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Hexendreck

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Besuche bei Unbekannten

gehören sich vergessen oder zu den interessanten.

Der Frühstückstisch war reich gedeckt. Äpfel und Birnen tummelten sich mit Bananen und Pflaumen, mit heißem Wasser samt Pfefferminztee und Brot um die besten Plätze.

Mia hatte die letzte Nacht hinter sich gelassen, der Giftmischer dagegen nicht.

»Du siehst müde aus. Alles in Ordnung?«

»Ja, Mia. Ich habe einfach nur schlecht geschlafen.«

»Was treibt dich um?«

»Die Geschichte mit der Urgewalt. Ich habe mir noch ein paar alte Erzählungen angetrunken, die ich in den hintersten Ecken der Bibliothek gefunden habe. Ich will dich damit nicht belasten.«

»Nun hast du schon mit der Geschichte angefangen. Bring sie nun auch zu Ende! Was stand drin? Und nicht irgendwelche Märchen, verstanden?«

Ihre Art zu fragen hatte sich in den letzten Dekadenwochen zunehmend verändert. Ja, sie war nun definitiv kein Kind mehr. Sie war nun einer von ihnen, von den Alten. Und damit übergesiedelt von der nölenden auf die nervige Seite.

»Es ist die Sage, von der ich dir erzählt habe. Diese … Urgewalt scheint keine Erfindung des Sinnierers oder des Oberstadtfracks zu sein. All die Dekaden hat sie stillgehalten. Nun wurde sie entfesselt. Von wem und wieso auch immer. Das betrübt mich. Es könnte zur nicht mehr beherrschenden Gefahr werden. Und der Oberstadtfrack führt sich auf wie der Retter! So ein Spinner.«

»Kann … ich was tun? Ich bin anders! Ich bin groß und stark!«

Vielleicht war sie doch noch keine von den Alten. Der Giftmischer stand auf und legte seine Stirn in Falten. Gedankenversunken schritt er durch den großen Raum, über ihnen die Galerie mit dem unzähligen Wissen seiner Bibliothek.

»Ich weiß es nicht.« Es war nicht die Antwort, die er sich in all den Dekadenmonaten zurechtgelegt hatte. Nein, das war nicht die Antwort. »Ich weiß es nicht.« Er seufzte leise.

»Woher komme ich, Giftmischer? Habe ich etwas mit der Urgewalt zu tun? Gibt es noch mehr, die aussehen wie ich?«

»Verdammt, Mia! Ich … ich … weiß es nicht.«

Ich bin so hin und her gerissen! Ich bin so hin und her ... und ein Lügner und ein Feigling.

»Wer weiß es dann?« Mia war plötzlich ungehalten, aufbrausend, pelzig. »Irgendwie muss ich hierhergekommen sein. Ich habe mir diese Frage schon oft gestellt. Meinst du, mir ist es als Kind nicht schon aufgefallen, dass ich anders bin als alle hier? Dass meine Anwesenheit toleriert, aber nicht akzeptiert wird? Dass ich keinen echten Vater und überhaupt keine Mutter habe? Dass sie mein Theater nur mögen, weil sie mich da nicht sehen?«

»Ich weiß es nicht!«, durchdrang es zornig gepresst den Raum. Und noch einmal: »Mia, ich weiß es nicht!« Seine Augapferl glühten, Ihr verständliches Anliegen nervte ihn, sie nervte ihn ungemein, ihn nervten Fragen, die er nicht beantworten konnte oder vielmehr wollte, war er doch der Alchemist, der Dokta, der Lehrer, die Institution des Wissens! Und planlos. Leider tat er dies unter diesem Deppenhaufen eines abhängig-erpresserischen Oberstadtfracks, eines vollblutdepperten Sinnierers, eines breitfußtratschigen Botschaftsspreißlers und eines charakterschmierigen Ordnungsdoktas. Aber hohe Ämter strebte er nicht an und ging damit einem Wissenskampf und Wortekrampf aus dem Weg. Er hatte andere Sorgen, die durch den Oberstadtfrack noch verdichtet wurden.

Ich weiß es nicht! Und wo blieb er nur? Wo blieb sein Bote? Es eilte allmählich.

Irgendwann würde er es selbst glauben.

Doch seine Unbeherrschtheit hatte Mia erschrocken, sie rannte enttäuscht und mit Tränen in den Augen nicht in ihr Stuberl, sie rannte nach draußen.

Das Dorf erwachte gerade aus der Schlummerlnacht, das tägliche Treiben setzte sich fröhlich in Gang. Mia schlenderte, wieder einigermaßen mit sich im Reinen und weil es einfach erwartet wurde, durch die einzige Hauptladenstraße. Ein tropenrundes Haus klebte am nächsten wie honigüberzogene Äpfel an einem Spieß. Ihr Grant war vertrieben worden, sie liebte diese kleinen Läden, die Krämerbuden, diese kugelförmigen Fachwerkhäuser mit Runddach, mit den vertikalen und schrägen, aber gerundeten Hölzern, dazwischen Lehm und Stein, das Fach- oder vielmehr Flechtwerk wirkte schmuck und einladend, phantasievoll fürs Auge, freudig fürs Herzerl, geschweifte Andreaskreuze und detailreiche Holzmaserungen, farbenfrohes Holz in Rot, Braun oder Blau, kombiniert mit weißem Lehm oder dunkelgrauen Stein.

Es war die Prachtstraße von Klatschertnass, kuschelig und fröhlich, neugierig und gut besucht. Während der Musihaberer und der Obstler ihre Lädla am Markt hatten, waren die süßen Konsumkammerl hier nicht solche Beidlschneider wie die beiden Ruachn vorne.

Als erstes rechte Pratzen stand das gelbe Tropfenhäuserl des Ressourcenrammers. Er war dafür zuständig, dass alles wiederverwertet wurde, was nur wiederverwertet werden konnte. Er war ein einerseitshalber Stadtkommunerer und ein andererseitshalber Geschäftsmann, aber doch ein echt’s Urviech in Klatschertnass. Er bereitete alles wieder auf, vom Aschenkübel bis zur Twistel, obwohl die zuweilen verboten war.

Gegenüber, natürlich aus natürlichem Holz, war der Stadl des Holzknechts, der alles aus einem feschen Stück Hölzl machen konnte, vom Haus und Möbelstück bis hin zum Zahnstocherl, wenn dem Sinnierer mal wieder der Rest vom Germknödel, den es übrigens nebenan beim Hutzelweib gab, in den Quersparren hängen geblieben war. Aber manche als tolldreiste Bauten verkauften Holzstatuen ließen schon erahnen, dass der Holzknecht auch recht ein Stangerlaff war und Blödsinn verzapfte. Wiederum gegenüber der Germknödelschmiede befand sich die Kaluppe vom Bollenbruder, ein furchtbar vorsichtiger Tropfen, was wohl auch daran lag, dass es im Inneren seiner alten Hüttn einem doch etwas blümerant werden konnte, obwohl er nur Galoschn und anderes Schuhwerk verkaufte. Auch der Mief darin war sakramentisch, aber aushaltbar. Und die Schuhe taten ihren Dienst als wären sie der Ordnungsdokta persönlich. Und Socken gab es dort auch, um strumpfert blasenfrei sämtliche Tappen tragen zu können.

Ein absolut pimperlwichtiger Laden war der von der hübschen Quadrattratschn, einer Schicks, die schon etliche Tropfen verschlissen hatte, obwohl sich eigentlich keine Britschen in dem Sinne war. Doch ihr Geschäft, ihr kleiner dunkler Laden, das Sacklzement, war nicht nur der Austauschort des tratschenden Klatsches und klatschenden Tratsches, es war auch der Ort der kleinen Behälter und Gefäße. In diesem waren selbstgemixte Flüssigkeiten, die Glückwünsche und Gratulationen, Freude und Dank, aber auch Flüche und Beleidigungen enthalten konnten. Mia wusste nicht, ob die Quadrattratschen es selbst herstellte oder der Giftmischer als Lieferant fungierte. Wahlweise wurden sie dem Beschenkten zum Mahl als Getränk gereicht, sie konnten aber ebenso, und das war besonders gemein, an den Delinquenten verspritzt werden, als stehe man als Kerl vor einer Soachrinne. Doch auch das konnte man steigern, indem man gar nicht spritzte, sondern ihm gleich das komplette Gefäß an den Oargackerlkopf oder die Blattn, oder wenn es politisch wurde, dem Großkopferten schmiss. Von den Flüchen her gab es den Saxendi, ein harmloser Fluch, sowie den Krullemuch oder das Schlussschnauferl mit vier S, das waren leicht abgemildete Flüche, die als Aussage des Unmuts und der Unzufriedenheit gschmeidig waren. Steigerungen waren die Fluchflakons in verschiedenen Farben gar mit Sapralot, Sakrament oder gar Jessasmariaundjosef, wobei aber nicht einmal der Giftmischer wusste, was Letzteres genau bedeuten sollte. Aber ein Treffer war intensiv, sehr intensiv. Manche Gratulationen waren gar mit Alkohol ausgestattet, was viel Tropfen gierig einliterten und zu Rauschkugeln mutieren ließ und man seinen Affen hatte. Wo auch niemand wusste, was das zu bedeuten hatte, was sollte ein Aff sein? Dann gab es noch Sackerl mit Veilchenessig, wohltan beliebt bei Faltigen, bügelte es doch das Gesichtsleder wieder platt. Beliebt war auch das Versenden mit der Post, aber letztens wurde der Postler dabei erwischt, wie er von den Briefen getrunken hatte. Da gab’s reichlich Zunder!

Einen Fluchflakon selbst hatte Mia noch nie ausprobiert, gab es doch auch niemanden, dem sie böse war, gar verfluchen wollte, selbst wenn die Tropfen ihr gegenüber so eigen waren. Aber schenken … es gab den Giftmischer und … nein, persönlich war besser. Außerdem … sie glaubte nicht daran. Es sah eher nach einem Fluchflakonflunkern aus.

Daneben war der buntbeladene Bleamleladn der Bliahbluten. Sie hatte einen grünen Daumen, was Blumen und andere Pflanzerl betraf. Ihre Namen hatte sie von daher, sollte sie sich eine offene Wunde zugelegt haben, würde aus ihren Aderln die Blätter einer Rosn danageln. Sie lieferte auch die Veilchen nach nebenan, die gab es auch nicht in blau und nicht aufs Auge.

Dann war da noch der Ranftlerverkauf und dieses Problem hatte sicher schon jeder einmal, der den Anfang und das Ende eines Brots übrig und für das Anfangende noch weniger übrighatte. Der Ranftlerverkauf war das Tauschplatzerl für Tropfen, die diese Brotkonstellation verabscheuten und den anderen, die die geschmähten Arschbacken von Brot, Hutzelbrot oder auch Oidbachanes liebten.

Wiederum auf der anderen Straßenseite hatte der Bschoadbinkerl seine Gastronomie. Über seiner Tür hatte er ein goldenes B anbringen lassen und bei ihm konnte man eben Bschoadbinkerl sich zusammenstellen lassen und als Bündel mitgebrachter Speisen zu seinen Liebsten nach Hause bringen. Schnellschmankerl wurden sie auch genannt. Er stand mit seinem Laden etwas im Schatten der drallen Fressfotzn.

Dann gab es noch das Bildlahaus mit vielen Sesseln zum Reinhocken und einem weißen Tuch am Ende des Saals. Hier konnte sich der Freizeittropfen Aufnahmen vom Bildlamacher ansehen, manche waren sogar so gut miteinander verbunden, dass sie fließend waren. Der Bildlamacher stand dazu immer auf einer Empore und warf seine Bilder sozusagen per Licht an die Leinwand. Und die wackelte nicht mal.

Dann gab es noch die Bank und das Fürsgeldinstitut, wo es alles für das Diridari der Tropfen gab. Kissen, um es darunter zu legen, Pulverdosen, um zu sparen, oder, für die Reichen, Schotterschatullen, für größere Rücklagen. Geldsackl zum Anbringen an die Hose, oder Moos, um es dort weich ablegen zu können. Beliebt war auch das Notscherl, eine tropfenähnliche Figur, wo genau eine Münze hineinpasste, nämlich der Notgroschen. Und dann gab es eben noch die Bank davor, um sich darauf auszuruhen.

Sehenswert war das MoMA, »Museum oder Möchtegern-Ausstellung«, eine Mess der dämlichsten Gegenstände, die Klatschernass je erfunden hat. Sie war von nüchternen Tropfen stets schlecht besucht, aber wichtig für die Kultur. Beispiele für Stücke im MoMA waren ein Nasenrammel aus dem Gimpel des Unbekannten Tropfen, ein Butzhadern der ersten Haushälterin im Gmeindestadl, ein Spreißelholz vom Kopfkratzen des Sinnierers, ein Krullemuck, der erste Fluch des Sackelzements oder ein Spruchbeitel mit Sprüchen im Beutel. Um Besucher zu generieren gab es öfters ein beschwipste Schnapserl, getränkt mit einer urigen Geschichte, das zum Lachen und Diskutieren einlud.

Am Ende der Straße blieb Mia stehen. Sie starrte auf das Haus der Duddnbatscher. Ihre beste und einzige Freundin hatte dort gewohnt. Sie war verschwunden. Ihre Alten sagten, sie sei nun im Süden auf einer Schule, gute zwanzigtausend Meter entfernt, eine unglaubliche Entfernung! Zumindest hörte sich für Mia diese Zahl wahnwitzig hoch an. Doch das Tattern in ihrer Ansage verriet etwas Anderes. Zudem gab es so weit entfernt keine Schule, nicht einmal ein Gebäude.

Sie vermisste die Hemadlenzi, die ihren Namen daher hatte, weil sie so gerne die weißen, viel zu großen Hemden ihres Vaters wie ein Kleidl getragen hatte. Wo mochte sie nur sein?

Tränen.

Tropfen.

Auf den Boden.

In der Ferne.

Am anderen Ende der Welt.

Angeblich.

Ich vermisse dich.

Mia war ausgerissen damals. Der Giftmischer hatte nie darüber geredet, oder sie ausgeschimpft gar. Es war wohl Strafe genug gewesen, dass die Hemadlenzi verschwunden war.

Sie sei weg.

Am anderen Ende der Welt.

Wollte sie Mia einst suchen? Ihr folgen? Mit ihr gemeinsame Abenteuer erleben?

Als sie damals zurückgekehrt war von ihrer sinnlosen Reise, hatte sie just an dieser Stelle gestanden, hier bei dem Laden mit den schiechen Kleidern, als der Botschaftsspreißler über die Gschmarriwuchtel das Nachfolgende berichtete: »Es lag nicht an der Scheißerei oder Eurem Dreck, dass der Bach verreckt. Aber unserer Großkopferten ganz famos, brachten den Dreck wieder los.«

Alles war gut, das Wasser wieder rein, die Freude der Tropfen groß, wie konnten sie nur … so ignorant gegenüber ihrem Verschwinden sein?

Vor ihr jenes Schaufenster, bestückt mit einem blauen Kittel und anderen Damenröcken, Bustiers, Korsetts für die arg fetten Tropfen, Hemad und Hosen, Pumperer, die Hose unter der Hose und auch Knödelheber für den Tropfenbusen von heute. Beim Duddnbatscher erhielt man alles, um sich richtig einzugwanden.

Mia musste auf andere Gedanken kommen. Sie lief noch ein paar Schritte, sie kreuzte die Wege vom Bipgockel, Muhackl, Malefix und diesen ekligen Glupscherln, als sie schließlich die Dult entdeckte. Weiter hinten spitzten die Türme der WWW hervor. Die Dult war auf einem großen weiten Platz aufgebaut, nach Süden ging die Straße weiter in die Natur, nach Osten standen weitere Häuser und nach Westen öffnete sich die Weite einer Wiesn, an deren Ende der Verbotene Berg samt Nebelmützn residierte.

Doch vor ihr, da, eine Schiffsschaukel, ein Karussell, eine Wurfbude und ein Riesenrad! Leider war alles noch geschlossen, aber als Erntedank hatte sie der Oberstadtfrack bereits aufbauen lassen!

Die Schiffsschaukel, aus altem Holz geschnitzt, in weichen Blautönen gehalten, mit Überschlag gar, was sich aber kaum einer traute. Die Schaukel selbst war ein längsgezogener Tropfen mit einem Polster darin, abgesessen, obwohl die meisten doch standen, um stämmig die Schaukel anzuschubbern. Drumherum kleine Birnerl fürs Licht, dazu reichlich Girlanden und Tüll, das die Schaukel umschmeichelte als ginge es um die heiß umworbene Dorfpomeranze in den hechelnden Augen der bunt triebgetriebenen Tropfjungesellen. Das hatte mit Liebe wahrlich nichts zu tun. Das Karussell war da schon nüchterner, dennoch versehen mit den buntesten Stühlen und schreiendsten Plüsch, was Klatschertnass zu bieten hatte. Kommodes Sitzen, schnelles Drehen, lautes Schreien, eine Gaudi für Jung und Alt, auch wenn das Holz hier schon quietschte und da schon knarrte, die unendlichen Verzierungen einen Anstrich gebrauchen konnten, der Kreisel nicht mehr rund lief und die Balken die beste Fünf-Sterne-Kaserne für Holzwürmer bot. Die einfache Wurfbude mit seinen aufeinander gestapelten Hüten, mit den Visagen des Sinnierers, des Oberstadtfracks, des Botschaftsspreißlers und des Ordnungsdoktas, sie mussten nach hinten abgeräumt werden mit Filzbällen, auf denen sogar deren Fratzen als Karikatur eindeutig erkennbar waren. Die Kinder hatten Freud’ am Wurf, die Erwachsenen am Kabarett, dass der Wurfbudenbesitzer mit den Bällen zum Besten gab. Umwerfende Politik mit Budenzauber.

Und das Riesenrad. Es war nicht allzu hoch, wie der Gmeindestadl in etwa, aber doch überragender als so manches Tropfenhaus. Nur fünf runde und dachlose Gondeln rotierten, doch sie taten es mit Charme und Leichtigkeit. Der Ausblick war dennoch zum Fetzen, so toll war er. Der Erfinderinschinör hatte wahre Arbeit mit dem Aufbau geleistet. Die entscheidenden Streben zur Mitte hin waren knickbar und so konnte das Riesenrad mit einem Tun einfach zusammengefaltet und in einer auswallenden Kistn transportiert und gelagert werden.

Sie hielt kurz inne und starrte weiter hinaus, auf die Wiesn, und in die Ferne, wo der Wald und der See lagen. Die Wiesn selbst aber barg eine Besonderheit. Zur Mitte hin war sie kreisrund abgesenkt und ein Rohr blinzelte aus dem Boden, ein dickes Rohr und etwa alle drei Dekadentage schoss ein Wasserstrahl mit unbändiger Kraft und lautem Grollen heraus, bis er fast oben den Himmel berührte. Der Bereich wurde immer abgesperrt, so brachial war der Spritzer Richtung Decke.

Es war die Fontäne des Mordshupferten Sprudelwassers. Manche nannten es auch das Pieseln des Glücks. Was sich genau dahinter verbarg, hatten die Tropfen nie herausgefunden.

Doch jetzt war alles ruhig. Ihre Gedanken lagen sowieso weiter rechts, hinüber zum Berg, der für sie wie ein Ausweg erschien. Was war daran so ungewöhnlich, dass er verboten war? Abgesehen vom Nebel und einem Tier. Dass wahrlich ein Gott alias Empedokles von dort herabsteigen würde?

Und die Bergeroberung?

Ja, er wirkte imposant, einschüchternd gar, aber doch schien er auf der Seite Richtung Klatschertnass nicht unnahbar, nicht so steil, nicht so felsig, mit einem Hölzl gar, nicht viel, ganz wenig, aber doch.

Sie entdeckte den Bildlamacher ein paar Meter unweit vor sich. Sie stand auf und trat auf ihn zu. Dann setzte sie sich neben ihn. Sie war im Sitzen so groß wie er im Stehen.

»Hallo Bildlamacher!«

Der Bildlamacher erwiderte den Gruß nicht. Stattdessen kam aus seinem Schlitz ein Bild heraus, auf dem eine winkende Hand abgebildet war.

»Du beobachtest den Berg, stimmt’s? Dass Gefahr droht wie aus dem Tunnel.«

Er nickte, soweit es ihm möglich war.

»Meinst du, dass es möglich ist, den Berg zu erklimmen?«

Wieder ratterte es und ein Bild des Bergs kam heraus. Es war düster, auf den oberen Teil fokussiert, der im Nebel lag. Mia nahm und studierte es. Der Berg war schroff und steil, es führte kein Weg hinauf. Zumindest kein offensichtlicher. Es ratterte noch einmal, dieses Mal war es Faust mit einem Daumen, der nach oben zeigte.

Oder nach unten, wenn sie das Bild herumdrehte.

»Vermaledeit! Vermaledeit!«

Der Giftmischer fühlte sich, als hätte die Jagd auf bessere Tage begonnen. Denn schlechter konnte es nicht werden. Er stand unten, fast in der Mitte seines runden Raumes, über ihm die Galerie. Sie umkreiste ihn, bereit, den Ring enger zu ziehen und ihn zu erdrücken. Die Kugel, die da oben unterm Dach hing, wirkte plötzlich bedrohlich und herunterfallend.

Er fühlte sich nicht wohl. In ihm bereicherte sich der Schwindel und der Schweiß, was ihn nach außen hin malad und wepsert wirken ließ. Auf dem Absatz schmirgelte er eine Kehrtwendung, holperte Richtung Fenster und schnappte sich eine Handvoll gelber Linsen und einen Fingerbreit weißer kleiner Kugeln, die er in einen Mörser rinnen ließ, um sie dann sogleich mit einem Stößel zu zerdrücken. Das Gelb verschwand fast im Weiß, er rührte es mit einem goldenen Löffel um, bevor er es auf einem Teller verteilte. Dann platzierte er seine Nase direkt über dem gewonnenen Pulver und zog es durch sie hinauf direkt in sein Hirnkastl.

Sofort setzte die Wirkung ein, sein Denkzentrum begann zu arbeiten, es begann zu sortieren, es begann aufzuräumen.

Wolpertinger weg!

Der Doktor in den Mittelpunkt!

Der weite Weg, schon oft gelaufen.

Der Nebel unwichtig, da nur Staffage!

Gmias ist wichtig! Mehr davon!

Die Schlussfolgerungen Mias sind konsequent und erstaunlich! Zwischenlagern!

Empedokles war kein Gott! Er war ein Blender! Huldige ihm nicht! Vergiss ihn.

Achte auf den Oberstadtfrack! Er ist dumm! Und doch durchtrieben!

Mias Makel! Mias Herkunft! Mias Wesen! Mias Aussehen!

Leonardos Aufzeichnungen.

Mia arbeitet auf den Feldern! Mias Körper entwickelt sich! Mias Körper ist keine Birne und kein Apfel.

Veränderung! Veränderung!

Mein Hirnblitzer hält inne.

Farbenfroh.

Mein Körper ebenso.

Blass.

Das Glas mit der roten Flüssigkeit. Und dem »M« darauf.

Mia muss aufhin. Mia muss aufhin.

Nein, wir alle müssen nauf.

Weg mit Gewalt von der Urgewalt.

Beherrschung von oben. Beherrschung von oben!

Er verlor an Kraft, die Aufräumarbeiten seiner stämmigen Hirnzellen zehrten an den Muskeln und Geist. Er musste sich mit seinen Armen auf dem Arbeitstisch abstützen. Er drehte seinen Kopf zur Seite, hin zur Wand, zu der Stelle, wo der Aufzug die Galerie hinaufging. Dort hatte er kleine Striche eingeritzt, Einkerbungen in das Holz. Bald war die Ernte geschafft, dann wurde es Zeit für eine neue Messung. Es wäre der zweiundzwanzigste Strich seit sie hier war. So viele Dekadenmonate seit sie bei ihm wohnte. Er sie aufgenommen hatte.

Farben zogen sich in der Luft zusammen und umspielten seinen Körper, sie bildeten eine Kugel um ihn, sie flossen ineinander über, aber es waren keine dunklen Farben dabei, sie waren ausgeschaltet, denn sie waren negativ, boshaft und erschütternd. Es waren vielmehr die Farben des Regenbogens, der Freude und der Kraft. Diese kehrte allmählich in seinen Körper zurück, er schloss die Augen, breitete die Arme aus und atmete tief ein. Ein Zischen ertönte, ein Schnaufen, einen Zug Luft holen, er sog die Melancholie der Reflexion und Absorption des hellen Lichts in sich hinein, er genoss die wohlige Wärme in sich, er suhlte sich in einem Moment der absoluten Glückseligkeit, alles war in bester Ordnung, frei und wohlig.

Dann öffnete er schlagartig die Augen. Er war wieder in seiner Welt.

Wütend knurrte er, doch er wusste, was nun zu tun war. Und es war nichts mit dem Sinnesradio.

Er ging auf den Abort und vereinbarte ein Geschäft mit dem Rundkolben. Dort war bereits sein Gseich von der Sage des Empedokles drin, schön gelb und damit nicht verwässert. Er würde das alles nun mixen und als neues unglaubliches Trinkbuch in die Bibliothek stellen. Sollte davon jemand mal Wissen trinken … was für ein Spaßerl!

Und doch … wo nur, wo nur blieb der Wolpertinger?

Es war früher Abend geworden in Klatschertnass, das Tagwerk vollbracht, die Ernte weiter fortgeschritten als gedacht. Die Tropfen trafen sich auf einen Umtrunk in der Kneipe »Blauer Spritzern« bei der üppigen Fressfotzn und ihrem Brunftschuppen. Es wurde zu Musik getanzt, die der Hallodri vom Musihaberer bereitgestellt hatte. Sie lachten und feierten, sie tranken und lallten, es wurde a Gaudi gmacht. Die Wirtin, der körperlich breiteste Tropfen mit den lockigsten Haaren weit und breit, bestückte wieder und wieder das warme und kalte Buffet mit Nudeln und Pilzen, Reis und Kürbis, Beeren und Birnen, Algen und Seegras, Salat und Äpfeln. Fertig zubereitet waren Leberkässemmel und Wurzelsepp (das Getränk, nicht der Gartentropfen), Zornpickel und Jagdschneckenherzerl, wo es sogar ein Latzerl dazu gab, so siffig war’s beim Reinschauffeln. Zum Einlitern standen die wuchtigen Holztische voll mit Mostantauchertrunk, Bierbürstel und Warzenwein bereit. Es gab auch Wodka Klatschini, wahlweise mit einem Glupscherl (lebend oder gematscht) garniert, und geschwärztes WELF-Schnapserl, hergestellt aus Wasser, Erde, Luft und Feuer.

»Prost, dass der Zipfel net verrost!« Die Gläser krachten aneinander.

Mia hatte den Giftmischer überreden können, mit zur Fressfotzn zu gehen und er schien sich sogar zu amüsieren. Er unterhielt sich mit dem Musihaberer, es ging um die Einfärbung von Tönen in der Musik, was Mia aber nicht sonderlich interessierte. Immer wieder beobachtete sie den Verbotenen Berg.

Fast alle Tropfen waren gekommen, und die, die keinen Platz mehr ergattern konnten, rudelten im letzten Licht des Tages auf die schön illuminierte Dult und hatten dort ihre Gaudi, bevor die harte Arbeit morgen fortgesetzt würde.

Drei Hüte von vieren hatte Mia abgeräumt.

»Gell, das ist doch gscheit, wenn man denen mit ihrem Kopfl denen ihren Huat abräumen kann. Dieses befreiende Gefühl, dass ein Großkopferter gar nicht so großkopfert ist und in eine Hand passt!«

»Du erzählst immer das gleiche, du alter Oliaglehrer!«

Der Oliaglehrer war für einen Tropfen ein außergewöhnlich hagerer und langgezogener Lackel mit einem schmutzig grauen Hemd, schlabbrigen Hosenträgern, löchriger Hose, ausgebeultem Hosensack und offenem Hosentürl, was im Gegensatz zu sonstigen offenen Türen stand, die ja eher ein- als ausladend wirken sollten.

»Dafür bin ich da, fesche Mia! Nur … muss ich mir was überlegen. Durch deine Größe hast du natürlich einen unglaublichen Vorteil. Vielleicht sollten wir deine Oberarme am Körper festbinden!«

»Das rentiert sich aber nur für dich!«

»Was für ein Tier? Willst du mir mit Fremdsprachen imprägnieren?« Er bemerkte seine vorlaute Klappe. Er sah weg, er wich ihr aus. Er wollte sich wieder zu fangen. »Kommt her, ihr Tropfen, mit Gewinnen die Taschen vollstopfen!«

Sie ging weiter, die Schaukel erst einmal links liegen lassend zum Riesenrad. Ja, eine Fahrt nach oben, vielleicht konnte sie damit zwanzigtausend Meter sehen, ein Geschau bis ans Ende der Welt, bis zur Hemadlenzi. Sie vermisste sie.

Gerade so passte sie in die Gondel, doch da quetschte sich ein weiterer Fahrgast neben sie. Es war der Oberstadtfrack. Sie war erstaunt über die Unverfrorenheit dieses Hammels, aber er war eine wichtige Person in der Stadt. Nun, es war gar der Leithammel, was immer das auch sein mochte.

Langsam fuhren sie nach oben.

»Mia, ich habe nicht viel Zeit und wollte zumindest eine Runde mir genehmigen und einmal über unser wunderschönes Land schauen! Und ich wollte sagen, dass ich das mit dem Theater … es war ein Theater von mir. Es tut mir leid.«

Sie nickte. »Ja, es ist schön. Sehr schön sogar.«

»Diese Wälder und Wiesn, unsere schöne Stadt, dort hinten der Gmeindestadl, sieh nur, man sieht das Haus des Giftmischers, dein Zuhause, Mia, dein Zuhause!« Er breitete die Arme weit aus.

»Der Berg … warum ist er verboten?«

»Der Berg?« Er hielt kurz inne, die Arme noch immer ausgebreitet gaffte er sie an. »Der Verbotene Berg?« Er wandte sich nach links. »Gut, wir haben ja nur einen Berg. Er ist den Tropfen verboten, das ist einfach so. Aber du bist inzwischen fast ausgewachsen, wie dein Ziehvater mir sagte. Noch ein paar Dekadenmonate und du bist ein Mitglied der erwachsenen Gesellschaft.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht.«

»Du bist ein Geschenk für unsere Stadt, für unser Element gar. Du unterhältst uns, du lehrst unsere Kinder, du entwirfst neue Sachen. Du siehst nicht aus wie ein Tropfen, doch du bist einer von uns!«

»Ich gehöre nicht hierher! Sehen mich doch an. Ich passe kaum mehr hier in diese Gondel.«

Er musste das Element verlassen und ins Exil gehen.

Worte des Empedokles. Doch sie galten für sie. Der Berg ließ sie nicht los. Er muss der Ausweg sein. Der Fluchtweg.

Sie hatten den höchsten Punkt schon hinter sich gelassen.

»Mia … du bist erwachsen geworden. Deine Geschichten im Theater … du willst eine Prinzessin sein. Ich kann dir das bieten! Sieh nur der Gmeindestadl! Der Sinnierer … nun, er ist ein Doldi, a Depp! Das ist aber die Etage, wo du hingehörst, ganz nach oben!« Seine Hand legte sich auf Mias Oberschenkel. »Und ich darunter! Verlasse den Giftmischer und …«

»Bist du hirntappig?« Sie zog ihr Bein weg und sah ihn abfällig an. Sie fühlte sich unangenehm. Was tat er da? War es schlimm? Woher kam nur das … widerliche Gefühl in ihr?

Er erwiderte ihr Geschau mit einem zartfalschen Lächeln: »Man widersetzt sich nicht so leicht dem Oberstadtfrack. Ich habe deinen Rücken gesehen. Mit dem Symbol des Halbmondes darauf. Die Urgewalt kommt zurück. Gemeinsam können wir sie besiegen.«

»Welcher … Halbmond? Was ist ein Halbmond?«

»Zeig mir deinen Rücken! Sofort!«

Die Gondel war wieder unten angelangt.

»Drangsaliert dich der Bursche, Mia?«

Es war der Giftmischer, der am Ausgang auf sie gewartet hatte.

»Es ist alles gut, Giftmischer. Mia und ich … haben uns nur das Land angesehen. Unser schönes Land. Vom Berg bis zum Tunnel, wo die Urgewalt lauert und auf ihre Vernichtung wartet.«

Mit festen Schritten verschwand der Oberstadtfrack in der Tropfenmenge.

Welcher Halbmond? Was ist ein Halbmond?

Es war Nacht geworden. Die Gondelbegegnung mit dem Oberstadtfrack hatte Mia einigermaßen vergessen. Auf ihrem Rücken hatte sie nichts gefunden. Nachdem sie sich mit fruchtigen Leckereien gestärkt hatte, war sie vollgeschwappt von all der Mette und der Ausgelassenheit der vielen Tropfen. Dieser Unruhe sickerte durch ihren Körper und so verließ sie das urige Gasthaus am Ende des Marktplatzes. Lautstärke wurde vom Markt und der Dult umhergetragen. Sie beschloss hinfort zu gehen, um die Ruhe zu genießen und zwar über den oberen Weg.

Der Trottoar führte leicht bergauf, vorbei an den letzten Häusern, bevor Wiesn und Fels üppig der Landschaft entwuchsen und sie das Haus des Giftmischers in der Ferne trotz der Dunkelheit schon zu erkennen vermochte. Doch eine Hirwa, eine bemitleidenswerte Behausung, kreuzte unerwartet ihren Weg, obwohl sie wusste, dass sie dort stand und wer da wohnte: Die Drexxhexx.

Ihre Holzhütte wirkte bei näherer und lichtabgewandter Betrachtung klein und bescheiden, und doch war sie verziert mit allerlei Utensilien und Schnörkeleien aus Holz und Stein. Herzen und Kugeln, Wurzelstücken und Stöcken, Würfeln und Ketten. Ihre Fenster hatten Fensterläden, ihr Haus sogar ein richtiges Dach mit Holzschindeln und Steinkamin, obwohl zumindest Ersteres Schmarrn war. Mia hatte sie in all den Zeiten nur zwei oder drei Mal aus der Ferne gesehen. Sie wusste, dass sie unwahrscheinlich alt war und nicht laufen konnte. Gesehen hatte sie sie immer auf dem Markt, sie bewegte sich mittels einer Holzkiste fort, es waren nur ihr Oberkörper, ihre Arme und ihr Kopf zu sehen, was viele Tropfen mutmaßen ließ, sie leide an einer schweren Krankheit und wollte verhindern, dass man über ihre verdorbene oder deformierte Tropfenform tuschelte, von all den Wucherungen und Warzen, Eiter und körperlichen Verfließungen, die sie mutmaßlich versteckte, ganz zu schweigen. Und doch war sie noch nicht allzu lange hier, ungefähr seit der Zeit, in der Mia bemerkte, wie sich ihr Körper veränderte. Angeblich hatte sie vorher zurückgezogen an einer Felswand gelebt.

Die Tür stand offen.

Nicht weit, nicht sperrangelweit, nicht zu. Einen Spaltbreit offen.

Es flackerte Licht heraus. Aber nicht Licht wie von einem Lamperl, sondern Licht von einer Kerze, denn es bewegte sich unruhig, fast fiebrig.

Zögernd trat Mia einen Schritt auf das Häuschen zu. Von unten waren die wirren Gespräche der Tropfen zu hören, aber würden sie sie hören, wenn sie in Gefahr käme?

»Komm ruhig herein! Ich tue dir nichts!«, sprach es von innen.

Die feste, alte Fistelstimme durchfuhr böse ihre junge Adern.

Ho ho, nichts tust du ihr, nichts, nichts, bis jetzt, bis jetzt!

Sie reckte den Hals, als ob sie damit mehr durch den Spalt erkennen konnte, doch da war nur dieses Licht.

»Nun komm schon! Ich bin eine alte Frau in einem Holzverschlag. Was soll ich dir antun können?«

Uh uh, Holzverschlag, ein Schlag, ein Holzverschlagschlag!

Mia schluckte schwer, sie erstickte fast an einem Speichelklumpen und doch fasste sie sich ein Herz und näherte sich dem schmucken Holzhaus. Sie drückte die schwere Türe gar in den Wohnraum hinein.

Eine andere Welt tat sich vor ihr auf. Ihre Augen sogen die alte und gepflegte Einrichtung, ihre Nase den Duft von Lavendel und Zedernholz intensiv auf.

Üppig breitete sich ein roter Teppich aus, in dem schwarze Symbole eingestickt waren und an dessen Ende ein Tisch mit zwei Stühlen und der Lichtquelle, einer Lampe mit einer kleinen Birn (und doch keine Kerze) stand. Rechts befand sich eine Zeile, die Kuchel, mit drei Töpfen und einer Pfanne. Besteck, Koch- und Suppenlöffel, eine Schere und ein Heber hingen an Schnüren über dem Herd, die daneben befindlichen Kastl waren ordentlich verschlossen. Nichts war geschlampert. Nur ein paar Spinnenweben und etwas Staub war zu sehen. Sie hatte ein Waschbecken mit Abspülhadern, was nicht ungewöhnlich war im Element des Wassers, ebenso wie ein Waschstampferl fürs Säubern vom Werktagsgewand oder Sonntagskleidl, was Mia schon immer als große Erfindung und hervorragende Ausnutzung des Wasserdrucks eingestuft hatte. Darüber war ein weiteres Kastl befestigt, sehr hoch, er musste leer sein, würde sie diesen doch nie erreichen können. Geradeaus nach hinten stand in der Wand noch eine Tür, die geschlossen war und sicher zum Bad und dem Schlafgemach führte, denn es war die einzige Tür neben der Haustür im Raum. Links standen lediglich ein wuchtiger Schrank und Regale mit allerlei Krimskrams darin. Der Raum war sowieso übersät mit allerlei Sammelsurium, Blumenstöcken und Gießkannen, Gläsern und Flaschen, Sträuchern und Ästen, Kerzen und Gefäßen, was einen Wohnraum wohnlicher, aber auch erdrückender machen konnte. Oben an der für Mia nicht weit entfernten Decke hingen Tassen und Teller, Gabeln und Messer, ein kleines Boot nebst Ruder. Wie konnte das sein? Krüge und leere Fässer, ein Gefährt mit zwei Rädern, was Mia noch nie gesehen hatte, Körbe, getrocknete Äste, ein Teppich klebte gar an der Decke, Fußspuren waren darin zu erkennen, Kisten und Spieldosen und noch vieles mehr baumelten über ihren Köpfen. Im Eck stand noch ein Reisigbesen.

Aus der Dunkelheit in das Funzellicht links neben dem Tisch schälte sie sich hervor: Die Drexxhexx.

»Hallo mein Kind. Es ist schön, dich hier zu sehen.«

So knuddelig, das Kind, zum Auffressen, zum Auffressen! Schön!

Warme Mahlzeit, warme Mahlzeit, krächzte es im anderen Ohr der Dreckshexx.

Mia stand da wie ein kleines Mädchen, nicht wie eine angehende Frau, wie es der Oberstadtfrack, das Bootsmannel und der tatschige Giftmischer ihr gelobhudelt hatten.

Die Drexxhexx steckte wie in Mias Erinnerung in einer Holzkiste, aus der lediglich der Oberkörper samt Arme und natürlich dem Kopf herausschauten. Dadurch war sie nur etwas kleiner als Mia, was ihr trotz aller Überraschung und Furcht sofort aufgefallen war. Den Tropfen missfiel vielleicht, dass sie zu ihr aufsehen mussten, so wie es manchen scheinbar mit einem Mal missfiel, zu Mia weit aufschauen zu müssen. War sie bei der Fressfotzn nicht fast komplett ignoriert worden? Hatten nicht nur einzelne Erntehelfer meist mit ihr geredet und geflachst? Und das näher betrachtet sogar eher oberflächlich und nicht stets ehrlich, immer mit einer Spur Misstrauen in Mimik, Stimme und Gestik? Und der Rest?

Die Drexxhexx machte ihrem hinteren Namensteil Ehre, hatte sie doch eine krumme Nasn mitten im vergerbten Gesicht, ein dunkelgraues Kopftuch auf dem Haupt, war ihre Jacke doch zerschlissen und ihre Hände abgearbeitet. Die Ohrwascheln lagen frei und stets dachte die Drexxhexx, dass ein jeder die beiden garstigen jungen Frauen sehen musste, die an ihren Ohreingängen saßen, frotzelten und jaulten, flüsterten und lästerten, provozierten und den Wahnsinn betrieben. Doch noch nie hatte jemand eine Andeutung gemacht, doch auch selten genug ging sie vor die Tür. Vielleicht waren ihre Ohren doch sauber und die Stimmen eine Einbildung durch Einsamkeit.

Die Drexxhexx schien ein intensives Leben hinter sich zu haben, und doch verrieten ihr Anmut, ihr Antlitz und ihre Guckserl das sie einst sehr fesch gewesen sein musste. Unbehagen und Wohligwarm. Mia hatte den Eindruck, sie war ihr jetzt schon näher als jedem anderen Tropfen oder vermittelte nur ihr Dasein diese Annahme?

Die Kiste, aus der sie herausschaute wie der kecke Kaschper ihres Theaters beim Spaßmachen, wirkte neu, frisch geschliffen und gestrichen in einem hellen Braun. Vor ihr stand ein Schädel. Das war gruselig.

»Weißt du, was helles Braun bedeutet?«, begann die Alte die Konversation.

An ihren Ohren feixte es bereits, erst links, dann rechts.

Helles Braun, helles Braun. Beige! Beige!

Dunkles Orange, dunkles Orange! Beige! Beige!

»Bitte?« Mia war aus ihren Gedanken gerissen worden, deren Worte aber mit der Frage der Drexxhexx zu übereinstimmen schienen. Sie fühlte sich unwohl, ertappt, fröstelnd. Konnte sie Mias Gedanken lesen?

»Braun ist nichts Anderes als verschmutztes Rot, wie sinnlos vergossenes Blut«, begann sie krächzend mit der Beantwortung ihrer eigenen Frage. »Wenn es aber hell ist, hat es doch einen Hauch von Reinheit, da es die Natur illustriert. Sieh dir deine Haare an! Das ist gutes Braun! Wie deine Augen. Die Farbe Braun auf die Hautfarbe bezogen. Nun, vielleicht weniger hier, wo die Blässe uns fest im Griff hat. Aber da wo es Wärme und Licht gibt, gibt es Bräune auf der Haut. Da wo diese Wärme und das Licht sind, ist die wahre Erde. Braun ist die Farbe der Erde, womit ich nicht unbedingt das Element und deren Einwohner meine. Doch Wärme und Licht können gefährlich sein, bereite dich darauf vor!«

»Vorbereiten? Auf was?«

Sie weiß es nicht! Sie weiß es wirklich nicht!

Warum hat sie nie gefragt, nie gefragt?

»Braun ist eine gebrochene Farbe! Eine nachdenkliche Farbe. Du bist nachdenklich geworden in den letzten Dekadenwochen, mein Kind … Mia.«

Nachdenklich, nachdenklich. Nach denken … was kommt nach dem Denken?

Denk drüber nach!

»Woher … wissen Sie …?«

»Entschuldige! Wir haben uns zwar schon drei Mal gesehen, aber ich habe mich nie vorgestellt. Ich werde die Drexxhexx genannt.«

Drexxhexx, Drexxhexx! Wie oft wurdest du durch den Dreck gezogen, bis du zu einer Hexe wurdest? Sag mir, wie oft?

Drei Mal? Nein, nein.

»Wie kam es zu dem … Namen?«

»Ich bin nicht stolz darauf. Es ist ein Schimpfwort, und wenn man es genau nimmt, sogar zwei. Ich wehre mich nicht dagegen, ich habe es wohl verdient. So nennen mich alle im Tal.« Sie lächelte leicht, was viele Falten in ihrem Gesicht in freundliche Grübchen umlegte. Mia fühlte sich plötzlich wohler. Und doch wusste sie, dass ihr Lächeln nur gespielt war.

»Im Tal?«

»Es ist in dem Sinne kein Tal und dennoch liegt meine bescheidene Hütte vergleichsweise auf einem Berg und die Stadt in einem Tal. Wie das Haus in dem du lebst oder der Gmeindestadl ja auch, die noch höher liegen. Noch einmal: Du bist nachdenklich geworden, mein Kind.«

Mia wich ihrem Blick aus. Sie besaß eine andere Aussprache. Klarer. Ausführlicher. Nicht so dahin gerotzt. Sie mochte es.

»Schließe erst einmal die Tür und setze dich zu mir!« Sie klopfte mit ihrer Hand kurz auf den Tisch. »Ich bin heute so unhöflich. Nimm dir zu trinken!«

Oh, wie gastfreundlich du heute bist.

Sie war noch nie gastunfreundlich. Noch nie!

Das stimmt! Das stimmt! Nun, es ist nun mal zudem ihr erster Gast! Abgesehen von diesem Oberstadtsack!

Frack! Frack! Nicht Sack! Frack! Frack!

Auf dem Tisch stand eine Karaffe voll mit Wasser und Zitronensaft sowie ein Becher. Sie schloss die Tür, in der Hoffnung, ihre Schreie beim Abmurksen würden trotzdem gehört werden.

»Haben Sie mich erwartet?«

»Nimm. Keine Angst, es ist nicht vergiftet. Wenn du willst, trinke ich einen Becher mit. Wenn du den von drüben holen würdest? Im oberen Schrank, linke Tür.«

Mia wandte sich zur Küchenzeile hin und griff nach einem Becher oben im Schrank, linke Tür.

Wie kam sie selbst dorthin?

Der Becher stand direkt neben einer flachen Schüssel auf der klein ein Wort eingeritzt war: »Schwanenweiß«.

»Was ist schwanenweiß?«

»Eine besondere Farbe. Die Reinheit, wie wir sie kaum mehr kennen. Ich liebe dieses Wort. Es ist weich, rein und unschuldig. Wenn du braune Dinge siehst, lass dich von ihnen nicht aufhalten oder einschüchtern.«

Weich, rein und unschuldig. Das warst du das letzte Mal vor hundert Jahren! Und deine Ohren auch.

Mia setzte sich zur Drexxhexx an den Tisch. Sie goss vorsichtig das Wasser mit dem Zitronensaft in die Becher ein. Die Drexxhexx zeigte auf den Schädel, der innen mit Ton verkleidet war. Mia schenkte nach kurzem Zögern ein. Sofort griff die Drexxhexx über den Tisch und Mia fielen die langen Finger und spitzen Fingernägel auf. Unwirklich lang. Knochig. Ausgezehrt. Und bunt. Sie waren angemalt, auf den Nägeln, vermengt, wie die Zutaten eines Kuchens, vermengt von drei Löffeln gleichzeitig und doch waren sie fasziniert anzusehen. Warum war sie nie auf die Idee gekommen, sich anzumalen? Die Nägel? Die Augenpartie? So abwegig, wie ihr Kleidung bereits war. Dazu trug die Drexxhexx Ringe an ihren Fingern. Sie mussten einst geglänzt haben. Nun waren sie zwar noch golden, aber matt. Und ihre Aussprache, ihr Reden, ihre Worte und Sätze hatten nicht diesen Einschlag, den jeder hier hatte. Doch Mia verstand all das, denn sie waren rein, ordentlich ausgesprochen und langsam vorgetragen. Vielleicht mit Bedacht, vielleicht mit Ruhe.

Und sie trank aus einem Schädel. Einem Schädel!

»Nachdenklichkeit ist der Beginn des Begreifens.«

»Bitte?«

»Du bist sehr abgelenkt, mein Kind!«

Wir waren es nicht! Wir waren es nicht!

Mia nahm einen Schluck, sie lugte am Becher vorbei. Erst jetzt betrachtete sie die Drexxhexx genau. Ihr Gesicht war übersät von Falten und Altersflecken, von Geschichten und Erfahrungen, in Mitleidenschaft gezogen von Verbitterung und Erlebtem.

»Alles scheint sich zu verändern.«

»Das ist die Zeit, mein Kind. Jede Miniminute. Jede Minute. Jeden Tag. Jeden Dekadentag. Jeden Monat. Jeden Dekadenmonat. Veränderung ist der Fortschritt des Lebens. Den Moment zu Genießen und Begreifen ist das kurze Innehalten der Vergangenheit und jede Sekunde der Gegenwart wert. Jede meiner Falten verändert sich in jedem Augenblick. Du veränderst dich. Du wirst vom Mädchen zur Frau. Haare sprießen an den unmöglichsten Stellen, Wölbungen entstehen und Pustel und Pickel verderben einem das Gesicht und dann gibt es Tage … Viele trockene Tage, aber auch einige feuchte. Der Alltag scheint schief zu sein und nichts und niemand kann ihn geraderücken. Was macht dich nachdenklich?«

Nachdenklich. Schon wieder! Fällt dir nichts Neues ein?

Oh, was Neues, Neues, Neues! Der Trinkschädel ist so groß wie ihr eigener! Wer war der ursprüngliche Eigentümer eigentlich?

Mia runzelte kurz die Stirn. Eine Augenblicksfalte. Die Lampe auf dem Tisch warf einen groben Umriss der Drexxhexx hinter ihr an die Wand. Der Schädel, den sie umgriff als wäre es der Becher eines Heißgetränks, beförderte die Szene zur nackten Angst. Mia fühlte sich wieder unwohl.

Feuchte Tage. Der schiefe Alltag.

»Was zeigt dir der Wasserspiegel in deinem Stüberl?«

»Woher wissen Sie …?«

»Oder der Silberspiegel in deiner Hand? Ist es nicht auch dein Theater, das dich frecher werden lässt? Der die Prinzessin mehr in den Mittelpunkt rückt, als es so mancher männliche Tropfen gerne hätte? Ein König, dessen Tochter die Nachfolgerin werden sollte? Ein Oberstadtfrack, der das für unmöglich hält?«

Frack, Frack, nie auf zack, zack!

»Der Oberstadtfrack … er war erbost und beleidigt. Und doch sagte er mir, dass es nicht so schlimm sei.«

»Er ist ein Politiker und muss mit Kritik leben!«

So wie du es nie konntest? Und tolldreist wurdest? Mit einer Zigarre gar in der Hand und in der anderen Hand die Leine mit dem Hund.

»Genau das dachte ich mir auch!«

»Aber er ist ein Politiker und wird sich Kritik merken!«

Du wohl nicht?

»Warum sieht man Sie so selten in der Stadt? Es ist Erntedank! Warum sind Sie nicht auf dem Markt oder im Gasthaus?«

»Weil ich eine arme alte Frau bin, die ihre Ruhe will. Und wie du sicherlich bemerkt hast, etwas ungelenk bin. Aber ich bin eine arme alte Frau, die dir einen Rat gibt: Besteige den Berg!«

»Was?«

»Besteige den Berg!«

Ja! Ja! Ja! Du Luder, du! Du elendiges Luder du!

Sei still auf der anderen Ohrwaschelseite! Ihr Kind! Ihr Kind! Drexxhexx-Kind!

»Den Berg darf niemand betreten! Eben hat es mir der …«

»Kennst du die Sage nicht?«

»Aber ja doch! Und dort heißt es, der Berg darf, sei es wegen der fallenden Felsen oder wegen des Gottes Empedokles nicht betreten werden.«

»Falsch!«

»Falsch?«

»Du musst lernen, genau zuzuhören, mein Kind!«

Mein Kind! Mein Kind!

»Ich … gehe nun wieder. Danke für das Wasser.«

Mia stand auf, blieb aber vor der Haustür stehen, als sie über der Tür ein Symbol entdeckte.

»Hat dieses Kreuz was zu bedeuten?«

Es war ein kleines Holzkreuz mit jeweils vier gleich langen Seiten.

»Ein Kreuz ist ein Symbol für viele Dinge.«

Mit dir ist es ein Kreuz, Drexxhexx.

Die Drexxhexx ballte ihre beiden Hände zu Fäusten. Sie hasste diese Stimmen in ihren Kopf. Mia bemerkte es nicht, sie sezierte das Kreuz:

»Es besitzt eine horizontale und eine vertikale Linie. Sie sind gleich, in ihrer Fläche, in ihrer Länge.«

»Du beobachtest scharf und doch kannst du mit der Erkenntnis nichts anfangen. Es gibt viele Mythen um das Kreuz. Viele sagen, die vier Säulen stützen den Himmel, damit er nicht einstürzt. Sie sagen, es ist die Grundlage für einen Würfel. Es ist die Basis einer Pyramide, nur, dass der obere, der Punkt, der sie dreidimensional formt, fehlt. Es sei die Erde und der Himmel.«

»Eines Würfels? Und eines Ikosaeders?«

»Der quadratische Grundriss wird durch ein diagonales Kreuz geviertelt. So gesehen wäre es die Grundlage eines Ikosaeders, der wiederum aus zwanzig gleichseitigen Dreiecken besteht.«

»Sie wissen, was ein Ikosaeder ist?«

»Kind, es ist das Symbol des Elements Wasser. Es ist in Vergessenheit geraten, es wird kaum mehr gewürdigt. Ein Symbol in der Art wie ... Wasser ist kalt und feucht oder phlegmatisch. Nimm es herunter, halte es in der Hand!«

Mia holte den Schemel, auf dem sie eben noch gesessen hatte, stieg auf ihn und holte das Kreuz herunter. Sie legte es zur Drexxhexx auf den Tisch.

»Bedeuten die vier Bereiche die vier Elemente?«

»Indirekt!«, antwortete die Drexxhexx. »Sie bedeuten … die vier Himmelsrichtungen. Oder auch die vier Farben. Du weißt, was Himmelsrichtungen sind?«

Für dich schwarz, schwarz, schwarz und schwarz. West, West, West!

Plötzlich stimmte die Gesprächsrichtung. Energie durchfuhr Mia. »Wasser ist der Westen!« Sie richtete es aus. Eine Länge zur glatten Felswand. Und damit die anderen zum Gmeindestadl, zur See und Wiesn. »Das Kreuz als Kompass!«

»Das ist richtig. Der Gmeindestadl ist das wichtigste Haus im Element Wasser, darum liegt es im Westen. Nun … im Nordwesten. Aber hier … hier und jetzt sind Himmelsrichtungen uninteressant, sinnlos, nutzlos! Alles ist erbaut, erforscht, bekannt! Und der Himmel ist immer oben, der Begriff ist falsch und unsinnig!«, keifte sie plötzlich. »Der Himmel ist oben! Die Richtung, mein Kind! Die Richtung! Finde sie! Finde sie!«

»Warum hängt das Kreuz über der Tür?«

»Bitte gehe jetzt.«

Ein Nicken. Sie trat zur Tür.

»Mia!«

Sie drehte sich um.

»Vermeide den Traum. Besteige den Berg! Schütze deine Augen!«, drohte sie fuchtelnd mit der Faust. Ihre Augen verfinsterten sich: »Und finde danach den König!«

Die Augen schützen? Den König finden? Wie in ihrem … Schauspiel?

Klatschertnass ist eine kleine Welt. Klatschertnass ist eine beengte Welt. Was ist hinter den Felswänden? Da muss doch mehr sein. Was ist hinter meinem Leben? Da muss doch mehr sein. Steine. Wasser. Hart. Weich. Klatschertnass. Ich. Rau. Roh. Allein. Allein! Die einzige ihrer Art. Ich. Meine Stimme leer. Das andere Geschlecht auch. Die Hoffnung. Über mir zieht das Wasser. Unter mir fesselt mich die Erde. Die Wiese verbrannt. Die Luft still. Luftgetrocknete Dürre. Trinkendes Feuer. Durstige Erde. Flammende Luft. Windige Erde. Bebende See. Wirbelnde Funken.

Tropfen vermehren sich. Es braucht Mann und Frau, so viel weiß ich. Mehr nicht. Ich vermehre mich nicht. Es geht nicht. Allein. Allein!

Ich kann nie weit weg von zu Hause sein. Vielleicht sollte ich mir meine Augen verbinden und im Kreis laufen.

Kann ich am Ende warten? Oder wartet das Ende auf mich? Ist das mein Schicksal?

Selten hatte Mia so tief und fest geschlafen, die Alpträume waren ausgeblieben. Die Arbeit auf dem Feld und die Feier danach hatten sie müde und traumlos geprügelt. Nicht einmal dem Giftmischer war sie mehr begegnet. So auch an diesem Morgen nicht, als sie in aller Frühe aus dem warmen Betterl gekrochen war. Sie hatte sich heißes Wasser geholt und die Pfefferminzblätter eingelassen. Es gab keine direkte Kuchel im Haus des Giftmischers, denn im Labor und Küche verschwammen die Giftkuchel mit Töpfen und Pfannen, mit Besteck und anderem Geschirr. Überall standen Kräuter in Töpfchen und weitere Pflanzen in Glasgefäßen, trocken oder eingelegt, oder sie lagen auf den Tischen herum. Sie musste aufpassen, was sie nahm um nicht als Experiment zu enden.

Das Gefäß mit der Sage stand noch immer auf dem Tisch. Es herrschte Stille im Haus, wo normalerweise die Stimme und Anwesenheit des Giftmischers brillierte.

Sie hatte ihre Tasse Tee in der Hand, um ihren aufgeblähten Bauch einzufangen. Sie näherte sich nun schleichend dem Tisch mit der Flasche fast in der Mitte des Raumes.

»Ist es ein Ritual?«

Die harte Stimme des Giftmischers durchfuhr ihren langen Leib wie ein Blitz, ein Dolchstoß mit einem Hauch Erleichterung. Sofort drehte sie sich zu ihm, ihre Finger gruben sich in den Tischrand.

»Ein Ritual?«

Der Giftmischer trat in das Licht des Raumes, direkt vor das riesige Fenster. Er war noch in seinem Schlafgwanderl, doch den Stahlhelm auf seinem Haupt trug er bereits. Mia hatte sich schon immer gefragt, ob er mit diesem Helm sogar schlief. Sie war in all den Dekadenmonaten nie in seiner Schlafkammer gewesen, hatte dort nie und kein einziges Mal putzen müssen und hat nicht mal eine Nacht als Kind bei ihm unter der Decke verbracht. Er hatte darum gebeten, es nicht zu betreten. Kein Verbot. Ein Wunsch!

»Für die Welt, in der du lebst! Für meine Weihen! Für die Geheimnisse des Unglaublichen!«

»Ich … weiß nicht.«

»Du weißt es nicht? Dann … mein Kind, bist du es auch nicht! Du bist nicht bereit.«

»Ich habe den Drang den Berg zu besteigen!«

»Den Berg? Du möchtest den Berg besteigen?« Er breitete fragend die Arme aus.

»Weil ich spüre, dass es dort oben ein Geheimnis gibt, was mir wichtig ist!«

»Er ist tabu! Es ist der Berg des Gottes Empedokles und selbst ich als sein Hauptkritiker bin da vorsichtig«, wurde er mit einem Mal barsch.

Sie ergriff zornig die Flasche. Könnte sie es doch ebenso trinken wie die Tropfen. Könnte sie es doch einfach runterschlucken und das Wissen in sich aufsagen und damit den anderen für immer vorenthalten.

Der Giftmischer trat einen Schritt nach vorne, er tat ihn grübelnd: »Nimm die Flasche, geh zu irgendeinem Tropfen. Es ist kein Geheimnis in Klatschertnass! Mach es. Es gibt noch mehr davon. Frag! Pack mas!«

Sie umgriff die Flasche, sie wanderte durch ihre Finger, die drehte sie, packte sie, drückte sie … es vergingen Minuten bis sie zum Murmeln anfing: »… der Berg ist für Tropfen verboten! Sei es bestimmt durch das Gesetz, sei es bestimmt durch den Gott Empedokles.«

»So … ist es!«, rief der Giftmischer schallend, er lachte laut auf, er schien sie auszulachen, rechthaberisch zu sein, er so schlau, sie so dumm! Sie verstand es nicht!

Doch Mia hielt inne. Dann holte sie aus. Und die Flasche flog gegen die Holzwand, sie zerbarst. Siegessicher kreischte sie: »Er ist für Tropfen verboten!«

Stille.

Der Giftmischer riss die Augen auf. Weitere Stille. Doch nach dem Zerstörungsmoment fand er sich wieder, unwirsche Worte folgten: »Du bist ein Tropfen, so wie ich einer bin! Du lebst seit sechsunddreißig Ernten hier!« Er lief hinüber zur Wand, an den Scherben vorbei, hin zu den Einkerbungen im Holz. Er tippte stumm seinen Zeigefinger auf die handlangen Striche.

Doch sie: »Netter Versuch. Ich bin kein Tropfen und das weißt du! So wie du weißt, wie ich hier gekommen bin! So wie du weißt, was meine Alpträume bedeuten, wer die Wesen sind, die so aussehen wie ich, was heller ist, als alles was wir kennen, du weißt es! Du! Du weißt, was meine erste Erinnerung ist. Du kennst meine Sehnsucht, meine Familie zu finden. Ich will wissen, wo ich hingehöre! Wo ich herkomme. Wer mich hat gehen lassen.«

»Du bist ein Tropfen!« Wutentbrannt stapft er zurück in sein Schlafzimmer. »Es war ein Fehler, dir die Freundschaft mit einem Kind aus einer intakten Familie zu erlauben!«

Der Berg ist für Tropfen verboten! Sei es bestimmt durch das Gesetz, sei es bestimmt durch den Gott Empedokles.

»Was ist mit meinem Rücken?«, schrie sie.

»Was soll mit deinem Rücken sein?«, fragte der Giftmischer ruhig, aber in sich unruhig.

»In der Gondel erzählte mir der Oberstadtfrack von einem Halbmond, was das auch immer sein mag, auf meinem Rücken.«

»Du … hattest als Kind einmal einen Ausschlag. Er sah aus wie eine Sichel, mit der ich immer die Kräuter schneide. Ich hatte es ihm gezeigt, ich brauchte eine Meinung. Ich weiß … nicht … was der Oberstadtdepp meint. Er hat das zu dir in der … Gondel gesagt?«

Ich sollte ihn endlich einfach umbringen. Einfach so umbringen … mit einer Sichel. Vielleicht mit einer Sichel.

»Es ist gleich. Ich will von hier verschwinden, nur damit du es weißt!«

»Passt! Dann hau doch ab!«

Laut schlug er die Tür zu seiner Schlafkammer zu. Innen aber lehnte sich der Giftmischer dagegen, dann ballte er beide Hände zu freudigen Fäusten, er lächelte tief in sich hinein. Er ging auf die Knie, die Arme Richtung Zimmerdecke gereckt. Er war glücklich!

Die Märchenkönigin

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