. Kann das sein? Hast du den Kaschper nach meinem Vorbild geschnitzt?«

Drohgebärden!

»Nun … um ehrlich zu sein …« Schüchtern guckte sie ihn an, so schüchtern, wie es nur eine angehende Frau tun konnte, um einen Mann zu betören, damit er nicht hinter ihre Kulissen des Ausfressens lugen konnte. »Der Kaschper ist nun einmal der Held. Und wer wäre als Held besser geeignet als Sie? Natürlich musste er etwas überzeichnet werden. Zudem trug zur Sorge, es könnte gerade die Nase verschnitzt werden und ein Kaschper ohne Nase … wie würden wir alle ohne Nase dastehen?«

»Natürlich. Natürlich.« Der Ordnungsdokta fühlte sich plötzlich geschmeichelt. Dennoch traute er diesem Wesen nicht. Ihm wäre lieber, sie wäre nicht hier. Nur … wohin sollte sie gehen? Er wusste nicht einmal, woher sie gekommen war. Aber Mia sollte gehen. Ihre schiere Größe bereiteten ihm Sorge. Ihre Frohnatur, ihre Herkunft, ihre schrillen Kleider, dieses Theater. Was, wenn sie die Tropfenherrschaft übernehmen würde? Fort mit ihr! In die Tiefen … oder Höhen ihrer Welt, wenn es denn eine gäbe? Hinaus auf die Felder, auf den See, auf die Bäume gar? Oder auf den Berg, der aber verboten war. Zumindest sagte man das. Zumindest sagte man das dem gemeinen Volk. Und es kam vom Sinnierer, und der musste es wohl wissen.

»Es gefällt mir, wie du deine Stücke aufbaust. Sie sind stets etwas anders, trotz der immer gleichen Figuren!«

Er machte auf dem Absatz kehrt, salutierte kurz mit seinen Sockenfüßen, der Helm zurück aufs Haupt gestülpt, um danach Richtung Gewimmel des Marktes zu verschwinden. Erst da bemerkte Mia die beiden auftrennenden Löcher an den Fersen. Sie kicherte. Mit ihrem rechten Fuß stand sie tatsächlich auf den beiden Wollfäden. Sie hielt sich die Hand vor dem Mund, um nicht laut loslachen zu müssen.

Reihe um Reihe bauten sich die Socken ab, kreiselten ein Sockenleck um seine Hacken herum.

Doch sie wollte es nicht übertreiben, zudem blieb keine Zeit. Also hob sie den Fuß ein Stück weit und der Faden rannte los.

Geschwind nahm sie die kleine Krone auf, legte sie zu den Figuren in die Schachtel und verstaute sie hinter der Bühne. Abschließen oder verstecken war nicht notwendig, wachte doch der Ordnungsdokta als absolute Instanz über alle dreihundertdreiundzwanzig Wählerkrampen samt Rotzlöffel. Und ihr.

Aus dem Schub des einfachen Beistellkästchens entnahm sie einen kleinen Holzkamm. Sie schnappte sich die Prinzessinnenpuppe und setzte sich hin. Sie kämmte zart ihr Haar.

»Damit du schön bleibst. Damit du immer eine Prinzessin bleibst. Und irgendwann das Reich übernimmst. Weil du nicht nur schön bist, sondern auch gscheit, mutig und weitsichtig. Du bist meine Märchenkönigin.«

Wieder und wieder fuhr sie leidenschaftlich mit dem Kamm durch die Haare. Es waren echte Haare, die sie da kämmte. Es waren ihre Haare, die alten waren ihr nicht fesch genug. Der Giftmischer hatte sie mit einem speziellen Klebstoff im Holzkopf haftbar gemacht. Sie busselte die Figur kurz und legte sie dann beiseite.

Beiläufig beorderte sie die Strähne, die über ihrem linken Auge lag, hinter ihr Ohr. Dann kramte sie einen kleinen Spiegel hervor. Wasser rauschte daran herunter, aber so zart und glatt, dass sie sich wellenfrei darin bewundern konnte. Sie begutachtete sich und begann nun ihr Haar zu kämmen, so lange, bis sie zufrieden und alle Knoten entfernt waren. Zu guter Letzt legte sie alles zurück an seinen Platz.

Ein gestandenes Nicken, die Strähne fiel wieder nach unten, ein finaler Blick.

Sie hatte alles aufgeräumt. Dann war sie losgerannt wie ein kleines freudiges Kind, hin zum Markt, wo geschäftiges Treiben herrschte. Ihre Haare flatterten leicht, ihre Kleidung wippte freudig mit, ihr unbeschwertes Strahlen war ansteckend für jeden, der ihr begegnete. Und doch zog der Kopfschmerz wieder einmal herauf.

Unter den an sich nicht benötigten Dächern der Gemüse- und Kleiderstände wurde gefeilscht und gehandelt, gelacht und getratscht. Sie schob sich an den Tropfen vorbei, sie ging gebückt, sie ragte dennoch sichtbar heraus, jeder grüßte sie oberflächlich. Sie grüßte zurück, hier kannte jeder ein jeden, schon seit sie denken konnte. Sie hielt kurz am Brunnen an, trank Wasser und erfrischte ihre Arme und Hände. Ihr Kopf brummte leicht, so wie er es so häufig tat. Zeit ihres Lebens wurde sie gepeinigt von Kopfschmerzen an der Stirnplatte und von Pein in der Magengegend. Das kalte Wasser tat gut, ebenso die Medikamente des Giftmischers, wenn auch nicht immer.

»Viel zu kalt! Das Wasser war schon einmal wärmer!«

»Ah, der Bipgockel. Immer was zu meckern!«, feixte sie.

»Was heißt meckern? Es ist zu kalt! Vielleicht sind die Warmwasserröhren schon wieder marod. Ich werde das gleich einmal prüfen!«

Der Bipgockel war ein Berg von einem Tropfen, er wirkte fast wie aufgeschwemmt. Und feinmotorisch, sei es sozial oder handwerklich, war er definitiv nicht, aber ehrlich.

»Heute ist dir das Wasser zu kalt und morgen zu nass.«

»Zu nass?«

»Zu nass!« Sie ließ ihn stehen, aber nicht, um ihm noch ein fesches Grinsen zuzuwerfen. Sein Missmut aber blieb.

Diese gute Laune ist doch nur gestellt!

Zurück auf dem Markt hielt sie noch bei einem der Gemüsestände. Erfreut ergriff sie Salat, Kartoffeln, Karotten, Lauch und Tomaten. Eine Ode der Freude für den Giftmischer!

»Machst du wieder einen Pampf?«, fragte die Gmiastropfin.

»Genau!«

Was Anderes kannst du auch nicht, du Göre!

Sie erhielt einen kleinen Korb mit den Ingredienzien, lächelte hinein und lief beschwingt mit ihrem Einkauf davon. Sie erklomm den Hügel nach oben, wo der Gmeindestadl zur linken und der knorrig alte Giftmischerbaum zur rechten stand. Dort angekommen setzte sie sich entspannt auf eine Bank und schweifte über die Häuser, die Felder, die Wälder, die Felswände, die bis zum zappendusteren Himmel reichten, bis fast nach hinten, wo die Welt nach rund dreißig Kilometern in der Länge und fünf Kilometern in der Breite abrupt endete. Jeden Tag … das gleiche Bild.

Was mochte über dem Himmel sein? Was mochte hinter den Felsenwänden sein? Ihre Gedanken waren eingekesselt ob dieser Mauern aus Stein und Fels. Über ihnen diese Feste, die schimmerte und manchmal glitzerte, durch die milchig Licht trat, mal heller, mal dunkler.

Sie hatte das Element Wasser noch nie verlassen.

»Wo komme ich nur her…?«, murmelte sie vor sich hin. Wie schon so oft.

Nie hatte sie eine Antwort bekommen. Nicht einmal vom Giftmischer.

Dein Leben wird besser enden als es begonnen hat.

Alte Worte. Lügen.

Sie war nicht von hier, jeder wusste es und jeder schwieg. Sie aber kannte nichts Anderes, erinnerte sich an nichts Anderes … und doch wollte sie was Anderes.

Ich blicke auf und weiß nicht einmal, ob es ein Oben gibt. All mein Leben, all meine Gedanken sind hier unten. Ich wachse und doch kann ich hier unten nicht wachsen. Sind Kindheitserinnerungen Erinnerungen, wenn sie keine Kinder wie mich beinhalten? Einen Turm bauen. Ein Luftschiff nehmen. Den Berg besteigen. Den Himmel berühren. Vielleicht muss ich sie alle im Stich lassen, um … um einfach … aber sie grenzen mich sowieso aus. Weil ich anders bin. Oder muss ich das Wasser fließen, das Feuer brennen. die Luft wehen und die Erde beben lassen? Nein, das ist alles Larifari, Krampf, Unsinn. Aber was, wenn ich keine Hoffnung mehr habe? Der Giftmischer liebt mich wie sein eigenes Kind. Wie ich ihn. Aber wieso habe ich das Gefühl, dass es noch eine andere Form der Zuneigung gibt? Wieso habe in der Gegend, wo manchmal Blut aus mir rinnt, ein unerklärliches Verlangen? Was soll das da unten? Für was ist es? Hat es damit zu tun, das ich hier bin?

In ihrem Kopf … Schmerz und Erinnerungsfetzen wie in ihrem Bauch an vermeintlich alte Zeiten, Schmerzen und Pein. Ihr Schicksal war gefallen und gefangen, alte schöne Zeiten, das Leben mit dem Giftmischer, Kindertropfenfreunde, die anders waren als sie und die sie schließlich überragte, körperlich und geistig. Nun war sie in einem Alter, wo sie die kleinsten nicht nur mit dem Theater beglückte, sondern auch als frische Lehrerin in die Schule kam. Sie unterrichtete Theater und Biologie an der WWW, der Wissenswasserwalmamater. Sie stand kommod unweit des Wohnviertels, hinter der großen Ladenstraße.

An meinen ersten Schultag kann ich noch erinnern. Es waren bestimmt zehn Tropfenkinder, die damals eingeschult wurden. Ihre Eltern waren stolz und voller Freude und hatten wie es die Tradition verlangte, ihren Jungen oder Mädel in bunt zusammengenähte Kleider gesteckt, ihnen Zipfelmützen aufgesetzt, deren riesige Bommeln ihnen Glück bringen sollten. Nur ich war gekleidet wie immer. Im einfachen Kleid gehüllt, das wie ein tropfertnasser Lappen an mir herunterhing, saß ich in einer engen Schulbank ... alleine. Es war kein Vater und keine Mutter mit im Klassenzimmer. Und der Giftmischer hatte sich nach den einleitenden Worten des Sinnierers schnell verabschiedet, ein Experiment war am Köcheln.

Von unten herauf spazierte eine Gestalt, eingehüllt in einem schwarzrunden Mantel und seinen Gedanken. Es war der Sinnierer, der oberste Tropfen der Elementwelt, sozusagen das Oberwasser. Auf seinem Denkerkopf hockte ein schwarzer Pyramidenhut, auf seiner Nase ein Spekuliereisen, eine Brille. Er blieb vor ihr stehen.

»Hallo Mia! Schön dich zu sehen. Was sitzt du hier auf den Stiegen?«

»Ich wollte einfach nur den Blick genießen, dem Trubel vom Markt entkommen.«

… und mich wie jeden Tag meinem Selbstmitleid hingeben.

»Du hast dich sehr verändert in den letzten zehn oder zwanzig Dekadentagen. Es ist unübersehbar! Es macht mich nachdenklich, wie es mit dir weitergeht, was aus dir wird, so einzigartig wie du bist. Und höre auf zu wachsen, sonst bist du noch größer als unser höchstes Haus!«

Er tätschelte ihr den Kopf, als wäre sie noch immer der süße Wicht von ein paar Monatsdekaden. Mia nahm es dennoch als Liebkosung auf. Dann schlurfte der Sinnierer an ihr vorbei Richtung Anhöhe und schlüpfte in den Gmeindestadl, der für ihn und den Oberstadtfrack die Regierungstrutzburg und Wohnungen darstellten. Der Sinnierer oben, der Oberstadtfrack ebenerdig.

Er machte weiter und sie stierte weiter. Neben ihr ein Baum, der Blätter verlor. Sie trudelten langsam zu Boden. Sie wollten nach unten, Mia aber nach oben. Oben war was. Oben musste was sein! Alles hier war eben, alles war flach in der Elementewelt des Wassers. Die Ausnahme war dieser Berg, kein Depperlbergl oder Buckel war das, nein, es war die einzige größere, geradezu gigantische Erhebung hier, felsenweit und felsenbreit, abgesehen von der kleinen Steigung an deren Ende sie gerade saß. Dort hinten thronte er, rechte Hand, weit entfernt. Am Rande, fast verschmolzen mit den glatten Felswänden, die die Wasserwelt komplett umgaben, sein Ende nahe der Himmelsdecke: Der Verbotene Berg.

Das Besteigen ... ein Unterfangen, unmöglich gar. Es machte sie traurig.

Augenlaub.

Sie schob das Blattwerk auf dem Boden mit ihren Füßen zur Seite. Dann hob sie ihren Arm und nahm den Berg zwischen ihren Daumen und Zeigefinger. Da war er so klein, so niedlich, so fassbar, so erhaben.

Und doch … er war ein Monument, ein Ungetüm, ein Monster, schroff, steil, bewaldet, grummelig, unnahbar, kraxelfeindlich. Und riesig. Unfassbar hoch. Niemand wusste genau, wie hoch er tatsächlich war, denn seine Spitze verhüllte sich in einem dichten Nebel, in einen weißgrauen Schleier. Der Giftmischer sagte ihr, obwohl er weißgrau sei, und damit zu den guten Farben gehöre, war er böse und hinterhältig, er verheimlichte etwas hinter seinem schroffen Fels und seinem undurchdringlichen Wald. Was würde der leichtfeuchte Nebel für eine Geschichte erzählen, wenn der Giftmischer ihn probieren würde?

Viele Tropfen gingen davon aus, dass seine Spitze den Wasserhimmel berührte. Einige Sagen berichteten, dass der Gipfel wahrlich spitz war und eines Tages ein Erdbeben kommen und die Spitze den Himmel piksen würde, was den Untergang der Welt zur Folge hätte.

Sollte sie das glauben? Dass einem der Himmel auf den Kopf fallen könnte? Dieser Himmel … er schien aus Wasser zu sein, denn sein Schimmern und Blitzen machte den Eindruck, als ob man in einem See tauchte und nach oben durch die Wellen brach. Bestand der Himmel aus Wasser? Und wieso konnte Wasser so unförmig sein? Der Himmel hatte nicht überall die gleiche Höhe. Und der Berg stand just da, wo der Himmel am weitesten vom Boden entfernt war.

Niemand hatte je nach der Antwort gesucht und geforscht. Die einzige Möglichkeit, ihm näher zu kommen, war, den Berg zu besteigen.

Das Besteigen ... ein Unterfangen. Und verboten.

Der Verbotene Berg.

Zu gefährlich. Zu blutrünstig. Zu unerforscht. Tropfen waren Feiglinge. Und folgsam.

Es war Mias Faszination, diesen Berg besteigen zu müssen. Irgendwann! Zu wissen, was hinter diesem Nebel lag, ob Monster und Wächter sich darunter verbargen, oder ob es einfach nur eine Laune der Natur war, den Berg zu verhüllen, zu umarmen, zu liebkosen, zu schützen. Denn vielleicht war der Berg ja doch nett!

Sie beugte sich zur Seite und betätigte einen Hebel, um etwas Wasser zu trinken. Es erfrischte sie, das kühle Nass prickelte bis nunter in ihren Magen. Sie tupfte sich die Stirn.

Ein Tropfenpaar ging weit unten vorüber, sie grüßten freundlich hinauf. Es war der Gmiaspflanzerl mit seinem Weibe. Sie waren bestimmt unterwegs zu ihrem Lager, wo sie ihren Anbau überprüfen würden an diesem restvollen Tag. Mia war schon ein paar Mal auf den Feldern gewesen, wo Obst und Gemüse wuchsen, Baumwolle und Getreide, neben Wasser und dessen Inhalt die Lebensgrundlage aller.

Sie sah ihnen hinterher, Gedankenfluss, es war wieder einmal das Aussehen der anderen, was sie beschäftigte. Diese runden Körper mit diesem runden Kopf darauf, deren Silhouette einen Tropfen bildete, wenn man die dünnen Beine und Arme ignorierte. Oder auch die anderen Elemente, die in anderen Gewölben hausten, weit weg von Klatschertnass. Sie war noch nie dort gewesen. Der Sinnierer war der momentane Ratsvorsitzende der Elemente. Dem Rat gehörten ebenso der Luftlaff vom Element Luft, das Feiabiest vom Element Feuer und der Humpn vom Element Erde an. Sie einte die Furcht vor der Urgewalt, einer Donnermacht, die sich selbst als oberstes Element sah. Nein, sie sah sich als einziges Element. Nur der Oberstadtfrack traute sich, sich der Urgewalt entgegenzustellen. Doch das Beben, das Toben, das Grollen wurde immer stärker und stärker und es war das Einzige, vor dem sich die Tropfen momentan fürchteten.

So auch die Lüftler. So auch Erdler. So auch die Feuerer. Das einte sie. Nur das. Ihr Aussehen war grundverschieden. Die Lüftler schmal und windig, die Erdler wuchtig und stämmig. Die Feuerer waren Mia noch am Ähnlichsten, doch ihr Haupthaar stand stets im Flammen.

Und sie? Sie hatte sich verändert in der letzten Zeit. Sie brauchte länger im Bad, sie beobachtete sich, betastete sich, sie kümmerte sich um ihren Körper. Was nur ging in und außen an ihr vor?

Sie dachte an ihr Spiegelbild in ihrem Kammerl. Sie war … nicht mehr so kindlich. Ihr Gesicht war älter geworden, ihre Haare glänzender, die Haut fettiger und hügeliger, ihre Gedanken, ihr Wohlbefinden, ihr Tatendrang … hatten sich verändert. So wie sich ihre Hose dann und wann farblich veränderte.

Sie hinterfragte plötzlich die Arbeiten und Taten des Giftmischers, sie beobachtete das Tagwerk der Tropfen genauer … und es waren die Tropfen … nicht die Mitbürger, die Gemeindemitglieder, das waren sie zwar, sie gehörte dazu, doch sie waren nicht gleich. Es zog sie mehr aus ihrem Zuhause hinaus, sie wollte auf Entdeckungsreise gehen, doch immer wieder wurde sie von ihrem vermeintlichen Vater eingeschränkt. Aus Sorge, wie er betonte und doch fand sie es vordergründig.

Sie gehörte nicht hierher.

Diese Geschichte erzählte der Spiegel jeden Tag. Sie mochte es kaum noch sehen. Wie sie ihre eigenen ausgedachten Geschichten nicht mehr hören, besser, aufführen wollte. Denn sie machte ihr andersartiges Aussehen dafür verantwortlich, dass sie nie richtig dazu gehörte. Immer weniger, je größer sie wurde, je schlauer, je lebensreifer. Woher nur kam sie? Woher nur? Wo war sie? Sie selbst. Und die Wahrheit.

War sie eine Gefangene?

»Ich werde dich besteigen, du ach so Verbotener Berg! Ich werde dich besteigen, das schwöre ich!«

Unwirsch schleuderte sie ihre fragenden Gedanken fort. Trotzig ergriff sie ihren Einkaufskorb und stieg die letzten paar Stufen empor.

Entsetzt wich der Oberstadtfrack von seinem Bürofenster im Gmeindestadl zurück. Nicht, weil er Angst hatte, entdeckt zu werden. Nein, es waren ihre Worte, ihre furchtbaren Worte. Groß war sie geworden, oh ja, und damit auch selbstständig. Nun war er also gekommen, dieser Tag, wo sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen würde. So war das also bei diesen Großwesen. Nun, im Grunde nichts Anderes als bei Tropfen, aber Tropfen waren folgsam, einfach, manipulierbar … er musste aufpassen.

Woher stammst du genau, fesches Mädel? Woher genau?

Von der Stadt her entglitt wuchtige Musik aus dem Laden des Musihaberers heraus, entflohen aus den Ritzen und Spalten von Fenster und Tür, hinauf bis zu Mia. Magisch angezogen ob der Opulenz der aneinander gereihten Töne schwebte Mia noch einmal nach unten und darauf zu. Ein Tenor setzte ein, kraftvoll, intensiv! Sie riss die Ladentür auf, die schieren Schallwellen zogen tief in ihre Ohren ein, um dort für immer zu wohnen.

Im Inneren versuchten der Musihaberer und sein Hallodri noch immer, die nassen Spuren des Fontäneninfernos zu beseitigen. Und doch schienen sie sich der vielen Arbeit nicht zu grämen, im Gegenteil, ab und an erhob sich der Musihaberer vom Bodenwischen und dirigierte in die Luft hinein.

»Mit Musik geht alles besser! Merke dir das, Mia!«, sprach er sie unvermittelt an.

»Es ist immer wieder schön, sie zu hören, Musihaberer«, schrie sie fast.

Der Musihaberer gab das dirigentische Schlusszeichen an den Bildlamacher, den Mia noch gar nicht bemerkt hatte. Die Musik erstarb abrupt. Und der Bildlamacher wankte ohne weiteres Wort, Bild oder Tat aus dem Laden. Er hatte die Musik abgespielt, was seinem Namen Bildlamacher eigentlich ad absurdum führte. Mia war immer wieder beeindruckt, dass der Bildlamacher eine hochtalentierte Schachtel war, diese Lautsprecher, diese Bilder … in dieser präsenten Macht und glanzvollen Eleganz. Sie musste diese kleine Maschine, die wie ein eckiger, bunt angemalter Tropfen aussah, unbedingt in ein Theaterstück mit einbinden. Diese Musik am besten gleich noch mit dazu.

Der Musihaberer stand auf, seine Hosen nass bis zum Latz.

»Was führt dich zu dieser unsäglichen Stunde in mein Reich?«

»Die Musik, oh Musihaberer. Ich habe sie bis nach draußen gehört … und … sie hat mich überwältigt und in den Laden gezogen. Ich habe sie schon oft bei Euch gehört, sie stets in all ihren Facetten genossen, aber ich habe nie gefragt: Wer hat sie komponiert? Wer gespielt? Wie heißt sie? Ist sie von Euch?«

»Oh nein!« Der Musihaberer trocknete seine nassen Hände am Hemdl des Hallodris ab. »Ich wünschte, ich könnte es.«

War die Antwort korrekt? Du musst vorsichtig sein!

»Von wem ist sie? Jemand aus unserem Dorf, was ja sehr naheliegend wäre? Der Giftmischer?«

»Mach dich nicht lächerlich, Kind!« Seine Augenpartie war gefüllt mit Verachtung. Und darüber, eine falsche Antwort gegeben zu haben. Er musste sich nun um Kopf und Kragen reden. Schnell ließ er die Freude über diese Musik mittels seiner Mimik ablaufen. Dann begann er über das eben gehörte Stück zu ratschen: »Es geht um die Liebe zwischen zwei anfangs fremden Menschen! Also etwas, was es hier nicht gibt. Zum einen, weil niemand zueinander fremd ist, zum anderen, weil die Liebe an sich abwesend ist. Es sind alte Stücke. Niemand weiß, woher sie stammen.«

»Es … gibt hier keine Liebe? Aber die Tropfen …« Der Giftmischer hatte öfters von Liebe geredet, die Liebe eines Vaters zu einer Tochter. War die Liebe zwischen Mann und Frau eine andere?

»Sie sind liebenswert. Aber sie lieben nicht. Sie gehen lediglich Zweckgemeinschaften ein, um das Überleben unserer Kultur zu sichern. Aber zurück zu der Geschichte, die erzählt wird.«

»Es ist spannend, dass ein Stück Musik eine Geschichte beschreibt.«

Sein Zeigefinger wedelte vor Mias Gesicht hin und her: »Es ist kein Stück. Es ist eine Oper! Über zwei Stunden wird geliebt und gelacht, intrigriert und geschachert, gekämpft und getötet gar.«

Er setzte sich und schnaufte tief durch, aber kein genervtes Schnaufen, viel mehr ein Schnaufen über die Dankbarkeit der Unterbrechung und dem Interesse an der Musik, obwohl er sich dennoch ärgerte, dass jemand sie mitbekommen hatte. Es war ihm einst ergangen wie Mia, er war ein Gefangener der Noten geworden, lauter, immer lauter hatte er es aufgesogen, zu laut, zu laut. Und die Tropfen waren Banausen. Die Melodie des Brunnens draußen, erklingend beim Aufklatschen des Wassers auf den Boden … All’ meine Enten … schwimmen auf der See. Was ihr alles nicht wisst, ihr Tropfendeppen …

Er fuhr fort: »Freie Liebe, gesellschaftliche Erwartungen, Verbote … das ist der Stoff dieser komischen Oper. Ihr naheliegender Name ist »Das Liebesverbot«. Sie ist von einem Mann namens Wagner, die Bezeichnung für einen Beruf, der in Klatschertnass auf die Wählerkrampen aufgeteilt ist, welche Räder oder andere bewegliche Geräte herstellen. Die Komposition muss schon sehr alt und zu einer Zeit passiert sein, als es noch ein Orchester im Dorf gab.«

»Ein Orchester?«

»Tropfen, die all diese Instrumente auf einmal spielten!« Stolz breitete er seine Arme in den Ladenraum hinein, hin zu Violine und Bratsche, Becken und Pauke, Oboe und Klarinette, Cello und Kontrabass. »Zusammen ergeben sie dieses wunderschöne Gemälde der Musik, diese unfassbaren Klangreihenfolgen, wie nur Töne unfassbar sein können, vor allem, wenn sie in der richtigen Abfolge gespielt werden wie hier. Ist es nicht eine Gnade, solch eine Musik hören, gar fühlen zu können, sie aufzunehmen, als ob man ein Buch tränke? Doch die Geschichte selbst erzählt auch einiges. Es war einst die Zeit des ausufernden Feierns. Umtriebe sind durch den Oberstadtfrack verboten, doch ein Junge verstößt dagegen und seine Freundin erwartet ein Kind.« Der Musihaberer hielt kurz inne, wusste er doch nicht, ob Mia aufgeklärt war oder nicht. Doch sie nickte nur, als hätte sie verstanden und er fuhr fort: »Dafür soll der Junge sterben, obwohl er sie liebt und heiraten möchte. Die Wählerkrampen wüten und die Schwester des Jungen erklärt sich bereit, den Statthalter zu ehelichen, um ihren Bruder zu retten. Doch kurz vor der Heirat erkennt die Schwester, dass der Oberstadtfrack die Begnadigung nicht unterzeichnet hat und präsentiert dies den Wählerkrampen. Doch der Oberstadtfrack wird nun nicht Opfer seines Volkes, es fordert die Freigabe der Liebe. Und er bekommt sie.«

»Was für eine schöne Geschichte.«

»Aber keiner weiß, wo diese Liebe geblieben ist. Auch du nicht, mein Kind. Es tut mir leid, Kind, ich muss leider weiter wischen, mein Hallodri scheint schlapp zu machen.«

Der ächzte, auf Knien gebettet, schwer auf.

Noch immer die Oper samt Geschichte im Kopf verließ Mia den Laden.

Sollte Klatschertnass das Vorbild für diese Geschichte sein … wann war das passiert? Und was war danach passiert? War die Liebe in Klatschertnass doch frei und der Musihaberer, ewiger Junggeselle, einfach nur frustriert? Ist das diese Liebe, die sie manchmal verspürt, aber nicht weitergeben kann?

Den Korb in der Hand musste sie nun endlich nach Hause. Sie lachte mit ihrem Herzen, der Musik sei Dank!

Die Märchenkönigin

Подняться наверх