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Die Flucht

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Im Juli 1973 kam meine Tante Ingrid sehr aufgeregt zu meiner Mutter. Tante Ingrid war eine der beiden Schwestern meines Vaters. Sie wohnte mit ihrer Familie ebenfalls in Steinhausen und arbeitete im Kuhstall als Melkerin. Es war eine harte Arbeit, wie Mutter in anerkennender Weise bemerkte, und für unsere Dorfverhältnisse war sie auch gut bezahlt.

Ihr Mann, Onkel Günter, ein oftmals mürrisch und für mich als Kind beängstigend ernst blickender Mann, arbeitete seit einigen Jahren auch in der LPG. Sie hatten vier Kinder, und auch wenn die Lebensumstände der Familie für mich immer den Anschein von Anderssein hatten, so fühlte ich mich bei den zahlreichen Begegnungen doch wohl.

Tante Ingrid war die ältere der beiden Schwestern von Vater und hatte ein gutes Verhältnis zu ihrem Bruder.

Durch das etwas holprige und in der Betonung anders gesprochene Deutsch im Vergleich zu den anderen Leuten, die ich kannte, war schnell klar, dass die Familie meines Vaters nicht aus der Gegend stammte. Mutter erzählte mir viele Jahre später, wie sie meinen Vater kennengelernt hat und wie seine Familie überhaupt in das verschlafene Mecklenburg gekommen ist.

Es war eine Geschichte, die wohl in dieser Art nur in widrigen Zeiten, wie einem Krieg, entstehen konnte.

Als Deutschstämmige verschlug es die Familie irgendwann in grauer Vorzeit nach Litauen. Der Arbeit wegen ging Tante Ingrid 1942 in eine Anstellung als Kindergärtnerin auf ein Gut namens „Stolpe“ nach Ostpreußen und lernte dort den zu dieser Zeit verheirateten Günter Wagner kennen, der als Verwalter auf diesem Gut arbeitete.

Im Laufe der Zeit, als sich beide näherkamen und die Ehe von Onkel Günter aufgelöst wurde, holte Tante Ingrid die Eltern und die Schwester nach Ostpreußen nach.

Mein Vater war zu dieser als Soldat im Krieg. Die Ostfront schob sich 1943/44 schnell Richtung Deutschland, und somit mussten alle in Richtung Westen fliehen.

Onkel Günter als Verwalter hatte den Zugriff auf Pferde und Pferdewagen und begann, die Flucht in Richtung Westen vorzubereiten. Im Laufe des Jahres 1944 kamen alle in Mecklenburg an und machten in Benz, nahe Wismar, Halt und blieben dort auch bis zum Kriegsende. 1945 zog die Familie meines Vaters nach Neuendorf um und fand beim Schmiedemeister Klein eine Unterkunft.

Familie Maier wohnte zu dieser Zeit auch in Neuendorf.

Opa Maier kam in den dreißiger Jahren aus der Schweiz nach Mecklenburg und kam irgendwie zufällig in dieses verschlafene Dorf, wo die Familie meiner Mutter seit Generationen lebte.

Auch Jahre später, in wiederkehrenden Gesprächen, in denen ich meine Mutter über die Gründe des Umzugs ihres Vaters von der Schweiz nach Mecklenburg befragte, blieb für mich unklar, wo seine Motivationen für diesen drastischen Ortswechsel lagen, zumal er aus einer intellektuellen Familie stammte, die Ärzte und Dozenten hervorbrachte. Der Wechsel hinein in eine ländliche und zu dieser Zeit deutlich einfacher strukturierte Lebensweise blieb mir unerklärbar.

Im Sommer 1947 kam mein Vater aus einem Lazarett in Königs Wusterhausen und somit letztendlich aus dem Krieg zurück und fand seine Familie schließlich in Neuendorf wieder.

In meiner Fantasie musste die Verbindung meiner Eltern zwangsläufig gewesen sein. Mutter war 16 und Vater 23, es war wohl Liebe auf den ersten Blick, denn wir, meine Schwester und ich, konnten viele Jahre das blinde Vertrauen und den Willen, nur zusammen etwas aufzubauen und zu leben, spüren.

Die Dinge nahmen dann sehr schnell ihren Lauf. 1951 gab es den ersten Umzug als unverheiratetes Paar in das gemeinsame Zuhause beider in Neuendorf-Ausbau, einer kleinen Siedlung am Rande des Dorfes. Schon im darauffolgenden Jahr wurde geheiratet und ein weiteres Jahr später erfolgte der Umzug nach Steinhausen, meinem Heimatdorf.

Mutter fragte sofort, was den los sei. Tante Ingrid verkündete, dass ihre Tochter Petra in den Westen geflohen sei.

Die Fluchthilfe war in den siebziger Jahren ein sehr aktuelles Thema, das auch uns Kindern durch die negative und anklagende Berichterstattung im DDR-Fernsehen und auch durch Gespräche im Umfeld bekannt war.

Diese Nachricht verschlug Mutter die Sprache, und ihr war anzusehen, dass sie viele Fragen angesichts dieses unglaublichen Risikos für Leib und Leben hatte. Fragen, wie:

„Wann und auf welche Art und Weise?“, „Wo sind sie jetzt, geht es ihnen gut?“ und natürlich, „Was wird Onkel Horst dazu sagen, und welche Auswirkungen hat das für ihn und Margot, und was wird aus Hans?“

Petra war anders als die Mädchen im Dorf. Sie sah nicht nur gut aus, sondern sie wusste auch um die Wirkung ihres Aussehens.

Es war klar, dass Petra nicht den beruflichen Weg ihrer Mutter als Melkerin gehen würde. Sie arbeitete zielsicher auf eine andere Zukunft hin, und es sollte ihr mit der Hilfe von Onkel Horst, dem Mann von Tante Margot, auch gelingen.

Onkel Horst, gelernter Tischler, führte es frühzeitig in die Politik, und so arbeitete er als Arbeitervertreter in der Kreisleitung der SED in Wismar, später dann als hoher Funktionär in der Einheitsgewerkschaft, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, kurz FDGB genannt.

Tante Margot arbeitete zu dieser Zeit auch in Wismar, als Kindergärtnerin, und so liefen sie sich irgendwann über den Weg und blieben zusammen. Später zogen sie nach Rostock, wo Onkel Horst dann schnell zum zunächst stellvertretenden Vorsitzenden des FDGB aufstieg.

Meine Cousine Petra bekam mit Hilfe von Onkel Horst eine Stelle als Sekretärin beim FDGB und wohnte auch im mittlerweile neu erbauten Eigenheim von Onkel Horst im Südwesten von Rostock.

Viel mehr war über das Leben von Petra bei uns nicht bekannt. Eines Tages lernte sie einen Zahnarzt kennen und heiratete ihn.

Es passte für uns in das Bild einer Frau, die es geschafft hatte, dem Dorfleben zu entfliehen und zumindest in eine andere Gesellschaftsschicht aufzusteigen, die es nach offizieller Lesart eigentlich ja gar nicht gab, die aber real existierte, wie der real existierende Sozialismus selbst.

Meine Eltern bemerkten nur manchmal etwas enttäuscht, dass manche auch im Arbeiter- und Bauernstaat gleicher sind als andere. Dies insbesondere, wenn Onkel Horst mal wieder auf einer seiner Gewerkschaftsreisen ins kapitalistische Ausland war und Tante Margot bei irgendeinem Besuch so tat, als wenn das alles nur unangenehme Pflichtaufgaben wären.

In diesen Momenten spürte ich, dass es mehr gab, als der im Wesentlichen unmaterialistische Alltag in meiner Familie offenbarte. Meine Eltern waren bereit, hart für unseren kleinen Wohlstand zu arbeiten, aber die unmittelbare Konfrontation, mit der zwar nicht zugegebenen, aber doch erkennbaren primär materialistischen Welt meines Onkels führte für mich spürbar zu Verstimmungen.

Auf der anderen Seite war durch die gleiche politische Grundüberzeugung auch ein gewisser Stolz zu erkennen, dass es jemand aus der unmittelbaren Verwandtschaft so weit gebracht hat. Onkel Horst vermied es nach meinem Gefühl bewusst, diesen vorhandenen und theoretisch nichtexistierenden Klassenunterschied erkennbar zu machen, gelingen konnte es ihm nicht. Schwager hin oder her, seine politische Stellung reichte aus, dass alle heuchlerisch so taten, als wenn kein Westfernsehen geguckt wurde, obwohl alle Westfernsehen guckten, er eingeschlossen.

Diese Unehrlichkeit im Umgang miteinander war nicht gut, und diese Heuchelei sollte Jahre später auch ein Grund sein, die zu den großen Veränderungen in unserer kleinen DDR führte.

Der Sympathie, die er ausstrahlte, tat das alles aber keinen Abbruch. Es brachte diesen Widerspruch auf eine persönliche Ebene, die das Grundsätzliche dieser Klassenteilung bedeutungsloser machte. Die Besuche bei seiner Familie in Rostock waren in meiner kleinen Welt immer eine Abenteuerreise, und das war in diesem Moment für mich genug.

Die Flucht von Petra und ihrem Mann und mögliche Konsequenzen für das Umfeld beherrschten die nächsten Tage und Wochen die Gespräche. Neben gar nicht abzusehenden Folgen für Onkel Horst, der Petra immerhin die Stelle im linientreuen Umfeld der Gewerkschaft besorgt hatte, kam natürlich die Frage auf:

‚Hat sich Petra ihren Mann vielleicht nur deshalb geangelt, weil er als Arzt andere finanzielle Möglichkeiten hatte?‘

Es war bei näherem Hinsehen für nunmehr interessierte Personen möglich herauszubekommen, was so eine Fluchthilfe in etwa kostete. Hier waren etliche 10.000 DM im Spiel.

Das schien dann nach Einschätzung meiner Eltern aber eher unwahrscheinlich, da zumindest von außen ein sehr harmonischer Eindruck der Beziehung bestand.

Gegen diese These schien zu sprechen, dass es von Petras Seite schon einer gehörigen Portion Egoismus bedurfte, um bewusst zumindest billigend die Existenz einer ganzen Familie aufs Spiel zu setzen. Zumal neben der reinen Hilfe bei der Stellensuche auch noch die sehr persönliche Einbeziehung in die Familie von ihrem Onkel dazukam. Hinzu kamen die Schwierigkeiten, die ihr Bruder bekommen würde.

Hans war Offizier bei der Nationalen Volksarmee und auch im Begriff, Karriere zu machen. Keiner konnte sich wirklich politische Hintergründe vorstellen, denn Petra schien hier eher uninteressiert.

Es blieb also eine umfangreiche Spekulationsmasse im Raum, von der im Grunde alle wussten, dass, wenn überhaupt, die wahren Beweggründe erst in ferner Zukunft ans Licht kommen würden. Es wurde nach einigen Wochen über dieses Thema immer weniger gesprochen. Natürlich gab es Befragungen durch die Staatssicherheit, aber es schien so, dass die ganze Sache von den beiden so konsequent konspirativ geplant und realisiert worden war, dass keiner etwas wusste und am Ende auch niemand belangt wurde.

Onkel Horst blieb in seiner Position, wurde wenige Jahre später sogar zum Vorsitzenden der Gewerkschaft im Bezirk Rostock, und Hans blieb Offizier.

Die Beziehungen zwischen den Familien waren gestört, und dies sollte sich auch nie wieder richtig erholen. Für mich, der vollkommen unbeeinflusst und unvoreingenommen die Gespräche und Diskussionen wahrnahm und auch so mit meinen kindlichen Möglichkeiten bewertete, schien die ganze Flucht doch sehr verwegen. Ich begann unweigerlich, regelmäßig und intensiver über dieses Thema nachzudenken und empfand einen unerklärlichen Stolz, dass wieder jemand aus der Familie zumindest etwas Ungewöhnliches getan hat. Eine Wertung solcher Ereignisse spielte für mich keine Rolle, das sollte sich ändern, und daran hatte diese Begebenheit ihren Anteil.

Im Weiteren stellte sich heraus, dass diese Flucht auch negative Auswirkungen auf das Verhältnis meiner Familie zur Familie von Tante Ingrid hatte und darüber hinaus ganz neue Aspekte in mein Bewusstsein bringen sollte, mit denen ich letztendlich meine materielle Unschuld verlor.

Es setzte relativ kurz nach der Flucht eine wahre Schwemme von Paketen und Geldüberweisungen in DM ein, die das Verhalten dieser Familie veränderte.

Ich war zwölf Jahre alt, konnte dies aber aus den Gesprächen meiner Eltern und später bei Besuchen deutlich wahrnehmen.

Da im Grunde alle Familien aus der Verwandtschaft den gleichen materiellen Standard hatten, kürzte sich der materielle Bereich rein mathematisch aus der Beziehungsgleichung heraus. Das änderte sich nun, und es setzte, ohne dass es gewollt war und ohne, dass es wirklich beeinflussbar war, ein Neidgefühl ein.

Hier ging es nicht um eine Tafel Schokolade, die ich einmal im Jahr zu Weihnachten aus einem Westpaket meiner Oma geschenkt bekam, oder um Backzutaten, die meine Mutter dankend annahm, sondern hier ging es um in vollen Reisekoffern aufbewahrte Kosmetik, Süßigkeiten, Kleidung, Spielzeug und um Geld, das es mit einem Mal möglich machte, Autos zu kaufen, auf die der Normalbürger zehn und mehr Jahre warten musste.

Vielleicht wären die Erkenntnisse über die Dominanz des Materiellen gegenüber dem Ideellen nicht so stark ausgefallen, wenn wir von diesen Mengen an „Westwaren“, die im Vergleich zu vielen DDR-Waren so viel wohlschmeckender, schöner aussehend, besser riechend und schlicht nicht zu bekommen waren, etwas abbekommen hätten. Aber das war uns nicht vergönnt, und so habe ich ganz unbewusst die erste praktische Lektion des Kapitalismus kennengelernt:

Hast du was, dann bist du was.

Von diesem Moment an geriet der materielle Teil des Seins deutlich mehr in das Fadenkreuz meiner Aufmerksamkeit, und so beschloss ich, Eigentum der unterschiedlichsten Art anzuhäufen, damit pfleglich umzugehen, auf dass es mich lange erfreue und ich dann auch irgendwie mehr war als ohne.

Das Dorfleben war eintönig, für die Erwachsenen aus meiner Sicht deutlich eintöniger als für uns Kinder und Jugendliche.

Bis Mitte der siebziger Jahre teilten viele Erwachsene und Kinder das Los der Sonnabend-Arbeit bzw. –Schule. Irgendwann konnten die Erwachsenen am Sonnabend zu Hause bleiben, wir Kinder mussten weiterhin jeden Sonnabend die Schule besuchen. Bis auf wenige kulturelle Ausnahmen bestimmte die Arbeit schon aus Gründen der proletarischen Pflicht zur Stärkung der DDR den wesentlichen Teil des Lebens, der verbleibende Rest war nicht nur für meine Eltern mit der Absicherung des persönlichen Lebens verplant. Hier spielte die Ernährung, die Suche nach ständig ausverkauften Artikeln jeglicher Art eine besondere Rolle.

Durch die Eigenversorgung in unserer Familie waren einige grundlegende Lebensmittel des täglichen Lebens wie Gemüse, Obst sowie Fleisch und Wurstwaren unkritisch, die Beschaffung anderer dagegen mit einem lästigen Aufwand verbunden.

Durch Mutters Arbeit in der Kartoffelhalle hatten wir aus nicht nachzuvollziehenden Gründen einen Zugang zu der einen oder anderen „Bückware“, die von der Kartoffel so weit weg war wie der Mond. Vielleicht war es der Lohn für die Versorgung mit unendlichen Mengen an Kartoffeln für unseren Klassenbruder, die Sowjetunion, oder auch einfach nur wahllos zugeteilte Kontingente durch eine zentrale Stelle aus irgendeiner Behörde oder die über Jahre aufgebauten Beziehungen zu Herstellern aller möglicher Konsumgüter, die über den oftmals bargeldlosen Handel eben dieser Konsumgüter aufgebaut wurde. Hast du das für unsere …, so gebe ich dir das für deine … Und das war so über die gesamte Republik verteilt.

Wenn man mit dem seit Jahrhunderten gängigen Äquivalent „Geld“ als Zahlungsmittel für alles im vergegenständlichten Leben aufwächst, dann merkt man schon als Jugendlicher oder gar als Kind, dass hier etwas auf unnatürlichem Weg passiert.

Eine wirkliche Bedeutung hatte diese Erkenntnis damals nicht, aber ganz tief unten sitzt diese Erfahrung und schärft das Bewusstsein.

Aus solchen Beobachtungen entwickelte ich eine Sensibilität für Vorgänge und Situationen, denen etwas Unnatürliches und Unpassendes anhaftete und so konnte ich sie wissentlich nicht mehr übersehen. Leider bestimmten meine Reflexionen aus solchen Beobachtungen immer wieder mein Verhalten und schafften mir auch immer wieder Probleme.

Meine Gedanken standen mir ins Gesicht geschrieben, ich musste daran arbeiten.

Die Zerstreuungen vom täglichen Einerlei kamen für meine Eltern und den meisten Erwachsenen, die meine Wege in der Jugendzeit kreuzten, deutlich zu kurz und spielten sich im Wesentlichen im dörflichen Umfeld oder im Betrieb ab. Und ganz gleich, was es war, ob Maifest, Fasching, Betriebsfeier, Geburtstage, Tanzveranstaltungen und was auch immer, der Alkohol war ein treuer Begleiter.

Für uns Jugendliche blieb dieser Einfluss nicht ohne Folgen. Manch einer meiner Kumpels sowie auch einfach nur Bekannte, die alle immer wieder auf den gleichen Veranstaltungen zu treffen waren, kamen mit der dauernden Verfügbarkeit von Alkohol nicht klar, und es war bei manch einem ein körperlicher Verfall über mehrere Jahre zu beobachten, der auch dem unaufmerksamen Beobachter nicht verborgen bleiben konnte. Gerade dieses Thema war aber auch ein Ausdruck, eine Art Metapher, einer großen persönlichen Freiheit, die für viele von uns sehr früh existierte.

Die politische Dimension dieses Wortes ‚Freiheit‘ spielte hier keine Rolle, war mit dem Hintergrund der sozialistischen Erziehung und der damit in Fleisch und Blut übergegangenen sozialistischen Ideologie gar nicht existent. Die Diskussionen, die wir im Staatsbürgerkunde-Unterricht führten und Fragen, die wir stellten, bekamen erst Anfang der achtziger Jahre eine andere, aber dennoch linientreue, politische Ausrichtung.

Die Hoffnung, dass der ausgebildete Staatsbürgerkunde-Lehrer dialektische Widersprüche, die uns das Westfernsehen nahezu jeden Abend servierte, beantworten konnte und wir mit einem zumindest guten Bauchgefühl den Unterricht verließen, war die bestimmende. Diese Hoffnung wurde auch lange Zeit befriedigt.

Die Steilvorlagen lieferte der Westen oftmals selbst, und so war es ein Leichtes, das „Unrechtssystem“ Westdeutschlands und damit das der kapitalistischen Welt zu erklären, aus den Lehren der großen kommunistischen Philosophen logisch herzuleiten und damit in einer Art Vision das Ende der im Wesentlichen moralisch verkommenen kapitalistischen Gesellschaft vorherzusagen und somit die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu beweisen.

Es war einfach schön, auf der gerechten Seite der großen Mauer zu leben, keine Verbrechen mit der Suche nach dem Mörder aus Aktenzeichen X-Y-ungelöst, kein schauriger Tatort-Vorspann mit gejagten Menschen, wir waren sicher.

In diesem Umfeld konnten wir uns auf die wichtigen Dinge des Lebens konzentrieren, Sport, Mädchen oder umgekehrt, und da war dann noch die Schule, anspruchsvoll aber beherrschbar, streng in disziplinarischen Dingen aber mit einem in der Summe harmonischen Schulleben. Leistungsorientiert durch die unausgesprochene allgegenwärtige Verpflichtung, das Beste aus sich herauszuholen und dennoch ohne aufgesetzten Leistungsdruck.

Wir brauchten nur gut zu sein, die Zukunft war bereitet. Dabei wurde uns geholfen, ob wir wollten oder nicht, und auch wenn bei dem einen oder anderen die Noten nicht ganz so gut waren, der Wille musste da sein und das war entscheidend.

Es war gar nicht gut, wenn die Kopfnoten, wie Betragen, Fleiß, Ordnung und Mitarbeit, im Keller waren. Faul und blöd als Kombination versprach eben kein harmonisches Schulleben.

Mit dieser sanften Kontrolle vergingen die Jahre, es kamen Fächer wie „Einführung in die sozialistische Produktion“, „Produktive Arbeit“ und „Staatsbürgerkunde“ hinzu, und ehe wir uns versahen, streiften wir das blaue FDJ-Hemd über und standen im gleichen Jahr vor der Jugendweihe.

Endlich in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen zu werden, das war in unserem Selbstverständnis auch höchste Zeit. Wir waren immerhin schon 14 Jahre alt.

Davor stand aber noch ein bisschen Theorie in zehn Jugendstunden über die Geschichte der Arbeiterbewegung, den Kampf der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und die Entwicklung des sozialistischen Gesellschaftssystems. Wir wurden zur Parteitreue angehalten und sollten die SED als notwendige Machtinstanz zur Sicherung von Frieden und Wohlstand anerkennen.

Und das alles in der Tradition von freireligiösen Vereinigungen und ganz in unserer atheistischen Tradition. Was wollten wir mehr? Nun standen wir in Wismar in der großen Sporthalle mit dem Buch „Der Sozialismus - Deine Welt“ in der Hand, und es war sehr feierlich, und ich begann mich irgendwie von einem Moment zum anderen erwachsener zu fühlen.

Das „Sie“ als Anrede war uns nun rechtlich verbrieft, und einige Lehrer nahmen das auch ernst und fragten zumindest, wie wir es nun gerne hätten. Das Wichtigste waren aber die erhofften Geschenke, die optimaler Weise in Form von Glückwunschkarten mit einem Schein versehen waren und sofort aufgerissen wurden.

Ein Moped oder ein Radio wäre für mich sonst ein ewiger Traum geblieben. Den Moped-Führerschein, der wegen des „Führer“ im Wort dann bald Moped-Fahrerlaubnis hieß, hatte ich schon in der Tasche und konnte mit dem Gongschlag zum fünfzehnten Geburtstag auf meinen neu erworbenen, aber gebrauchten gelben Simson S50 steigen.

Damit begann das wirkliche Erwachsensein und meine große bewegliche Freiheit. Alles wurde einfacher, die Fahrten zur Schule, zum Training, zu Verabredungen, und so verdichtete sich das Leben, und das gefiel mir gut. Ich war, wir waren in der Pubertät angekommen, wussten alles besser, konnten alles besser und fanden vieles einfach nur spießig.

Mit sich selbst nicht ganz klarzukommen ist das eine, aber diesen Zustand, der durch die Reiberein mit den Eltern, den Lehren, den Trainern und anderen zusätzliche Schwierigkeiten verursachte, konnte ich eigentlich gar nicht brauchen und meine Kumpels auch nicht.

Michael und ich hatten durch die Zimmer außerhalb der Wohnung auch beste Voraussetzungen, zur Entspannung der Lage beizutragen. Hinzu kamen die Möglichkeiten in Neuburg. Die Gemeinde stellte einen Anbau am alten Kindergarten für Jugendarbeit zur Verfügung.

So viel Weisheit war fast unglaublich. Wir hatten einen Platz, wir hatten die Möglichkeit, alles selbst zu gestalten und konnten unsere überschüssige Energie an uns selbst abarbeiten. Mehr Jugendarbeit ging aus unserer Sicht nicht.

Zumindest das soziale ‚Perpetuum mobile‘ gab es doch, wir führten den Beweis, auch wenn das Projekt nicht alle Probleme lösen konnte. So rauschten wir durch ein unbeschwertes Jugendleben und kamen der entscheidenden Wende Richtung Abschluss der zehnten Klasse immer näher und somit auch den schweren Orientierungen, wo die Reise eigentlich hingehen sollte. Die Beratungen sowie die Möglichkeiten waren dürftig, und das machte mir große Sorgen. Landwirtschaft war keine Option, Gastronomie auch nicht und ökonomische Richtungen waren Mädchensache. Es musste etwas technisch Anspruchsvolles sein, etwas, was auch nicht jeder konnte, eben etwas Besonderes. Dieser nebulöse Berufswunsch war nicht im Angebot und wenn nahe dran, wie bei der Schiffselektronik in Rostock, dann brauchte man Beziehungen, die ich nicht hatte. Aber manchmal, wenn es scheint, als wenn gar nichts weitergeht, kommt doch eine unerwartete Möglichkeit daher. In diesem Fall in Form eines noch zu errichtenden Düngemittelwerkes bei Rostock. Für den späteren Betrieb wurden unter anderem Leute gesucht, die für die Mess,- Steuer- und Regelungstechnik zuständig sein sollten. Das hörte sich besonders an, denn diese Ausbildung gab es recht selten und schien zudem noch zukunftsorientiert zu sein. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt wurde ja überall propagiert und war ausgehend vom Gesetz der Ökonomie der Zeit, so der Sprachgebrauch, notwendig, um den Aufwand an lebendiger Arbeit zu senken und zur Kombination materiell-technischer, subjektiver und organischer Bedingungen für hohe Arbeitsleistungen und günstige Entwicklungsmöglichkeiten beizutragen. Da gingen doch persönliche und gesellschaftliche Belange vollkommen zusammen. Das war es. Die Frage war bloß: Wo ist denn diese Ausbildung, wenn dieses Chemiewerk noch gar nicht fertig ist? Das war der Haken, der aber letztendlich keiner war, weil ich endlich mal von den Kochkünsten meiner Mutter und überhaupt aus dem alten Umfeld wegmusste und die Frage des „Wo“ gar nicht so wichtig war. Die Bewerbung war dann auch schnell geschrieben, und es stellte sich heraus, dass die neue Heimat in Sachsen-Anhalt liegen sollte. Soweit hätte es gar nicht sein müssen, dachte ich, aber da Michael auch nur diese Möglichkeit für sich sah, waren wir schon zu zweit und so war der Entschluss gefasst.

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