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Die neue Schule

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Mit dem Einbringen des Strohs waren dann auch die Ferien zu Ende, und nach den Sommerferien 1974 war auch das neue Schulgebäude fertig. Die Zeit in der alten Schule, einer größeren Holzbaracke direkt am Waldrand einer herrlichen Endmoränenlandschaft mit dem „Wallberg“ als Mittelpunkt, war vorbei.

Auch wenn die Lage idyllisch war, so waren die Platzverhältnisse und die ganze Ausstattung der Schule schlecht, wie schlecht, sollte uns erst bewusstwerden, als wir die neue Schule in Besitz nahmen.

Aber hier war der Schulhof der Wald, und wir konnten uns nach dem endlosen Sitzen im Sinne des Wortes die Beine vertreten.

Hier überreichten uns Thälmann-Pioniere aus der vierten Klasse ganz feierlich unser blaues Halstuch, und wir kamen uns wirklich zu etwas zugehörig vor. Dass es, wie im Pionierausweis zu lesen war, die „große Familie der Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik, die in der nationalen Front des demokratischen Deutschlands für das Glück des ganzen Volkes zusammenwirken“ sein sollte, war uns weder bewusst, noch konnten wir das in der ersten Klasse begreifen.

Aber das Symbol Halstuch und der Pionierausweis mit seinen Geboten, die wir auch noch nicht selbst lesen konnten, aber die uns vorgelesen wurden, waren ein Vermächtnis.

Als wir in die vierte Klasse kamen, wurden wir Thälmannpioniere und bekamen erstmalig als Zeichen das rote Halstuch verliehen und überreichten den Jungpionieren wiederum das blaue. Am Unterrichtsbeginn wurde „Meldung gemacht“, ein Schüler durfte zum „Stillgestanden“ auffordern und die Grußformel sprechen „Für Frieden und Sozialismus seid bereit!“. Und wir antworteten: „Immer bereit!“.

Alle waren eingebunden in das Bestreben nach Solidarität mit den Opfern der Diktaturen, gingen regelmäßig zu Pioniernachmittagen, sammelten Altpapier und Flaschen, kurz, wir sollten so sein wie der vierzehnjährige Timur aus der Sowjetunion: ein Vorbild aus dem Roman „Timur und sein Trupp“, der zwar zu Kriegszeiten spielte, aber all das hatte, was eine sozialistische Persönlichkeit auszeichnete.

Die „Großen“ an der Schule machten uns das leider nicht immer vor, hatten es vielleicht auch nur nicht begriffen. Sie schlugen sich, bis es blutete, schubsten mit Vorliebe die Kleineren und hatten allerlei Vokabular an sich, das so gar nicht zu den Geboten der Jungpioniere passte. Wir würden es bestimmt besser machen.

Abschied ist manchmal auch der Aufbruch in bessere Zeiten, und so sah zumindest ich das. Die neue Schule hatte helle große Räume, neue Lehrmittel, wie aufklappbare Tafeln, vernünftige Stühle und Tische, die nicht den Lebenslauf ganzer Schulgenerationen mit Vorlieben für einige Lehrer erzählten oder Zeichen und Symbole, die uns erst in ein paar Jahren gegenwärtig sein sollten, sowie einen bis dahin unbekannten Tageslichtprojektor namens Polilux.

Das Größte war jedoch die Sporthalle, so etwas hatten wir noch nicht gesehen, und nun gehörte sie uns.

Neue Lehrer wurden eingestellt, und neue Schüler kamen aus anderen Gemeinden dazu. Es war eine wirkliche Aufbruchsstimmung, die durch andere Ereignisse noch befördert wurde.

Wir waren im Fußballfieber, und unsere Nationalmannschaft hatte den „Klassenfeind“ die BRD besiegt. Da war es schon nicht mehr so wichtig, wer Weltmeister wurde, obwohl, als es dann die BRD wurde, haben wir uns schon gefreut, dass wir die Einzigen waren, die den Weltmeister besiegt hatten.

Aber auch das Leben schien leichter zu werden. Mutter hatte nicht mehr diese großen Probleme, an vernünftige Lebensmittel wie Fleisch und auch die eine oder andere Südfrucht heranzukommen, und so konnte ich lernen, dass das materielle Niveau als Ausgangspunkt nur niedrig genug sein muss, um eine marginale Verbesserung als Aufschwung zu empfinden und damit dann sofort das Glück und die Hoffnung zu steigern.

Die Fähigkeit, Situationen und Lebensumstände zu relativieren, sollte mir viel später entscheidend helfen, und hier war meine Kindheit ein guter Lehrmeister, mein inneres Glück und damit mein Gleichgewicht zu wahren.

Zufall oder auch nicht, diese Gefühle passten zu der erhofften internationalen Anerkennung der DDR, die nach 25 Jahren endlich erreicht worden war.

In diesem Umfeld begann mein fünftes Schuljahr, und es machte Spaß, zumal die ewig langen Sommerferien endlich vorbei waren. Durch die Tatsache, dass meine Eltern kein Auto hatten und auch ansonsten nicht wirklich reiselustig waren, blieb mir nichts weiter übrig, als die Zeit mit Kumpels oder allein totzuschlagen.

Da irgendwann alle Spiele gespielt sind, alles gesagt ist und auch ansonsten sich alles zum x-ten Male wiederholt, bekam die Zeit ab Mitte der zwei Monate dauernden Ferien eine andere Dimension.

Die Erlösung von der endlosen Langeweile musste aber noch zwei Jahre warten, dann konnte ich meinen Moped-Führerschein machen und hoffentlich, ganz gleich wie, ein Moped bekommen.

Es schien so, dass Umzüge von Familien recht selten vorkamen. Der Lebensweg war von magischer Hand so geplant, dass nach dem Kindergarten die Schule kam, nach der Schule die Lehre und nach der Lehre im besten Fall ein Studium. Ansonsten ging es ohne irgendeine Unterbrechung, Ausnahmen bestätigen die Regel, in einen Betrieb mit oftmals lebenslanger Zugehörigkeit. Parallel dazu lernten alle den zukünftigen Partner kennen und heirateten halbautomatisch, gewisse Notwendigkeiten wie die Wohnungssuche beförderten diesen Wunsch, und darauffolgend kamen dann automatisch die Kinder.

Da der Regelfall nahe an einer Gesetzmäßigkeit war, hatten fast alle Erwachsene auch Kinder, und diese Kinder kamen und blieben alle auf der gleichen Schule und kannten sich somit auch schon immer. Und so, wie wir uns gegenseitig kannten, so kannten sich auch die Eltern, die dann oftmals noch im gleichen Betrieb arbeiteten und nicht selten im gleichen Haus wohnten. Es war keine offene, aber sicher eine zu allen Seiten geöffnete Gesellschaft.

Unter diesen Umständen kamen und gingen die Tage, und es fehlte auch irgendwie an nichts. Wir gewöhnten uns schnell an das neue Schulgebäude und alle damit verbundenen Vorteile, sodass die Schule bis auf wenige Ausnahmen wirklich Spaß machte, auch wenn nur der Sonntag schulfrei war und die „nullte Stunde“ uns ein- bis zweimal pro Woche ereilte und wir um 7 Uhr leicht übermüdet dem Lehrer folgen mussten. Die Pausen, der Fußball nach der Schule und die damit verbundenen Stunden mit den Kumpels ließen die Tage kurzweilig erscheinen.

Aber nicht nur die Woche war interessant, sondern auch immer mehr das Wochenende, und ganz speziell der Sonnabendabend bekam einen unwiderstehlichen Reiz.

Die ganzen Jahre zuvor waren wir uns irgendwie selbst genug, aber nun passierte wie ferngesteuert etwas mit dem Kopf und zum eigenen Erschrecken auch mit dem Körper.

Die Mädchen sahen uns auch mit einem Mal nicht nur mehr als Kumpels, die nur anatomisch anders waren, sondern es baute sich erst langsam und nahezu unauffällig und dann immer mehr und eindeutiger ein Spannungsfeld auf, dass so aufregend wie belastend im gleichen Maße war. Die Mädchen fingen an, komisch zu kichern und scheinbar immer über irgendwas zu tuscheln. Wir Jungs fingen an, die neuen Rundungen der Mädchen zu bemerken und tuschelten ähnlich über das, was da passierte.

Die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden waren nicht nur gut, weil kein Unterricht war, sondern weil wir uns gegenseitig ins Visier nehmen konnten.

Wir waren auf der Jagd und fingen an, die Richtige zu suchen, um mal ein bisschen zu probieren und einfach mal den ersten, unbeholfenen Körperkontakt herzustellen.

Aber nicht nur wir sahen, was mit uns und mit unseren Mädchen passierte, sondern die Älteren sahen das auch und hatten einfach die besseren Karten. Das hieß aber nicht, dass wir aufgaben, sondern es war mehr ein erzwungener strategischer Rückzug auf Zeit, der für Beobachtungen genutzt wurde, und es sollte sich herausstellen, dass man sehr gut beobachten konnte.

Im Kulturhaus, wo ich Vater bei der Kampfgruppe so gerne besucht hatte, gab es neben der Gaststätte auch einen Tanzsaal. Dieser erstreckte sich über die gesamte Rückseite des Kulturhauses und hatte zusätzlich auf halber Länge einen weiteren Eingang, der auf eine Terrasse führte und zusätzlich über eine Freitreppe zu erreichen war und neben dem Eingang auch eine gute Sicht durch die weiteren Fenster auf beide Seiten des Eingangs ermöglichte.

Irgendwann wurden wir darauf aufmerksam, dass jeden Samstag eine Band aus dem Dorf zum Tanz aufspielte, und so dauerte es auch nicht lange, bis wir uns regelmäßig die Nasen an den Fensterscheiben plattdrückten, um zu sehen, wie die jungen und älteren Erwachsenen sich amüsierten.

Im Saal war nicht nur während der Musik ein Höllenlärm, sondern vor allem, wenn die Musiker Pause machten. Dann liefen die Leute kreuz und quer durcheinander, ob zu dem Tresen, zur Toilette oder zum Reden mit dem Nachbarn. Es wurde immer lauter, bis die Band die Aufmerksamkeit wieder auf die Tanzfläche lenkte und die Herren sich aufmachten, die Damen zum Tanz zu bewegen. Dies wiederholte sich so oft, wie die Band Pause machte und nahm an Intensität ständig zu.

Das Tanzen schien gar nicht immer so einfach zu sein, denn anscheinend wollte nicht jede Frau mit jedem Mann tanzen. Die Frau war hier eindeutig die, die das Sagen hatte.

Die Männer bauten sich vor der Auserwählten auf und schienen bittend zu fragen, ob sie tanzen möchte. Eine Einwilligung führte dann sofort zum Gang auf die Tanzfläche, spannend wurde es, wenn die Frau nicht wollte.

Ganz so schnell aufgeben wollten die Wenigsten, zumal der ganze Saal die Situation beobachten konnte. So wurde einmal und noch einmal gefragt oder manchmal auch versucht, körperlich etwas nachzuhelfen. Im schlimmsten Fall zogen die Herren beleidigt und peinlich berührt von dannen.

Saß der Mann oder Freund mit am Tisch, musste der auch noch vorher gefragt werden. Das war auch manchmal spannend.

Hier war schon klar, dass das in Zukunft nicht so einfach werden würde, denn diese Rituale würden sicher immer die gleichen bleiben, da war ich mir sicher.

Im Laufe des Abends wurde es wilder, denn viele waren betrunken und verstanden dann nicht mehr, wenn jemand nicht tanzen wollte, oder fühlten sich von anderen provoziert oder wollten einfach ihren Frust ablassen oder kamen einfach nicht aus unserem Dorf, sondern aus einem anderen.

Das war dann die Zeit der Faustkämpfer, und da hatten wir einige.

Ich erzählte meiner Mutter von meinen Beobachtungen über die Versuche und das Misslingen einiger tanzwilliger Männer, eine Frau zum Tanzen zu bewegen. Diese Szenen waren ihr nicht neu.

Es gab aber anscheinend einen deutlichen Unterschied zu der Zeit meiner Eltern. Gab seinerzeit eine Frau einem Mann einen Korb, dann musste diese den Saal verlassen.

Das ist gut, dachte ich mir, denn meine Fantasie reichte aus, mir die Peinlichkeit vorzustellen, einen Korb zu bekommen und anschließend wie ein Idiot auf den Platz zurückzugehen. Ich nahm mir vor, das nicht zu erleben, aber die Rechnung hatte ich ohne die Mädchen gemacht.

Es vergingen noch ein paar Jahre, aber dann war es so weit, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Unsere ersten Aktivitäten fielen Mitte der siebziger Jahre in die Übergangsphase zwischen Tanzkapelle und Disco.

Irgendwann während der sechsten Klasse begann die Sturm- und Drangphase. Wir suchten nach Möglichkeiten, uns in einem Rahmen zu treffen, der genau zur Befriedigung unserer Bedürfnisse in dieser Phase passte, und da kam die Diskowelle gerade recht.

Michael war nicht nur der Sohn vom Direktor, sondern hatte genau zur richtigen Zeit den Drang, Diskjockey zu sein. Dieser Drang konnte jedoch nur mit der entsprechenden Technik befriedigt werden, die er natürlich nicht hatte. Mein alter Spielkamerad aus Cowboy- und Indianerzeiten in Steinhausen hatte den gleichen Drang und dazu auch die selbstgebaute Technik für Ton und Licht.

Unser Duo war gefunden.

Der Raum war nur noch Formsache, und so trafen wir uns regelmäßig zur Disco. Es war wie auf einem anderen Stern, das bunte Licht tauchte alles in eine Zauberwelt und die Musik von Karat, City und Lift aber auch aus den Charts aus dem Westen, wie den Village People, Santa Esmiralda, den Bee Gees, Gerry Rafferty und unendlich vielen mehr ließen uns alles vergessen.

Wir lernten von den Mädchen die ersten Tanzschritte und warteten auf die langsamen Titel, bei denen wie selbstverständlich ganz eng getanzt wurde. Wir spürten die Brüste der Mädchen und die Mädchen spürten uns, und so folgten erste Berührungen, erste Küsse und erste Auseinandersetzungen um die Richtige.

Das ging eine ganze Zeit so herrlich entspannt weiter, bis sich unsere Veranstaltung herumgesprochen hatte. Dann kamen vollkommen uneingeladen auch die Jungs aus den oberen Klassen, und da war die Freude dann nur noch halb so groß und ging irgendwann vorbei.

Wir waren als Jungs einfach nicht mehr so interessant und verstanden das nicht. Die Mädchen schienen uns in ihrer Entwicklung davonzulaufen. Das war für den Moment betrüblich, aber im Laufe der Zeit würden wir die älteren Jungs sein und dann von dieser Laune der Evolution genauso profitieren. Da waren wir zwangsweise ganz pragmatisch.

Die kleine Klassendisco mutierte zur Schuldisco und wurde in die Turnhalle verlegt. Dort war zwar deutlich mehr Platz, aber es blieb eben eine Turnhalle mit ihrer eigenen „Gemütlichkeit“. Was soll‘s, das eingespielte Duo übernahm die Musik, und es ging nahtlos weiter.

Mir fiel seit einiger Zeit ein Mädchen auf, das mit ihrer Freundin in jeder Pause ihre Runden auf dem Schulhof drehte. Dünn wie eine Bohnenstange und eigentlich zu jung, aber ich hatte mich in dieses Mädchen verguckt. Irgendwann erschien sie dann mit ihrer Freundin auf der Schuldisco, und meine Chance war da.

Ich hatte seit den ersten Tanzversuchen eine Art Tanzvirus. Zuerst dachte ich bei meinen Beobachtungen einige Jahre zuvor mit platt gedrückter Nase an den Fensterscheiben am Kulturhaus in Steinhausen, dass Tanzen einfach zu den Fähigkeiten, die man so hat, dazugehören sollte und nutzte meine Schwester und Marion, meine gleichaltrige Untermieterin, als Tanzlehrerin.

Es war aber viel mehr und machte einfach Spaß. Die Möglichkeiten, die sich boten, um mit den Mädchen in Kontakt zu kommen, erkannte ich erst später. Wir konnten riechen und fühlen und reden und auch gleichzeitig eine Art inneren Rhythmus erleben, der in kürzester Zeit einen entscheidenden Eindruck brachte, ob überhaupt ein nächster Schritt Sinn machte.

Ein Mädchen namens Kerstin hatte meinen inneren Rhythmus.

Manch andere Mädchen versuchten durch kleine Manipulationen, wie Brustvergrößerungen durch den Einsatz von Watte oder Stöckelschuhe oder etwas zu reichlich aufgetragene Gesichtsbemalung, die Außenwirkung deutlich zu verbessern. Kerstin hatte diesen Drang nicht, ein einfacher grüner Parka und Röhrenjeans für ihre Storchenbeine waren ihr genug.

Das war die Selbstverständlichkeit, die mich anzog, und so wollte ich unbedingt den nächsten Schritt machen und hatte Erfolg. Es war das gleiche Spiel wie zwei Jahre zuvor, nur, dass wir jetzt zu den älteren Jungs gehörten und die frühreifen Mädchen sich eher zu uns hingezogen fühlten.

Diese Laune der Natur nutze ich nun. Kerstin kam nicht aus unserem Dorf und musste jeden Tag mit dem Zug fahren. Ich konnte die Pausen nach den Schulstunden kaum erwarten, denn es blieb zunächst nur diese Zeit, um überhaupt Kontakt zu haben.

Es war von Anfang an klar: Wenn du jemanden willst, musst du dich richtig anstrengen, Rückschläge wegstecken und Geduld haben, die manchmal schwer zu zügeln ist und dich von allen anderen Dingen ablenkt. Gegen Anstrengung hatte ich ja nichts, und beim Fußball brauchten wir auch Geduld, bis der Gegner uns die Chance auf ein Tor bot, aber das hier war anders und lag nicht mal zur Hälfte in meinem Ermessen. Es gab aber keinen anderen Weg, und der Wille versetzt bekanntlich Berge.

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