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Die Leiche von Maidstone

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Der kleine Ort Headcorn in der liebreizenden Landschaft der Grafschaft Kent beschäftigte seine dreieinhalbtausend Einwohner wie immer, nur die Bücher, die Mrs. Tippelborn in der Bücherei auslieh, wechselten die Titel. Das Wetter wechselte ebenfalls täglich. Mal Sonne, mal Regen, während die grauweißen Wolken nicht wussten, wohin die Winde sie schicken würden. Jonathan Popskin, dieser kleine, rundliche, ältere Herr mit Buckel, immer ein wenig gebeugt gehend, wusste an diesem Tag, was er zu tun hatte. Hausputz, und zwar die klassische Methode mit Putztuch und Federwedel.

Im gemütlichen Cottage des ehemaligen Gerichtsmediziners war dabei nichts, außer dem gleichmäßigen Ticken einer alten Kuckucksuhr zu hören, ein Erbstück seiner deutschen Halbschwester. Er selbst reinigte gerade ein Bild. Nicht nur, weil er mehr als genug besaß und sie von lästigem Staub befallen wurden, nein, wenn er die Bilder beim Putzen betrachtete, war dies für ihn eine Art von Entspannung. Bei dem Bild, welches er heute zur Zerstreuung reinigte, handelte es sich um eine Kopie von Leonardo da Vincis hirnphysiologischer Darstellung aus dem Jahr 1508. Feder und braune Tusche.

Wenn er die Studien in Augenschein nahm, konnte er mit einiger Genugtuung feststellen, dass er bei seinem letzten Fall in London einem Neugeborenen das Leben gerettet hatte, während die Mutter an einem Aneurysma starb. Auf dem Seziertisch stellte er unerwartet fest, dass das Baby im Mutterleib noch lebte und sofort leitete sein Team alle nötigen Maßnahmen ein. Man verdächtigte zuvor den Ehemann des Mordes an seiner Frau.

Die Wände des Cottages waren übervoll von den Studien des talentierten Florentiners Leonardo da Vinci. Eine Besonderheit zeichnet Mr. Jonathan Popskin aus, den ehemaligen Gerichtsmediziner Ihrer Majestät. Kurz bevor er sein geschliffenes Skalpell zum Schnitt ansetzt, schließt er seine Augen und gerät sogleich in eine Art Trance. Seine rundliche Nase zieht dann den duftenden Mischmasch von Desinfektionsmitteln und Verwesung ein und er macht einen gewaltigen Zeitsprung zurück in die Renaissance, in die Zeit der Florentiner. Er sieht sich dann als buckligen Schüler des Meisters Leonardo da Vinci, der nachts heimlich die Leichen der Anatomieschulen der Ärzte sezierte. Schüler Popskin hielt die freigelegten Eingeweide und die Nerven und Knochen offen, sodass Meister Leonardo in Ruhe zeichnen konnte und er, der Schüler, lernte dabei jedes Detail des menschlichen Körpers kennen. Die Beschaffung der Leichen war in Mailand äußerst schwierig und sehr gefährlich, da deren Verwendung zu anatomischen Zwecken durch die urkundlichen Anweisungen des Papstes Bonifatius VIII. streng verboten war.

Die allgegenwärtige Inquisition konnte sie selbst das Leben kosten. Die Hilfe des Gelehrten Marcantonios della Torre war für Leonardo da Vinci deshalb sehr wichtig, da dieser weniger davor zurückscheute, frische Leichen besorgen zu lassen. Leonardo wusste, dass er weder vor Gefahren noch vor Verbrechen zurückschrecken durfte, wenn er die Natur des Menschen besser begreifen wollte. Marcantonio della Torre war Doktor der Medizin an der Universität in Pisa.

Ihm kam Leonardo gelegen, denn dieser verwischte mit seinen Zeichnungen die Grenzen von Kunst und Wissenschaft. Sie kauften für viel Geld Leichen von den Scharfrichtern, den Totengräbern, aus Krankenhäusern oder eben direkt vom Galgen, was den Schüler Popskin Überwindung kostete. Nicht, weil ihm der Tote Angst einflößte, nein, weil er den Toten vor dessen Beerdigung Gott vorenthielt. Meister Leonardo beruhigte ihn und sagte: „Wenn der Mensch den inneren Menschen besser kennt, wird er weniger früh zu Gott gelangen und durch das Wissen länger gesund bleiben.“ Der bestialische Gestank, der in den kalten Kellern der Anatomieschulen herrschte, katapultierte Popskin geradezu in die Jetztzeit. Kaum, dass er seine Augen öffnete, fühlte sich Popskin seinem Studium und dem Idol verpflichtet. Er suchte im Organismus nach dem, was diesen Menschen ungewollt um sein Leben gebracht hatte. Und genau dies tat Leonardo da Vinci so nicht, er hatte kein Interesse an Anomalien, sondern nur an dem Organsystem. Dies allein war schon gefährlich genug.

„Gong ...“, unerwartet machte sich sein iPhone direkt bei Miss Jane bemerkbar. Eingerollt ruhte seine Katze auf dem Sessel neben dem Kamin, mitten auf einem alten Kissen. „... Gong, Gong, Gong ...“ Panisch fauchte Miss Jane auf und schoss quer durch das Wohnzimmer. Dabei brachte sie wieder einmal zwei Stapel Bücher zu Fall. Popskin stapelte diese erst am späten Abend auf. Ganz unter seinem Motto: „Ordnung ist das halbe Leben, Unordnung das ganze, denn auch wenn im menschlichen Organismus Ordnung herrschte, sorgten Viren, Bazillen, rote und weiße Blutkörperchen doch für eine Menge Unordnung.“ Miss Jane schaute ihn ungläubig an.

„Big Ben´s Glockenschlag gefällt dir nicht? Nun gut, Miss Jane, lass uns später überlegen, was wir stattdessen auf dem iPhone speichern.“ „Ah, Chief Inspektor Patterson! Was verschafft mir die Ehre Ihres Anrufes?“

„Was ist mit Big Ben, Mr. Popskin?“

„Nichts, ich sprach nur mit der Katze und nun erzählen Sie, was Ihnen auf dem Herzen liegt.“ Popskins Augen wurden größer. Er war sichtlich verwundert, dass sein alter Buckel nicht zu jucken begann. In seiner langen Dienstzeit an der Gerichtspathologie in London juckte er häufig und manch ein Neuling musste ihm sogleich den Buckel kratzen. Die Nachricht aus Maidstone hätte jetzt eigentlich dazu führen müssen. Selbst Miss Jane erwartete, dass er an den Türrahmen gehen würde, um seinem Jucken ein Ende zu bereiten, doch er kratzte sich nur am Hinterkopf. „Hm? Da schlägt Big Ben dreizehn!“ Eine entstellte Leiche ohne die geringste juckende Vorahnung? Dies war neu für ihn und dann aus dem Mund von Chiefinspektor Patterson, der ihn ansonsten nicht gerade freiwillig anrief. Den Chiefinspektor konnte er nicht unbedingt als einen Freund bezeichnen, denn Popskins Einmischung bei einigen Fällen nervte den Chiefinspektor seit Längerem gehörig. Natürlich ließ er es sich nicht anmerken, dass er Respekt hatte vor dem ehemaligen Gerichtspathologen aus London. Popskins Buckel hatte bereits in der Jugend zu wachsen angefangen und er juckte eigentlich von Anfang an, wenn auch noch nicht auf menschliche Untaten hin. Zunächst beschränkte es sich auf tierische Todesfälle in der Familie und Nachbarschaft.

Nach seinem Studium und der Promovierung in Rechtsmedizin bekam er einen Mann auf den Tisch, dem der Notarzt einen tödlichen Herzinfarkt bescheinigte. Popskins Buckel begann beim Sezieren zu jucken, nachdem ihm seine Trance eine Zeichnung eines geöffneten Hundes vor Augen hielt und wie ihm sein Meister Leonardo den anatomischen Unterschied zu den Katzen erklärte und warum man wildernde Tiere manchmal töten musste. Er erinnerte sich dann an den Hund seines Großvaters, der getötet wurde, weil er gewildert hatte, und an die ermordete Katze seiner Tante und nahm an, dass dies ein Zeichen war, dass der Mann nicht an einem Herzinfarkt gestorben sein konnte. Eine ausgiebige Obduktion, die sein damaliger Chef für unnötig hielt, führte jedoch zum Erfolg. Der gute Mann starb durch das Botulinumtoxin, ein Nervengift, das die Atemmuskulatur lähmt.

Mr. Jonathan Popskin galt in seiner Zunft eigentlich als der Stephen Hawking der Rechtsmedizin. Und er hat nicht nur mehrere Bücher verfasst, er gilt auch als unbequem, doch wer sich mit ihm verstand, konnte sich auf ihn hundertprozentig verlassen. Und irgendwann kam auch einer in den Genuss, ihn singen zu hören. Chiefinspektor Patterson sang allerdings nicht am anderen Ende der Leitung.

„Kommen Sie bitte ins Maidstone Hospital. Wir brauchen Ihre Hilfe, Mr. Popskin. Man fand einen Toten bei Leeds Castle, auf der Höhe der A20. Sein total zerstörtes Auto lag nicht weit von dem Toten entfernt. Ein bekannter Atomphysiker übrigens und es ist schon der dritte und im Maidstone Hospital geht der Pathologe gerade fremd und operiert am offenen Herzen und das kann dauern. Ein Serienkiller läuft wahrscheinlich noch frei herum. Wir brauchen also dringend Ihre Hilfe.

Er könnte weiter morden und die verdammten Medien haben davon Wind bekommen, also seien Sie nicht so störrisch. Sie sind doch das Genie!“, brüllte der Chief und warum er brüllte, konnte sich Jonathan Popskin nicht erklären, es sei denn, er stehe unter großem Druck aus London. Drei Atomphysiker ließen darauf schließen. Drei dieser Spezies sind bestimmt mit einem hochrangigen Politiker gleichzusetzen.

„Ich bin nur ein unbedeutender kleiner Pensionist. Untertan Ihrer Majestät.“

Der Chiefinspektor würgte ihn ab: Als Untertan sei er geradezu verpflichtet, sein Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. „Seit wann seid ihr allgemein, Chiefinspektor?“, fragte Popskin Patterson, der vor Wut kochte.

„Lassen Sie es gut sein, es ist keine Zeit für Witze. Ich lasse Sie abholen und ins Maidstone Hospital bringen. Zimmer 042.“

Mr. Popskin schwang sich in seinen hellbraunen Dufflecoat und raste eine halbe Stunde später ins Hospital von Maidstone. Der quirlige Constable Jeff Hunter lotste ihn durch die grauen Flure. Es roch überall nach Siechtum und Krankheit. Auf den Gängen rempelte er bemitleidenswerte Gestalten an. Da Popskin noch seine Mantelkapuze trug, sah er ein wenig aus wie ein zerstreut herumwandelnder Mönch auf der Suche nach einer hilflosen Seele. Die blass-kranken Gesichter verfolgten den kleinen „Mönch“ mit Buckel, der mehr tippelte als lief.

„Sorry, aber wenn wir uns noch schneller bewegen, können Sie mich gleich auf die Station für Herzkranke bringen!“ Jonathan Popskin blieb protestierend stehen, klopfte an die nächstgelegene Zimmertür und ging hinein, denn auf dem Flur stand kein Stuhl. Der Polizist bemerkte dies nicht. Als er in das abgedunkelte Zimmer schritt, sah Mr. Popskin einen abgemagerten Mann mittleren Alters, mit Glatze, im Bett liegen. Er sah sofort in das Antlitz des Todes. Nur zu gut kannte er diesen Ausdruck und der war eindeutig: Der Mann wird sterben. Manchmal hasste Popskin seine Erfahrung und hatte Angst, dass man ihm diese schon ansehen würde. Vorsichtig sprach er den Fremden an, der ihn seit Eintritt fixierte. „Entschuldigen Sie, draußen sind leider keine Stühle zum Ausruhen. Darf ich mich hier ein wenig setzen?“

„Okay!“

Jonathan Popskin saß einige Sekunden, da fing sein Buckel an zu jucken.

Constable Hunter lief unterdessen aufgeregt weiter, ohne sich um Popskin zu kümmern. Er bemerkte das Verschwinden von Popskin erst vor der Tür zur Pathologie. Der Chiefinspektor ließ nun, wütender werdend, nach ihm suchen. Popskin selbst rückte näher an das Bett des Kranken, der sich zu ihm drehte. „Darf ich fragen, wie Sie heißen? Was fehlt Ihnen? “, fragte Popskin schließlich den Mann im Bett.

„David, Ben David. Ich habe Krebs. Ich warte hier eigentlich nur auf den Tod. Und seltsamerweise hat man nach einer gewissen Zeit keine Angst mehr davor. Im Gegenteil, man sehnt ihn sich herbei. Ich danke Ihnen jedenfalls, Ihr Mitgefühl tut gut. Wie heißen Sie?“

„Jonathan Popskin, Ben. Ich kann Ihre Gedanken nur zu gut teilen, wenn mich im Moment auch keine Krankheit besucht, so ist doch in meinem vorgerückten Alter jedes Einschlafen eine kleine Probe für das Entschlafen.“

Jonathan Popskin atmete einmal tief durch, denn er kannte so unendlich viele Krankheitsverläufe, die natürlichen und die durch Menschenhand herbeigeführten. Mit zunehmendem Alter stellte er fest, dass es ihm schwerer fallen würde, einen jungen Menschen zu obduzieren, mit dem er sich noch vor Stunden gut unterhalten konnte. Er war nebenbei froh, nicht mehr in den Alltagsmühlen der Pathologie zu stecken. Eine Obduktion hieß nicht nur Organe auseinanderzulegen und die Ergebnisse zu analysieren und dann noch zu Protokoll zubringen, nein, man kam sein halbes Berufsleben selten vor Mitternacht ins Bett. Hinzu kamen Vorlesungen, das Bewerten von Doktorarbeiten, Gespräche mit Staatsanwälten, Scotland Yard, und selbst diese mussten noch in die Akten. Dann kamen Gerichtstermine. Oftmals musste er am Tatort zugegen sein. Aufpassen, dass keiner den Tatort kontaminierte. Und immer wieder wurde er ungewollt zum Seelsorger von Angehörigen. Mit anderen Worten, eine Heirat kam für ihn nie infrage. Da lag ihm der Stress einer Autopsie mehr als der Stress einer Beziehung. „Die Toten sind mir die liebsten Gesprächspartner“, sagte Jonathan Popskin und genau daran dachte er jetzt, als er den Kranken ansprach und erkannte dass dieser Mann die Schwelle des Unbekannten bald übertreten werde.

Ben David erzählte, dass er früher Fischer gewesen sei, in Seascale. Er liebte den rauen Wind, den Geschmack von salziger Luft, das wilde Plätschern der Wellen an den Holzplanken. Begeistert erzählte Ben von dem einstigen Fischreichtum der Irischen See, aber irgendwann kamen die Schweine, um dort ein Atomkraftwerk zu bauen. „Sellafield. Und nach und nach vergifteten sie uns Fischern das Meer…“

Ben David berichtete von seinem Kampf mit den Behörden. Sogar der Königin habe er einen Brief geschrieben. „Keine Antwort, Mr. Popskin. Krebskranke Untertanen interessieren Ihre Majestät nicht. Atomlobbyisten werden jedoch geadelt.

„Welch ein Zufall“, überlegte Popskin, „ein paar Räume weiter liegt ein Atomphysiker. Sellafield? Die Atomanlage und ein totgeweihter Mann vor meinen Augen, hm ... Zufall?“

„Sellafield? Wie kommen Sie hier ins Maidstone-Hospital?“

„Eine Tante meiner Frau lebt hier und sie empfahl meiner Frau den Krebsspezialisten Dr. Burning und so bin ich hier gelandet, mit wenig Aussicht auf Erfolg, wie man unschwer erkennt ...“ und die Stimme wurde von Mal zu Mal leiser.

„Wo ist Ihre Frau, in Sellafield?“, wollte Popskin wissen und war sich sicher, dass der Mann noch mehr unter Heimweh nach Nordengland, seiner See, litt, als an Krebs.

„Sicher, was denken Sie, was all dies kostet“, sagte er und schloss die Augen.

Plötzlich öffnete sich die Zimmertür und ein sichtlich genervter Constable Hunter forderte Mr. Popskin energisch auf, ihm zu folgen, sonst würde der Chief explodieren. Popskin drückte Mr. David die dünne Hand und versprach ihm, ihn wieder zu besuchen.

Hunter und Popskin schritten eilig auf das Zimmer 042 zu, dem ersten Vorzimmer zur Pathologie. Zimmer 042? Da hätte der Chiefinspektor ja gleich Pathologie sagen können“, dachte Mr. Popskin.

Eine große Freude brandete auf, als Jonathan Popskin unter seinesgleichen erschien, sogar der Chiefinspektor vergaß seinen Unmut. Popskin zog sich einen weiten Kittel über und sah währenddessen auf eine grauenvoll zugerichtete Leiche. Seine Augen erfassten den gesamten Zustand in nur wenigen Augenblicken. Seine bereits hier gesichteten Erkenntnisse wurden in seine Erfahrungen transformiert, in sein "Fälle-Lexikon" und das Stammhirn signalisierte ihm, was er längst ahnte. „Kratzen Sie mir bitte meinen Buckel?“, bat er eine Schwester, die etwas verwirrt dreinschaute. So etwas war ihr bisher nicht untergekommen, und sie wusste nicht so recht, wie sie damit umgehen sollte. “Machen Sie schon!“, forderte sie der Chiefinspektor auf.

„Machen Sie auch schon“, verlangte Popskin trocken vom Chief. „Erzählen Sie mir, was Sie alles wissen. Wie nah Sie am Täter sind. Waren alle so schändlich zugerichtet? Man kann ja hier kaum zwischen Gesicht, Gesäß, Rücken und Brust unterscheiden.“

Popskin beugte sich über den Körper und schloss die Augen, was alle mit unterschiedlichem Interesse verfolgten. Niemand wusste, warum er dies tat und warum jeder die kurze Zeit als ewig lang empfand. Jonathan Popskin war jedenfalls in der Renaissance, während die Menschen um ihn herum annahmen, er würde über der Leiche einschlafen. Andere überlegten, ob er nicht einfach zu alt für den Job sei. Popskin war jedenfalls Jahrhunderte entfernt von den einfältigen Gedanken und mutierte just zum Schüler Leonardo da Vincis, hinein in eine andere Welt - in eine Welt, in der die Kunst und die Blüte der Medici alles Elend zu überstrahlen schienen. Eine Zeit, in der religiöse und auch politische Fanatiker nach Schlupflöchern der Macht trachteten. Schüler Popskin bewegte sich zwischen bitterer Armut und lustvoller Völlerei. Er lernte aber nicht nur das Sezieren, sondern auch das Mischen von Farben, das Spannen von Leinwänden und dass der Gehorsam einen Menschen eher satt machte als das Aufbegehren gegen die Kirche. „Meister Leonardo, soll ich die Fettgewebe unter der Haut entfernen, damit Ihr eine bessere Sicht auf den Magen und den Darm bekommt?“, fragte der bucklige Schüler.

„Eine gute Idee, mein Freund, aber wir müssen uns beeilen, die Kerzen werden uns nicht allzu lange Licht spenden.“

Dann plötzlich schlug Jonathan Popskin die Augen auf und bat um eine Pinzette, und er hatte für Sekunden das Gefühl, noch immer im Renaissance zu sein, bis er ins kantige Gesicht von Chiefinspektor Patterson blickte. Aha, aus der Traum, die öde Wirklichkeit hat mich zurück, dachte er.

Mit der Pinzette prüfte er die teils verbrannte und zerschundene Leiche. Ein aufgeschlagener Schädel. Dutzende offene Wunden. Popskin griff sicher zum Skalpell, welches ihm eine Assistentin reichte. „Eines kann ich Ihnen schon sagen, dass der Mann nicht im Auto saß. Die anderen Toten saßen im Wagen.“ Er schritt zum Kopf und schnitt vorsichtig in der offenen Hirngrube herum und in dem halb ausgetretenen Hirnödem und entnahm mit einer ihm gereichten Pipette Proben. Er legte diese in eine Plastikdose, nicht viel größer als ein Knopf seines Dufflecoats, und reichte sie Dr. Chris Keller.

Chiefinspektor Patterson fühlte sich derweil berufen, etwas zum Opfer loszuwerden und rümpfte seine schmale Nase, denn an diesen Geruch würde er sich nie gewöhnen. An den Anblick ebenso wenig.

„Wir können sagen, dass es sich bei dem Opfer um Dr. John Taylor handelt, 67 Jahre alt. Seit ein paar Jahren wohnhaft in London. Verheiratet. Drei Kinder. Es gibt zwei weitere Opfer, wie ich ja schon am Telefon sagte. Sie konnten an den Zähnen identifiziert werden. Sonst gab es keine Spuren an den Tatorten. Keine Fingerabdrücke und verwertbaren Fußspuren und keine DNS- Spuren an den Tatorten. Wir fanden sie im Abstand von drei Wochen an ähnlichen Orten wie Leeds Castle, nämlich bei Morttisfont Abbey und Wardour Castle. Übrigens habe ich die Familie von Mr. Taylor verständigt. Sie wird morgen anreisen und die Leiche identifizieren. Keine leichte Aufgabe.“

„Was verbindet die drei Leichen, außer dass sie gemeinsam im oder bei ihren Autos ums Leben gekommen sind und wohl eine Vorliebe für englische Geschichte teilen?“, fragte Popskin trocken.

„Sie arbeiteten alle drei ausnahmslos für die Atomanlage in Sellafield ...“. Während der Chiefinspektor weiter berichtete, reichte man Popskin eine Lupe und er entnahm weitere Gewebefetzen aus dem Ödem. Ließ sie kurz fotografieren und legte sie auf ein Reagenzglas und dieses unter ein Mikroskop. Dann bat er um bestimmte chemische Substanzen. Er griff nebenher unter den Kittel in die Hose und holte sein iPhone heraus und rief irgendjemanden an, einen Deutschen, wie der konzentrierte Chiefinspektor heraushörte.

„Hallo Karl, hier ist Dein alter Kollege Jonathan Popskin.“

„Wieso spricht er Deutsch?“, flüsterte eine Schwester.

„Er ist unter ehemaligen Feinden geboren“, antwortete der Chief mit gedämpfter Stimme, sodass er annehmen konnte, dass Popskin davon nichts gehört hatte. Doch er hatte gehört und zog die Augenbrauen zusammen und redete auf Deutsch weiter: „Sorry, mein lieber Karl, hier wird neben einer Autopsie Vergangenheitsbewältigung betrieben. So, nun höre mir zu, ich schicke dir, wenn möglich heute, eine Gewebeprobe von einem 67-jährigen männlichen Opfer zu. Ich möchte, dass du diese Probe durch dein Scanscope jagst. Gut, wie geht es dir sonst ...“, und sie tauschten kurz Erinnerungen aus, wie der Chief annahm, bis Popskin sein iPhone schließlich in die Hosentasche zurücksteckte.

„Scanscope, das könnten wir hier auch gebrauchen“, sagte Dr. Keller. „Was ist ein ...“, fragte der Chiefinspektor. „Eine Art virtuelles Mikroskop. Ein neues Verfahren. Es ermöglicht eine Digitalisierung unserer Schnittpräparate. Und durch eine ausgeklügelte Software bekommt man eine virtuelle Oberflächenschnittvergrößerung. Wie bei Google Earth kann man in freier Navigation und beliebiger Größe untersuchen, aber ich schreib es Ihnen auf, dann können Sie sich im Internet schlau machen. Dort gibt es eine Menge Infos. Seitenweise und wieder mit weiteren Links zu noch mehr Informationen. Reich bebildert und zum Downloaden. Wenn Sie allerdings schon meine Homepage studiert hätten, Chief Patterson, dann wüssten Sie, dass mich eine ganze Reihe junger Studenten aus Deutschland auf diese Methode aufmerksam gemacht hat. Man kann es in meinem Chat-Forum nachlesen.“

„Deutschland?“

„Universität Heidelberg, dort arbeitet Prof. Dr. Rosenbaum. Er ist eine Kapazität und wird diese Präparate für mich dort unter die Lupe nehmen.“

„Tut das not? Reichen unsere Möglichkeiten hier nicht aus? Ich denke nur an die Kosten?“ Popskin ging ein paar Schritte auf Constable Hunter und auf Patterson zu und gab beiden humorvoll zu verstehen: „Du hast nur klügere Freunde, Chief, wenn Du nicht zugibst, klüger zu sein, und bei drei prominenten Physikern dürften die Kosten doch wohl keine Rolle spielen?“

„Macht, was Ihr wollt, aber beeilt Euch.“, brummte er und wandte sich blitzschnell um. Eilte zur Tür. Blieb stehen und sagte schroff in die Runde: „Dr. John Taylor arbeitete in der Atomanlage Sellafield. Das wollte ich noch loswerden. Mitunter mag die Information ja hilfreich sein?“ Dann flog die Tür zu.

Seine Gereiztheit hatte jedoch noch einen ganz anderen Anlass, sagte Dr. Chris Keller, die forensische Anthropologin, zu Popskin: „Er bekommt Druck von ganz oben. Von seinen Vorgesetzten und aus der Downing Street Number 10. Vom Premierminister. Drei tote Atomphysiker lassen die Opposition und die Medien aufhorchen. Ob die Sicherheit des Reaktors noch gewährleistet ist?“

„Deshalb seine Laune! Wie dem auch sei, ich bitte Sie alle, bis auf Dr. Keller, den Raum zu verlassen“, antwortete Popskin und meinte weiter, „der Pietät wegen, denn auch eine Leiche hat Anspruch auf Diskretion. Mehr als drei Personen sind für mich ein taktloses Benehmen. Der Chief wird ohnehin informiert, falls wir hier heute noch fündig werden. Die Probe soll er dann so schnell wie möglich an diese Adresse in Heidelberg senden.“ Damit reichte Popskin Chief Pattersons Kollegen, Detektive Constable Hunter, die Visitenkarte.

Hunter stand immer noch so da, als würde seine eigene Obduktion anstehen. „Okay, Mr. Popskin.“ Und er steckte die Visitenkarte und die Präparate in seine Anzugtasche.

Am Abend brühte Popskin eine Kanne Tee auf und setzte sich an seinen Laptop, um die Ereignisse des Tages offline zu stellen. Online natürlich erst mit dem Abschluss des Falles und nach einer möglichen Verurteilung. Aufgrund des Alters und seiner nachlassenden Merkfähigkeit wollte er möglichst alles niederschreiben. Anschließend konnte er in Ruhe alle Informationen durchforsten.

Drei tote Physiker und alle arbeiteten sie für die Atomanlage in Sellafield. Wie kommen ihre Leichen nach Südengland? Keine leichte Aufgabe für unseren Chiefinspektor Patterson, sagte er sich und tippte die drei Namen der Physiker bei Google ein. Er war erstaunt über die Anzahl der Seiten. Er schrieb ihre E-Mail-Adressen heraus und las über ihre Fähigkeiten und ihre Werdegänge. Am Ende wurde er das Gefühl nicht los, ein kleiner Experte in Kernspaltung zu sein. Ein Thema, das sein Geburtsland Deutschland mit mehr Sorgen darum begleitete als seine neue Heimat.

Er schrieb den drei Familien eine ausführliche Mail, indem er sich selbst vorstellte und dass er als Mediziner an der Aufklärung der Todesfälle hinzugezogen wurde. Popskin wollte alles über ihren Alltag wissen, wer sich in ihrem Umfeld bewegte, und ob es Feinde gegeben haben könnte. Darüber, dass man eventuell ihre Leichen exhumieren müsste, schrieb er nichts, auch weil er nicht wusste, ob dies je angeordnet werden würde und ob man ihn überhaupt hinzuziehen werde. Die Familien der toten Physiker wohnten alle in der Nähe von Sellafield, in Seascale, Egremont und Whitehaven.

Dann beantwortete er zwei eingegangene Mails. Eine davon mit verbundenen Nachfragen eines jungen Kollegen aus Paris, der in einer Untersuchung einer Frauenleiche nicht vorankam, und eine seiner charmanten Freundin und Nachbarin Mrs. Gloria Stuart, ob sie auf einen Tee herüber kommen könnte. Woher wisse sie, schrieb er, dass der Tee schon aufgesetzt sei? Die Katze Miss Jane murrte, denn dies bedeutete, dass sie selbst weniger Zeit mit ihrem Hausherrn verbringen konnte.

Neidisch verzog die Katze sich, als die Klingel durch das Haus tönte. Gloria Stuart war ebenso klein wie Popskin, nur wesentlich schlanker. Ihre kantige Gesichtsform war mit unendlich vielen Falten gesegnet und mit Sommersprossen, die während jeder Unterhaltung in den Faltenwellen zu schwimmen schienen. Sie strahlte bei jedem Wetter, jeder Laune eine einnehmende Freundlichkeit aus, wie man es bei den meisten älteren Damen vermisste. Nur ihre weißen Haare, die klein gelockt den Kopf vereinnahmten, erinnerten an eine schwarze Bürgerrechtlerin. Und Bürgerrechtlerin ist sie allemal in Headcorn und die Begegnung mit Popskin bedeutete, dass ihr Ruhestand aus den Fugen geriet. Sie schaffte sich ein Handy und einen Computer an und machte einen Computerkurs. In ihrer Familie stieß dies auf Unverständnis, wie auch die Freundschaft mit ihrem Nachbarn.

Als Gloria Stuart das Cottage betrat, vermied sie im Flur jeden Blick auf die anatomischen Studien, die im Flur überwiegend mit weiblichen Genitalien bestückt waren. Die Wände waren praktisch voll davon. Nur hier und da ein Bild eines Urahnen, kristallene Wandleuchter und Regalreihen, die vollgestopft waren mit antiken und neuen Büchern. Popskin bat Mrs. Stuart ins Wohnzimmer. Der Kamin brannte hell und der Tee duftete süß. Popskin hielt zunächst einen Bericht über die Ereignisse und auch über einen überreizten Chiefinspektor, dessen miese Laune geradezu radioaktiv zu nennen war.

„Dann will ich hoffen, dass ich bei Ihnen, Jonathan, keinen Geigerzähler brauche“, sagte seine Freundin schmunzelnd.

„Geiger! Das ist das Stichwort. Ich werde uns beiden eine Schellackplatte aufs Grammofon legen, vom Geiger Yehudi Menuhin. Eine Liveaufnahme aus der Royal Albert Hall.“

Die Musik untermalte die Eindrücke aus dem Hospital, die Popskin von David Ben hatte. Und irgendwann fragte er seine Freundin, ob sie nicht Zeit hätte, im Internet alles über Proteste gegen die Atomanlage Sellafield zu recherchieren.

„Noch heute Nacht werde ich mich durch die Seiten wühlen und alles rauskopieren“, meinte sie Tee schlürfend und verabschiedete sich kurz nach Mitternacht. Miss Jane hatte den Augenblick verschlafen und schlief allein bis in den Morgen. Erst das Glucksen der Kaffeemaschine weckte sie und sie miaute um eine Streicheleinheit und um Futter.

Als er seinen Laptop auf dem Frühstückstisch platzierte, hatten bereits zwei Familien der Opfer auf seine Mails geantwortet. Der Sohn von Dr. Stevens und die Witwe von Dr. Eric Burton. Während er las, aß er seine belegten Brötchen und ärgerte sich über die Krümel, die zwischen die Tasten fielen.

Dann machte er sich auf den Weg. Eine Woche, jeden Morgen, ins Maidstone Hospital und obduzierte sich, zusammen mit Dr. Chris Keller, durch den geschundenen Körper von John Taylor und er lobte das Können seiner Partnerin am Seziertisch. Vor jeder erneuten Arbeit an dem leblosen Organismus fiel er in Trance. Machte einen Zeitsprung ins 16. Jahrhundert, nach Padua, um dort gemeinsam mit Leonardo da Vinci die Nervenstränge einer frischen Leiche zu säubern, sodass es Meister Leonardo leicht fiele, davon ein paar Studien zu fertigen. Die Leiche kam direkt vom Scharfrichter und machte einen gesunden Eindruck auf den Schüler, wenn sich nicht am Hals das Seil des Henkers abzeichnet hätte. Die Zunge stopfte er zurück in den Mund, während Leonardo die Augen schloss, ansonsten machte der Körper einen ausgezeichneten Eindruck. Jung und scheinbar gut durchtrainiert. Jedes Mal, wenn er das scharfe Messer ansetzte, wachte Popskin auf oder entrückte wieder ins sechzehnte Jahrhundert.

Als die Frau mit dem Sohn von John Taylor kam, brach sie zusammen. Der Anblick war einfach zu viel für sie. Popskin fragte den Sohn, ob er ihnen vielleicht ein paar Fragen stellen dürfte. Sie verneinten und er konnte sie gut verstehen. Nur so viel sagte der Sohn, dass sie sich in ein Hotel in Maidstone eingebucht hätten und für morgen zum Chiefinspektor bestellt worden seien. In seinen Pausen besuchte Popskin Ben David. Er hörte zu, was der Sterbende noch loswerden wollte. Leider gehöre das Zuhören zu einer aussterbenden Eigenschaft. Dies versuchte er oft seinen früheren Studenten zu vermitteln.

„Hört nicht nur zu, sondern auch hin, wozu hat man sonst seine Ohren?“

David Ben hatte zwei Söhne. Einer war arbeitslos und lebte in Afrika. Der andere arbeitete auf einer Ölbohrinsel in der Nordsee. Seine Frau hätte eine Halbtagsbeschäftigung als Haushaltshilfe, damit ein wenig Geld in die Kasse käme, denn die Rente von seinem verstorbenen Vater reichte nicht aus. Einmal lernte Popskin seine Tante Maggie David kennen. Eine sympathische, sehr biedere und zurückhaltende Frau. Sie musste früher hübsch gewesen sein, dachte er, doch die knifflige Arbeit auf dem Sektionstisch wartete. So wandte er sich wieder dem Hässlichen zu. Zwischendurch schaute er auf sein iPhone, das in der Nähe des Tisches lag, aber es blieb stumm. Heidelberg ließ sich Zeit. Am folgenden Abend legte ihm seine Nachbarin Mrs. Stuart alle Informationen auf den Tisch, die mit der Atomanlage Sellafield zu tun hatten. Berichte und Bilder, die schon vor Baubeginn für wütende Proteste sorgten und die sich von Mal zu Mal steigerten.

„Danke, Mrs. Stuart, aber Sie hätten es nicht ausdrucken müssen. Eine Mail mit Anhang hätte gereicht“, sagte er und schenkte ihr Tee ein. Miss Jane gab ihrem Herrn Recht und sie hatte das Gefühl, dass diese Nachbarin in letzter Zeit zu häufig zu Besuch kam. Irgendwann, „gong, gong, gong“, klang sein iPhone und er nahm das Gespräch an. „Morgen senden Sie mir das Ergebnis? Wunderbar! Also im Laufe des Tages. Ich danke, Professor Rosenbaum“, und wandte sich wieder seinem Besuch zu.

„Sie hätten sich nicht die Mühe machen müssen.“

„Ach wissen Sie, Jonathan, man möchte doch wenigstens etwas in der Hand halten. Aber ich will Ihnen gern gestehen, dass es mir immer noch nicht gelingt, eine Mail mit Anhang zu versenden“, sagte Mrs. Stuart betrübt und war eigentlich schon froh, den Flur ohne peinliche Blicke durchquert zu haben. Sie war immerhin in einer Zeit aufgewachsen, in der man das Geschlecht versteckte, und hier im Cottage hing es zuhauf herum. Im Wohnzimmer hingen Gott sei Dank nur Gelenkstudien und einige wenige Landschaftsölbilder aus einer Gegend, die sie nicht kannte.

Während sie sich in den Ölbildern verlor, las er ihre Ausdrucke und war erstmals schockiert über diese massiven Proteste gegen die Atomanlage. Auch wenn er früher in den Medien darüber gelesen und Fernsehnachrichten verfolgt hatte. Die Tatsachenberichte schlugen dem Fass den Boden aus und er war sich absolut sicher, dass ein Mord in diesem Sumpf aus Politik und Lobbyismus geradezu zu erwarten war.

Aber wie sehr er selbst und Scotland Yard auch Klarheit an den Tag bringen konnten, desto unklarer würden sich auch all die Verantwortlichen geben. Und die Medien würden dies in ihrer eigenen Art genüsslich ausschlachten und den Lesern dabei mehr Sand in die Augen streuen als Fakten.

Am nächsten Tag, an dem noch mehr Regen vom Himmel fiel als neue Erkenntnisse, entnahm er der Magenschleimhaut eine weitere Gewebeprobe. Seine vorangegangene Zeitreise zu Meister Leonardo brachte ihn darauf. Er hörte in seinen Ohren noch den Streit seines Meisters mit Antonio Pollaiuolo über einen Befund. Sie stritten erbittert um Kunst und Wissenschaft und er, der Schüler, sollte nun versuchen, die Magenschleimhaut aus dem halbierten Magen zu entfernen. Dass dieser noch voll von fast verdautem Essen war, nahmen die Streithähne nicht wahr. Schüler Popskin entfernte also zunächst halb verdaute Oliven und Fladenbrot. Alles andere als geschmackvoll anzusehen. Ganz zu schweigen vom Geruch.

Dr. Keller war über seine wiederkehrende Geistesabwesenheit nicht sonderlich verwundert. Es handele sich sicher nur um altersbedingte Ausfallerscheinungen. Sie war froh, die Legende der Gerichtsmedizin erleben zu dürfen.

Leonardo und Antonio führten also das Skalpell aus der Vergangenheit in den lose herumliegenden Magen. Popskin untersuchte intensiv die Gewebeteile unter dem Mikroskop und warf öfter einen Blick aufs iPhone. Nichts. Seine Augenbrauen kreuzten sich. Die veränderten Strukturen des Gewebes kannte er nur zu gut und er brauchte nur noch die Bestätigung der Heidelberger Universität. Diese wiederum war überaus glücklich, dass sie Aufträge bekam und der Scanner ausgelastet war.

„Gong, gong, gong“, und Popskin machte nur drei Schritte zu seinem iPhone. Sah enttäuscht drauf. Ein Bild von Pfarrer Hatley zeigte ihm an, dass dieser gute Mann am anderen Ende der Leitung wartete. „Du lieber Gott, ich erwarte ein Gespräch aus Heidelberg.“

„Wohnt der liebe Gott in Heidelberg, Jonathan?“, fragte ein vergnügt fragender Pfarrer.

„Ich melde mich“, und Popskin unterbrach die Verbindung. Zur irritiert dreinschauenden Chris Keller sagte er dann trocken. „Entschuldigen Sie, Dr. Keller, aber die Kirche hat in der Pathologie nichts zu suchen. Ich werde ihm eine SMS senden und ihn bitten, mich am Abend zu besuchen. Doch er hatte das erste Wort noch nicht eingetippt, da machte es schon wieder „gong, gong, gong ...“.

„Popskin!“

Dr. Keller hörte einen Augenblick zu und versuchte dann, sich ihrer Deutschkenntnisse zu erinnern, die sie während eines Studienaufenthalts in Berlin gesammelt hatte, und legte den feuchtschleimigen Magen zurück in eine ovale Schüssel.

„Gift, Dr. Keller. Der Mann wurde zunächst vergiftet und starb nicht an den Verletzungen. Unsere Untersuchungen geben uns also Recht. Das Ödem wies mich zuerst darauf hin. Zudem fanden wir ja noch Restpartikel Botulinumtoxin in der Magenschleimhaut im Darmtrakt. Der Mann war bereits tot, als er so zugerichtet wurde. Welch ein Trost für ihn“, sagte er still, „und rufen Sie jetzt bitte Chiefinspektor Patterson an. Das wird die Ermittlungen voranbringen.“

„Bouillon?“, flüsterte ein Polizist am Telefon irritiert.

„Reißen Sie sich zusammen“, schrie ihn Patterson an und entriss ihm das Telefon. „Was für ein Toxin, etwa das, womit unlängst der russische Exagent Litwinjenko in London ermordet wurde?“, fragte der Chiefinspektor Dr. Keller.

„Oh, nein! Es handelt sich um Bakterien aus verdorbenen Lebensmitteln. Diese produzieren ein Toxin und ein Gramm könnte hunderttausende Menschen töten.“

„Gott schütze unsere Königin.“

„Nein, Inspektor, oh sorry, Chiefinspektor“, entgegnete Dr. Keller lächelnd und sagte ernst: „Gott schütze uns vor den Forschern, die so etwas züchten. Und er schütze uns vor diesen Männern, die behaupten, dass Uran ein energetisches Heilmittel ist.“

Zufrieden mit ihrer Arbeit, verabschiedete sich Popskin und ging noch einmal zu Ben David. Der gab ihm die Handynummer seines Bruders. Danach wurde Popskin mit einem Streifenwagen zum Chiefinspektor gebracht und während der Fahrt vom Hospital erinnerte er sich an die Gespräche mit Ben über dessen Familie, die Gefahren der Atomkraft, durch die er anscheinend seine Krankheit bekommen hatte. Ihm gingen die vielen Tatsachenberichte durch den Kopf, die Hinweise der Familien der Toten, nur die wunderschöne Landschaft stimmte seine herumfliegenden Gedankenspielereien milde. Und dabei wurde ihm klar, dass die Landschaft nach einem Supergau nichts von ihrer Schönheit einbüßen würde. Der Mensch würde nicht nur sein Aussehen einbüßen, sondern wie ein Blatt welken. Mit einem Tempo, dass selbst der Formel 1 ungeheuerlich vorkommen würde. Popskin kamen unverhofft Japan und Hiroshima in den Sinn und ein Gespräch, das er vor zehn Jahren mit Dr. Fudji Takesio auf einem Kongress in Tokio über Langzeitfolgen von radioaktiv verseuchten Einwohnern geführt hatte.

Unterwegs rief ihn nochmals Pfarrer Hatley an und er musste schmunzeln, dass ihn bei seinen trüben Energiegedanken ein kirchlicher Würdenträger anrief. Als ob der liebe Gott die Energieprobleme auf Erden lösen könnte. Doch auch diesmal nahm sich sein Freund Jonathan keine Zeit und als er vor dem Gebäude von Scotland Yard ankam, schritt ein lächelnder Popskin die Treppen zum Chiefinspektor hinauf. Gott könne zwar auf Erden keine Energieprobleme lösen, aber er schuf Menschen, die Verbrechen lösen konnten. Er fand den Gedanken zwar überheblich, aber wenn er dazu diente, den Fokus auf ein Verbrechen zu verschärfen, dann sei jede Eitelkeit nur ein weiterer Schachzug, um einen Täter matt zu setzen.

Chiefinspektor Patterson legte ihm Fakten vor, die seine Kollegen in den anderen Polizeidistrikten ermittelt hatten. Die Leichen lagen in ihren ausgebrannten Autos. Die örtlichen Behörden gingen klar von Unfällen aus. Dr. John Taylor, den man ja nun als ermordet einstufen könnte, war das einzige Opfer, das außerhalb seines Autos lag.

Popskin zückte seinen Notizblock. Er machte sich Notizen und überlegte, ob er den Block mit seiner Theorie konfrontieren sollte. Theorien hätten oftmals etwas mit Radioaktivität zu tun, sinnierte er, sie gehen durch einen hindurch. Es dauert, bis man die Folgen spürt. Das Gefühl, dass Chiefinspektor Patterson die Folgen seiner Theorie ebenfalls nicht spüren würde, lag also nah.

„Es gibt bei diesen mysteriösen Morden nur zwei Zufälle, Chiefinspektor, wenn die anderen Opfer ebenfalls mit dem Gift ermordet wurden, was zu beweisen bleibt ...“

„Welche Zufälle?“, fragte Patterson in seinem schlichten Büro, in dem der einzige Farbtupfer ein Bild der Königin war.

„Dass ein gewisser Ben David im selben Hospital liegt wie unser Opfer John Taylor und ich gerade mit dem Putzen einer Bilderstudie von Leonardo da Vinci beschäftigt war, als ihr mich angerufen habt.“

„Was haben denn Ihre Bilder mit dem Fall zu tun? Muss ich das verstehen?“

„Zwei Zufälle muss man nicht verstehen. Ein Zufall reicht bei weitem aus, wie auch das Hirn nur einen Gedanken nach dem anderen verarbeiten kann“, antwortete Popskin schmunzelnd.

„Kommen wir also zurück auf Ihren Zufall?“, erwiderte Patterson borstig.

„Selbstverständlich!“

„Ja, es gibt diesen Fischer Ben David, der Sellafield verklagt hat. Aber seine öffentlich gewordene Klage wurde mehrfach abgewiesen. Wollen Sie etwa behaupten, dass er Dr. John Taylor umgebracht hat? Dieser David liegt seit sechs Wochen sterbenskrank im Hospital“, sagte Chiefinspektor Patterson jetzt lächelnd, und wippte dabei mit den Füßen auf und ab. Jetzt konnte er endlich diesem neunmalklugen Pathologen alle Karten auf den Tisch legen und ihm dann den Buckel herunterrutschen. „Und auch aus seiner Familie hat sich niemand gerächt. Beide Söhne leben außerhalb Englands. Peter David arbeitet auf einer Ölplattform auf der Nordsee und ist dort seit einem Dreivierteljahr. Ben Davids Frau kümmert sich um den Haushalt, geht putzen. Und sein zweiter Sohn, Tom, lebt in Südafrika, in Johannesburg. Wir haben doch längst mit den dortigen Behörden telefoniert. Die Metropolitan Police lebt doch nicht auf dem Mars.“ Der Chiefinspektor sammelte sich und ergänzte: „Sie wollen doch nicht, dass wir alle Physiker exhumieren, um auch bei ihnen das Gift nachzuweisen? Ich muss den ganzen Aufwand rechtfertigen.“

„Lesen Sie die Sun und die London Times und Sie werden Ihre Rechtfertigung finden.“

„Ich ignoriere diese Blätter und Sie können ...“

„Ich kann und will gar nichts, aber überprüfen Sie doch zunächst einmal, wo Helen David, die Ehefrau von Ben David, überall als Haushaltshilfe gearbeitet hat“, sagte Popskin, denn dies hatte er aus den Mails und Briefen der Familien herausgelesen und fuhr fort: „Ach, und besuchen Sie mit Ihrer Frau vielleicht einmal eine Botox-Party in London. Wegen der Falten vielleicht.“

Patterson grinste zerknirscht.

Jonathan Popskin und seine liebe Nachbarin philosophierten die Abende darauf weiter über den Fall, was die Katze Miss Jane, aus der Not eine Tugend machend, zum Anlass nahm und es sich bei Mrs. Stuart gemütlich machte. Sie wurde nicht enttäuscht.

Zwei Tage später saßen Mr. Popskin und Ben Davids Sohn Tom aus Johannesburg im Zimmer seines Vaters. Tom hielt noch Bens warme Hand. Er war direkt vom Flughafen London Heathrow nach Maidstone gefahren und war verwundert, dass seine Mutter Helen nicht am Sterbebett ihres Mannes war, sondern nur Maggie David und dieser bucklige, ältere Ex-Pathologe, der sich bisher nicht zu den Umständen geäußert hatte, außer, dass er bei seinem Vater den Tod feststellte. Urplötzlich klopfte es. Chiefinspektor Patterson trat ein und blickte gefasst und ernst zu dem Verblichenen und in die Gesichter von Maggie und Tom David.

Mr. Popskin schickte ihn höflich hinaus und sagte, dass er gleich mit Tom David herauskommen würde.

„Sie hatten recht, Popskin, die Mutter putzte bei allen Physikern“, und an Tom David gerichtet: „Ihre Mutter führte ein Doppelleben. Das Toxin besorgte sie sich anscheinend bei Botoxpartys, wo es durch Einspritzen in sehr niedriger Dosierung Falten vernichtet. Sie leugnet dies jedoch noch, doch Inspektor Willings wird sie im Verhör in Whitehaven dazu bringen, sich ihrer Schuld zu stellen. Dann wird sie es zugeben und dann haben wir seit Längerem wieder eine Serienkillerin überführt. Wussten Sie eigentlich, Tom, dass Ihre Mutter auch als Prostituierte arbeitete, um die Löcher zu stopfen, wie ich annehme?“ „Oh Gott! Sie behaupten wirklich, dass meine Mutter ihre Beine breitmachte, um ein paar lausige Kröten zu verdienen und dass sie für die entsetzlichen Morde verantwortlich sein soll? Niemals! Was erzählen Sie mir alles hier vor dem Zimmer meines toten Vaters?“

„Sie hat zugegeben, dass sie als Prostituierte arbeitete und sie wird auch zugeben, dass sie mit allen geschlafen und alle umgebracht hat, auch wenn es mir noch nicht in den Kopf will, wie sie das mit den Autounfällen anstellte?“ Tom David drehte sich abrupt um und ließ den Chiefinspektor verdattert stehen. Er ging zurück ins Zimmer, wo ihn Maggie David umarmte. „Söhne wissen eben nicht alles von ihren Müttern“, knurrte der Chiefinspektor. „Erlauben Sie, dass ich mich mit Helen David unterhalten kann, um ihr von meinen Besuchen bei ihrem Mann zu erzählen. Sie weiß noch gar nicht, dass er gestorben ist?“, fragte Popskin berührt. Patterson glaubte, nicht ganz richtig zu hören. „Wie wollen Sie dies anstellen? Wissen Sie, wie weit es bis Whitehaven ist? Heute wird Ihnen dies nicht gelingen. Die Züge und Busse? Nein, Jonathan Popskin, wir stellen Ihnen kein Flugzeug zur Verfügung.“

„Rufen Sie Inspektor Willings in Whitehaven an und sagen Sie ihm, dass Mrs. David in zwei Stunden vor einem Computer mit einer Webcam sitzen soll. Ich selbst habe zu Haus eine Cam und könnte mich so mit ihr unterhalten“, sagte Popskin und der Chief staunte nicht schlecht. Popskin verabschiedete sich kurz von Maggie und Tom David und sollte von Constable Hunter zurück zu seinem Cottage in Headcorn gebracht werden.

Auf dem Flur begegnete er dem Sohn von John Taylor, Michael, und er fragte ihn: „Hat der Chiefinspektor Sie gestern gut behandelt?“

„Ja, er war sehr freundlich zu meiner Mutter.“

„Darf ich Ihnen heute ein paar Fragen stellen?“

„Okay!“

„Wie oft war Helen David in der Woche bei Ihnen im Haushalt tätig?“ „Zweimal, glaube ich.“

„Ist sie allein gekommen oder hat sie jemand abgeholt?“

Michael Taylor überlegte kurz und sagte: „Einmal wurde sie von einem Mann abgeholt, wenigstens ist es mir einmal aufgefallen.“ „Ich danke Ihnen und möchte Ihnen nochmals mein Beileid ausdrücken. Ach, und könnte ich eventuell Ihre iPhone-Nummer haben, ich habe gesehen, dass Sie auch eines besitzen“.

„Natürlich.“

Als er zurück nach Hause kam, klingelte Popskin bei seiner Nachbarin und fragte, ob sie Zeit für eine ungewöhnliche Befragung hätte. Sie könne dann ihren Eindruck schildern, den eine gewisse Helen David auf sie macht. Eine Frau hatte immer noch ein weit besseres Gespür für eine andere Frau, dachte Popskin und freute sich, dass sie Zeit hatte.

Sie bürstete ihre weiß gelockten Haare und lächelte im Spiegel über ihre Falten und Sommersprossen. Seit sie ihren Computerkurs erfolgreich abgeschlossen hatte, fühlte sich die kleine, alte Dame wie ein unvernünftiger Teenager im Seniorenkostüm.

Eine Stunde später saß sie mit Popskin vor seinem Laptop. Er hatte die Webcam eingeschaltet. Gloria Stuart saß außerhalb der Minikamera, wie auch Chiefinspektor Patterson, der kurz zuvor angekommen war, sodass sie beide nicht auf dem Bild auftauchten, um damit Mrs. Helen David nicht zu irritieren. Jonathan Popskin richtete die Verbindung her. Es dauerte nur wenige Augenblicke und das Bild von Helen David baute sich auf seinem Bildschirm auf. Gloria Stuarts Puls pochte. Sie war über alle Maßen aufgeregt, während Chiefinspektor Patterson die Katze Miss Jane mit Argusaugen betrachtete.

Für ihn waren alle Katzen gefährliche Tiger. Sie fauchten ihn an und piesackten ihn absichtlich, wegen seiner Allergie. Bevor er zu Popskin gefahren war, hatte er alle Inspektoren angewiesen, die Leichen der Physiker zu exhumieren, da man nicht mehr an Unfälle glaube. Er musste dem Pathologen recht geben. Eine umfangreiche Autopsie wäre nach Unfällen sofort angebracht gewesen, doch immer wieder wurden hohe Kosten ins Spiel gebracht. Popskin kannte dies nur zu gut, da er ständig über das niedrige Budget klagte. Eine Autopsie kostete aber Zeit und manchmal viel mehr Zeit, als man ihm geben wollte.

Chiefinspektor Patterson trat jedenfalls eine Lawine los, denn fast gleichzeitig buddelten sie auf den Friedhöfen in der Gegend um Sellafield. Die Einsatzteams flogen die beiden Toten zum pathologischen Gerichtsinstitut nach London.

Im Wohnzimmer von Popskin herrschte eine gespenstische Ruhe und er sah in das Gesicht einer gebrochenen Frau, einer, der man nicht unbedingt eine Prostituierte abnahm, wie Gloria Stuart später bemerkte. Schon gar nicht eine, die mit gut gestellten Professoren und Doktoren schlief. Erst unterhielt sich Popskin über ihren Mann und sie wirkte erleichtert, dass dieser im Sterben nicht allein gewesen war und sie erzählte ihm, dass sie alles getan hätte, um die hohen Arzneikosten für ihren Ben aufzubringen. Sie erzählte von seiner glücklichen Kindheit, der Ehe. Eine Zeit, in der sie als Familie eine harmonische Einheit bildeten. Sein Vater lebte früher bei ihnen und starb auf dem Meer. Ein Sturm brachte ihn nicht mehr zurück in den Hafen. Dies sei lange her und doch konnte ihr Mann nicht vom Meer lassen. Und dann kamen die Atommänner und alles veränderte sich. Ihr kullerten dabei immer mehr Tränen aus den Augen. Erst als Popskin sie auf ihre Arbeit als Prostituierte ansprach, begann sie, ihr Gesicht mit einem Taschentuch zu trocknen.

„Seien Sie versichert, dass mich Ihre Tragik berührt“, meinte Popskin und der Chief schüttelte im Hintergrund verständnislos den Kopf, „und dass ich mir wirklich nicht vorstellen kann, dass Sie Ihre leidige Arbeit mit der Leidenschaft eines dieser professionellen Callgirls wahrgenommen habe. Was waren Ihre Kunden für Leute, wenn ich Sie das fragen darf?“

„Ach, ganz einfach, es waren Arbeitslose, gehemmte Beamte, die von den Professionellen eingeschüchtert waren und meine Chefin ...“.

„Ihre Chefin?“

„Die Chefin vom Bordell und sie ist auch die Chefin einer Agentur für Haushaltshilfen.“

„Wie ist ihr Name?“, fragte Popskin.

„Miss Judy Melone.“

„Was wissen Sie mehr von Ihrer Chefin?“

„Nichts, ich weiß nichts. Ich sehe sie nur selten.“

Mrs. Gloria Stuart schrieb eine Notiz auf einen Zettel und reichte diesen Jonathan Popskin. Popskin warf einen Blick darauf: Haben Sie schon mit Pfarrer Hatley gesprochen? Popskin verneinte vorsichtig kopfschüttelnd und hörte weiter zu: „Von einem Bordell alleine kann man in Sellafield nicht leben und die Agentur läuft nebenbei.“

Popskin unterhielt sich noch einige Minuten mit ihr und verabschiedete sich mit dem Versprechen, sie aus der Untersuchungshaft herauszuholen, was Chief Patterson mit noch mehr verständnislosem Kopfschütteln quittierte.

„Wie können Sie sich erdreisten? Ich gebe Ihnen den kleinen Finger zur Autopsie und Sie nehmen den Fall in die Hand ...“

„Ganz einfach, als ich auf diesem Zettel den Namen unseres Pfarrers las, begann mein Buckel flüchtig zu jucken, Chief, wie bei den Telefonaten mit ihm. Er nahm sein iPhone und rief Pfarrer Hatley an. „Hier ist Jonathan, entschuldige ...“.

„... Gott möge dir verzeihen, bei mir kostet eine Entschuldigung einen Besuch in unserem Pub,“, sagte der Pfarrer lächelnd.

„Weißt du, Hatley, die letzten Tage waren anstrengend und Mrs. Stuart sagte gerade, also, wir saßen gerade vor dem Computer und sprachen über eine Webcam mit Helen David und sie stritt die Morde ab.“

„Das kann ich mir vorstellen. Sie ist viel zu geschwächt durch die Schicksalsschläge, als dass sie die Morde begehen konnte, aber darauf wollte ich nicht hinaus. Es gibt da eine Sache, die mir merkwürdig erscheint, und zwar im Zusammenhang mit Helen David. Vor einem guten Jahr starben in Egremont bei Sellafield Zwillinge im Alter von einer Woche. Mein Kollege Pfarrer James Spenzer hat sie beerdigt. Sie starben den plötzlichen Kindstod zur gleichen Zeit und sie haben eine Mutter.“

„Lieber Hatley, alle Zwillinge auf Erden haben eine Mutter.“

„Gewiss, aber diese sagt Ihnen nichts und Sie sollten sie nicht aus den Augen verlieren.“

„Mir sagt keine fremde Frau etwas, machen Sie es also nicht so kompliziert, Hatley. Wie heißt diese Frau?“

„Sie heißt Judy Braun und ist die Chefin eines Bordells, deshalb der andere Name, Sie verstehen, wegen der Leute, und sie ist die Chefin der Agentur für Haushaltshilfen: vertrauensvoll und sauber. Dies hab ich selbst herausgefunden, man kann ja nicht nur Messbecher, Kreuze und Bibel putzen, Jonathan.“

„Die Frau sagt mir schon etwas! Vielen Dank, Hatley, bis dann. Ich melde mich dann bei dir.“ „So Gott will!“

„Chiefinspektor, richten Sie Ihren Kollegen aus, dass sie die Ermittlungen sofort auf eine Frau mit dem Namen Judy Melone oder Braun, ausweiten sollen. Ich glaube, sie hat mit dem Fall zu tun.“ „Warum das?“

„Tote Zwillinge sind immer ein begründeter Verdacht auf drei tote Physiker! Ich muss zugeben, dass ich ein guter Pathologe bin“, und er blinzelte den Chief an, „aber als Detektiv bin ich eben noch auf den genialen Spuren von Chiefinspektor Patterson“, und der nahm das Bekenntnis mit Genugtuung auf, lächelte über seinen Oberlippenbart hinweg, wischte sein feucht gewordenes Handy ab und wählte.

Mrs. Stuart beobachtete währenddessen Jonathan Popskins Buckel. „Soll ich kratzen?“

„Nein, nein, ich glaube, das war nur das Hemd. Die Stoffe, wissen Sie ...“.

Patterson rief zunächst New Scotland Yard in London an und dann Inspektor Willings in Whitehaven. Dann verabschiedete er sich von Popskin und Gloria Stuart und wich gekonnt der heranspazierenden Katze Miss Jane aus. „Sorry, kleines Ding. Also bis bald, Mr. Popskin, ich rufe Sie an, wenn wir mehr herausbekommen haben.“

Plötzlich herrschte wieder diese seltsame Stille im Cottage und Mr. Popskin überlegte. „Ich glaube, liebe Gloria, wir sollten uns gemeinsam etwas kochen und abwarten, was uns der Chiefinspektor später berichten wird. Ich habe meinen Teil getan und Sie haben mir erstmals geholfen. Das hat fast etwas von Sherlock Holmes und Dr. Watson“, meinte Popskin und bat sie, mit in die Küche zu kommen.

„Mein Gott, Mr. Popskin, Sie sind Holmes und Watson in einer Person und ich, mein Gott, ich bin eine Schülerin“, sagte sie und überlegte, wie lange es dauern würde, bis die Küche von den Büchern befreit sein würde.

„Schülerin ist gut, ich bin auch so eine Art Schüler“, gab er zurück und musste an seinen Meister Leonardo denken und dass er dieses Geheimnis mit in sein Grab nehmen würde.

Er überlegte, während sie aufräumten, was er in dem Fall von Mrs. Helen David noch unternehmen konnte und rief nach dem gemeinsamen Essen Tom David an. Mrs. Stuart wusch derweil das Geschirr ab. Glücklich darüber, dass ihr Nachbar sich noch nicht ganz geschlagen gab.

„Ist dort Tom David am Apparat?“

„Ja, sind Sie Mr. Jonathan Popskin aus dem Hospital?“

„Ja, das bin ich und ich hätte da einen Vorschlag ...“.

Zwei Stunden später saß Jonathan Popskin im Auto von Tom David und beide fuhren nach Sellafield. Sie fuhren die 365 Meilen ohne eine Pause durch. Um London herum, Luton, vorbei an Northampton, Birmingham und durch Manchester-Liverpool bis ans Ende der Welt, nach Sellafield. Popskin gab sich redlich Mühe, Tom David wach zu halten, was auch Tom David versuchte.

„Haben Sie bei Ihrer Arbeit eigentlich schon einmal das Gute im Menschen entdeckt, glaubt man noch an Gott, bei all den Verbrechen die auf Erden geschehen?“, fragte Tom und konzentrierte sich dabei auf den nächtlichen Verkehr, da ein einsetzender Regen und die blendenden Scheinwerfer des Gegenverkehrs das Fahren anstrengend werden ließen.

„Ich glaube, dass das Herz ein rechtes und ein linkes Herzohr besitzt und dass die Niere einen unteren und einen oberen Nierenpol hat“, sagte Popskin und gab seinen Code auf dem iPhone ein.

„Anatomie ist also Ihre Religion?“

„Das kann man so sagen und wenn ich Gott unter mir hätte, würde ich mir sein Herz vornehmen und versuchen zu ergründen, warum er uns Menschen gegenüber noch immer so ein großes Herz hat.“

„Und was würden Sie beim Satan suchen?“

„Nicht viel, dazu ist er uns viel zu ähnlich.“

Tom sagte daraufhin nichts mehr. Die Scheibenwischer flogen hin und her und er musste immer wieder auf die Bremsen gehen. Jonathan Popskin bekam leider nichts von den geheimnisvollen Mooren und den einsamen Gebirgen und fjordartigen Seen mit, die der Norden Englands aufbot, er vernahm nur die vorbeirauschenden Autos und die leise Musik von Tom Jones, die nebenher lief. Auch dass in dieser verlassenen Gegend die Industrie Einzug hielt. Für ihn nahm hier der Fall seinen mysteriösen Lauf.

„Glauben Sie, dass meine Mutter eine Mörderin ist?“

„Ich kann Ihnen sagen, dass Ihre Mutter keine Mörderin ist, aber ich kann Ihnen nicht versichern, dass sie nicht doch Schuld auf sich geladen hat.“

Nebenbei surfte Popskin im iPhone herum. Er registrierte sich bei Facebook, denn er hoffte inständig, dass er dort auf Judy Melone oder Judy Braun stoßen würde und er wollte sehen, wer mit diesen oder der Frau verlinkt sein könnte.

„Wunderbar, Tom, diese Judy Braun, die Chefin Ihrer Mutter, hat eine Seite auf Facebook und es sind viele Frauen, also Freundinnen mit ihr verlinkt. Auch Ihre Mutter und ein Mann, ein Freund, wie ich lese. Und sie lädt monatlich zu Botoxpartys ein. Ich werde das Foto kopieren und es gleich Michael Taylor, dem Sohn von Dr. John Taylor, senden. Er hat mir erzählt, dass einmal ein Mann Ihre Mutter nach dem Dienst abgeholt hat. Möglicherweise handelt es sich ja um diesen Mann?“ Popskin kopierte und sendete das Foto an Michael Taylor und hoffte auf baldige Antwort. Dann schrieb er kurz eine SMS an Inspektor Willings, der sich in seiner zügigen Antwort nicht gerade darüber erfreut zeigte, dass Popskin sich in die Ermittlungen einmischte. Aus diesem Grund blockte Popskin einen Anruf von Chiefinspektor Patterson ab.

Er musste sich nicht lange darüber ärgern, denn Michael Taylor gab Antwort: „Ja, Mr. Popskin, das war der Mann, der unsere Helen von ihrem Dienst bei uns abgeholt hatte.

„Dann ist unsere nächtliche Fahrt ja wenigstens mit einer weiteren Erkenntnis bereichert“, sagte sich ein gähnender Popskin erfreut und schlief auf dem Beifahrersitz ein. Am späten Morgen erreichten sie die Kleinstadt Whitehaven. Popskin musste an den Amokschützen denken, der hier im Frühjahr zehn Menschen erschossen hatte. Ein Ort, der alles andere als mordlüstern daher kam. Sie rollten in die Scotch Street ein und kamen vor dem Polizeirevier zum Halten. Popskin meinte zum übermüdeten Tom David, dass er bitte im Wagen warten möge, er wolle nur kurz zu Inspektor Willings und traf auf die äußerst streng dreinblickende Superintendent Mary Sulley.

„Sie sind also der berühmt-berüchtigte Jonathan Popskin. Ihr Ruf eilt Ihnen ja schon voraus und so werden Sie sich doch auch vorstellen, dass wir Sie jetzt zurückschicken müssen. Sie sind umsonst hier.“

Popskin blieb davon ungerührt und erklärte: „Ruhmreiche Leute hatte ich unter meinen Händen, wie auch die berüchtigten und ich selbst bin nichts als ein Werkzeug der Wahrheit und Sie sollten das Werkzeug zu nutzen wissen und mir helfen und dann ist dieser Ausflug in den Norden nicht umsonst. Außerdem werden Sie doch einen alten Mann wie mich nicht sofort wieder dem Stress einer Autobahnfahrt aussetzen. Ich möchte Ihnen nur helfen.“

„Helfen, wie stellen Sie sich das vor? Ich komme in Teufels Küche!“, warf Mary Sulley ein.

„Das ist es, was wir wollen, des Teufels Rezepte finden, denn ich denke, dass der Täter vom Teufel geritten sein muss. Geben Sie mir bitte zwei Tage?“

Superintendent Mary Sulley starrte ihn ebenso ungerührt an und Popskin hielt dem Blick stand. In ihrer straffen Uniform wirkte die Polizistin genauso ernst wie in ihrem Blick und er fragte sich, ob sie Polizistin ist, weil das Leben ihr einen bösen Streich gespielt hat.

„Zwei Tage und nicht eine Minute mehr.“

„Es gibt noch eine Schwierigkeit ...“, wollte Popskin ansetzen.

„Mr. Popskin, Ihre Anwesenheit ist hier schwierig genug ...“, fiel ihm Superintendent Mary Sulley ins Wort.

Das reichte Popskin jetzt: „Genug der Floskeln. Wo kann ich zwei Babyleichen obduzieren - und was noch schwieriger sein wird: Besorgen Sie sich vom Staatsanwalt eine Genehmigung dafür!“

„Mein Gott, wir graben nicht halb England aus, weil wir einem pensionierten Pathologen eine Freizeitbeschäftigung geben müssen.“ „England sollte froh sein, dass ich Ihnen diese Freizeitbeschäftigung nicht in Rechnung stelle. Wir haben es nicht nur mit drei, sondern mit fünf Morden zutun, verstehen Sie?“

„Gestern rief uns Chiefinspektor Patterson an. Er meinte, dass Sie Judy Braun oder Melone verdächtigen und ob wir die heute noch vorladen“, sagte Mary Sulley.

„Ich verdächtige sie nicht. Ich sagte nur, dass sie mit dem Fall etwas zu tun haben könnte und nahm an, dass Ihnen der Chiefinspektor etwas über die Babys gesagt hat?“

„Ja, er sagte Inspektor Willings, dass sie an einem plötzlichen Kindstod starben“, erwiderte Superintendent Sulley.

Jonathan Popskin geriet nun doch aus der Fassung: „Wie viele Zwillinge kennen Sie, die gleichzeitig einen Kindstod gestorben sind?“ „Ich ...“

„Lassen Sie mich weiter reden. Sie haben oft vom Kindstod eines Zwillings gehört und dass das zweite Kind ein paar Tage später sterben kann. Deshalb muss das überlebende Zwillingskind für einige Tage auf die Intensivstation, aber es ist mir kein Fall bekannt, an dem Zwillinge zur gleichen Zeit starben. Deshalb sollten Sie sofort eine Genehmigung für eine Exhumierung besorgen, möglichst noch bevor Sie die Unterschrift auf dem Behördenwisch haben und Sie sollten Judy Braun während des Verhörs, nachdem ich mich bei Ihnen gemeldet habe, darüber in Kenntnis setzen und Sie sollten nach diesem Mann fahnden...“. Dabei suchte Popskin auf seinem iPhone das Foto des Freundes von Judy Braun. „... einem gewissen Robert Jenkins, so nennt er sich wenigstens auf Facebook.“

Superintendent Sulley besah sich das Foto und überlegte ein paar Sekunden. „Warten Sie“, sagte sie und griff zum Telefon: „Inspektor Willings, fahren Sie Mr. Popskin, ja, ja, er ist hier. Fahren Sie ihn zum Hospital, dort soll er ...“

„Ich fahre mit zum Friedhof“, unterbrach sie Popskin, „es genügt, wenn wir die Särge kurz öffnen, eine Gewebeprobe entnehmen und sie dann weiter ruhen lassen. Es ist nicht nötig, dass wir ...“

„Haben Sie gehört, Inspektor Willings, holen Sie ihn hier ab und ich gebe Ihnen zusätzlich ein paar Leute mit und informiere die Friedhofsverwaltung und unsere Pathologen“, instruierte Mary Sulley den Inspektor und wandte sich an Mr. Popskin: „Sind Sie zufrieden? Dann werde ich mich jetzt um Robert Jenkins kümmern.“

„Seien Sie versichert, dass Zufriedenheit für einen Pathologen nichts bedeutet, solange ein Täter nicht hinter Schloss und Riegel sitzt. Nachdem er Tom David draußen gebeten hatte, seine Mutter zu besuchen, wartete er auf Inspektor Jenkins, dessen Gesicht er schon von der Webcam her kannte.

Der Friedhof war abgesperrt. Popskin und die pathologischen Mitarbeiter vom Whitehaven Hospital zogen sich alle weiße Schutzanzüge an, während tiefer und tiefer gegraben wurde. Popskin öffnete seinen Koffer mit den Instrumenten. In einiger Entfernung verfluchten einige Neugierige die Grabschändung. Als die beiden Leichengräber die kleinen, dreckigen Särge nach oben gehievt und geöffnet hatten, sah Popskin nur noch Reste von Tuch. In beiden Tüchern befand sich ein zusammengeschrumpelter Haufen trockenes Fleisch, überzogen von Schimmel und Insekten. Ein flüchtig beißender Geruch stieg ihm in die Nase.

Er schloss seine Augen und fand sich in Padua wieder, im Jahr 1509. In den Händen hielt der Schüler von Leonardo ein Frühchen, welches sie einer toten Schwangeren entnommen hatten. Es lag verloren in seinen kleinen Händen, als Modell für Meister Leonardo, der gewandt die rote und schwarze Kreide über das großformatige Papier fliegen ließ, immer ein Ohr in Richtung Eingang, denn er wusste, dass er oberhalb der Erde mit seinen anatomischen Zeichnungen nicht überall auf Gegenliebe stieß.

Popskin öffnete die Augen und entnahm die Gewebeproben. Dann bat er den Inspektor, ihn ins Hospital zu fahren. Der war froh, diesen unwirtlichen Ort verlassen zu dürfen. Auf die Frage, warum er nicht beide Babyleichen in die Pathologie mitnahm, antwortete Popskin auf seine Weise: „Fünfzig Jahre Gerichtspathologie, Kollegen. Meine geübten Augen sehen sofort, dass es keine äußerlichen Verletzungen gibt. Ich gehe davon aus, dass man diese selbst bei euch im Hospital gesehen hätte und die Röntgenbilder werden doch wohl mit Sicherheit bei den Akten sein?“

Im Whitehaven Hospital untersuchte Popskin, unter den Augen des Chefpathologen Dr. Green, die Proben, die Röntgenbilder und den Autopsiebericht. Ein Fotograf knipste auf Anweisung von Popskin die Proben. Die Fotos und Ergebnisse sendete er via iPhone sofort an das gerichtsmedizinische Institut nach London an seinen Nachfolger Dr. Fairbanks. Er brauche einen Tag, schrieb dieser zurück.

Danach ließ Popskin sich in ein Hotel fahren, das Dr. Green ihm empfohlen hatte. Das Glenfield Hotel gehörte seiner älteren Schwester und war im Stadtteil Back Corkickle gelegen. Ein Haus im viktorianischen Stil und in unmittelbarer Nähe einer herrlichen Landschaft, wie Popskin feststellte. Von dort rief er Superintendent Sulley an: „Bestellen Sie für morgen Mrs. Braun erneut zu Ihnen und sagen Sie ihr, dass wir ihre Zwillinge exhumieren mussten. Mehr nicht. Inspektor Willings wird mich jetzt zu Ihnen bringen.“

„Haben Sie etwas herausgefunden, ein Ergebnis?“

„Ich erzähle es Ihnen, wenn ich bei Ihnen bin. Geduld.“

Dann faltete Popskin die Untersuchungsergebnisse von John Taylor zusammen und trank mit Dr. Green, der ihn begleitet hatte, noch eine Tasse Kaffee, denn wann konnte sich ein Chefarzt einer Kleinstadt damit rühmen, einer Legende der Pathologie bei der Arbeit zugeschaut zu haben?

„Alle Achtung, ich habe einige Ihrer Bücher gelesen und ich muss sagen, Sie haben nichts verlernt“, sagte Dr. Green. Popskin lächelte gütig und fragte: „Sagen Sie, hat Judy Braun in Ihrer Klinik entbunden?“

„Ja, und Sie wissen wohl längst, dass die Babys nach einer Woche gestorben sind?“ Dr. Green schaute ernst zum Fußboden. “Was genau ist passiert?“, fragte er Mr. Popskin.

„Wir wissen es nicht, trotz einer Autopsie und Sie wissen ja, dass ein plötzlicher Kindstod leider immer noch nicht genau erforscht ist“, antwortete Popskin und reichte ihm das iPhone. Dr. Green las die Antwort aus London und wurde stockblass. „Warten Sie bitte auf weitere Anweisungen und bewahren Sie absolutes Stillschweigen, Dr. Green, denn das Ergebnis ist besorgniserregend. Ach, eine Frage: Wissen Sie vielleicht, wer Judy Braun im Krankenhaus besucht hat?“

Das Abendessen im Glenfield genoss Popskin. Gespickte Lammkeule mit Prinzessbohnen auf Kartoffelgratin. Gutes Essen war ihm die schönste Nebensache der Welt, wenn er denn Zeit dazu fand. Meistens begnügte er sich mit Fish and Chips. Spät am Abend mailte er seiner Freundin Gloria Stuart alles, was er herausgefunden hatte, und Mrs. Stuart leitete die Mail weiter an Pfarrer Hatley, der sogleich in seine Kirche rannte und ein Gebet für die Kinderseelen sprach. Miss Jane wurde derweil von Mrs. Tippelborn verwöhnt. Mrs. Stuarts und Popskins Katze mochte die alte Jungfer nicht, aber da sie Herrscherin über das Futter war, opferte sie sich widerwillig und ließ sich von dem alten Bücherwurm streicheln. Mrs. Tippelborn versicherte Popskin jedenfalls, dass sein Cottage noch stehen würde und er nicht jeden Abend anrufen müsse.

Am nächsten Morgen schien die Sonne über Whitehaven und man konnte den Geruch vom Meer wahrnehmen. Im Verhörraum roch es nach nichts und das Nichts sollte endlich mit Antworten gefüllt werden, deshalb hatte Mr. Popskin die anstrengende Reise unternommen. Die Nähe zum Tatort war ihm wichtig, da die Täter dort anders agierten. Sie fühlten sich meistens in ihrer Heimat sicher und gerade das machte sie empfindlich, wenn die richtigen Fragen in die Wunde stachen und nicht nur das Skalpell. Ihre Pupillen, die Iris, veränderten sich, wie auch der Ton der Sprache, der Antworten, auch wenn sie zunächst in eine andere Richtung gingen.

„Es tut uns leid, aber wir mussten Ihre Kinder exhumieren“, sagte Superintendent Sulley ruhig, „haben Sie dazu etwas zu sagen?“

Mrs. Judy Braun schaute sie stumm an. Ausdruckslos. Scheinbar leer. Sie schien auf etwas zu warten. Vielleicht würde ihr jemand eine Entscheidung abnehmen, dachte Mary Sulley, aber wer sollte dieser Jemand sein?

Draußen wartete bereits Robert Jenkins, der auf den Buckel von Jonathan Popskin stierte, als dieser den Raum des Reviers betrat. Robert Jenkins wirkte unscheinbar. Hatte nichts Besonderes an sich, außer, dass er einen Jeansanzug trug. Er fragte Inspektor Willings, ob er mit Mrs. David sprechen dürfe. Der bejahte dies und brachte ihn in die Untersuchungszelle. Als sein iPhone im Mantel klingelte, sah er das Gesicht von Chiefinspektor Patterson und stellte das iPhone ab. Nur zu gut war Popskin klar, dass ihn Chiefinspektor Patterson mit Einmischungsvorwürfen bombardieren würde, sagte er sich und betrat den kalten Raum.

Helen David hatte einen langen Rock und einen rosafarbenen Pullover an, die langen graublonden Haare waren streng gekämmt und hinten zusammengeknotet. „Sie sind dieser Pathologe aus Headcorn, danke, dass mich mein Sohn Tom besuchen durfte und danke, dass Sie bei meinem Mann im Hospital waren“, sagte Helen David und sie wirkte ziemlich erledigt, wie Popskin feststellte und in natura noch mehr als vorgestern vor der Webcam. Popskin drückte ihre Hand länger als nötig und sagte: „Sie können mir alles sagen, alles! Ich finde, das sollten Sie endlich tun. Ihrer Söhne und Ihres Mannes wegen. Die Zwillinge von Ihrer Chefin, von wem sind sie, wer ist der Vater, ist es der Freund Robert Jenkins, sind sie ein Paar?“

Sie blickte ihn traurig an und sagte: „Nein, sie sind doch von einem der drei Physiker, ich weiß aber nicht von wem ...“.

„Weiter, Mrs. David, Sie wissen doch mehr?“, forderte Popskin sie auf. „Mrs. Braun wurde von allen dreien vergewaltigt und Robert hat das herausbekommen!“

„Kannten die drei Physiker sich, für deren Haushalte Sie gearbeitet haben?“

„Ja, und sie trafen sich wöchentlich im King George IV Inn.“

„Ich danke Ihnen zunächst, Mrs. David“, sagte Popskin, der sah, wie sie sich auf die Lippen biss.

Inspektor Willings begleitete Popskin zu Superintendent Sulley, die immer noch vor dem eisigen Schweigen von Judy Braun verharrte. „Darf ich, Superintendent?“, fragte Popskin.

„Ja, nur zu, wenn Sie Eis zum Schmelzen bringen, wird man Ihnen bald den Vorwurf machen, am Klimawandel beteiligt zu sein.“

„Ich werde mir höchstens vom Vorstand der Atomanlage Sellafield den Vorwurf anhören müssen, dass sie nicht allein für den Tod von Ben David verantwortlich sind und dass sie auch nichts für Physiker können, die eine Frau vergewaltigen?“

Judy Braun sah ihn an, während der Superintendent ganz kurz hinausging, um Willings eine Anweisung zu geben, dass man Robert Jenkins herbringen soll.

Als Superintendent Sulley wieder zurück war, legte Judy Braun los. „Ich will Ihnen beiden etwas sagen. Ich bin überglücklich, dass diese Teufel ihre gerechte Strafe bekommen haben!“ Und sie rutschte plötzlich auf ihrem Stuhl herum, fuchtelte mit den Armen vor der Brust herum. Spuckte zwischendurch auf den Fußboden und schien förmlich zu explodieren. Alles, was sie wusste, musste heraus, als ob sie damit ihre Kinder wieder lebendig werden lassen könnte.

„Ja, Dr. John Taylor, Dr. Stevens und Dr. Burton haben mich in meinem Etablissement aufgesucht, was sie vorher noch nie taten. Und während mich John Taylor brutal vögelte, holten sich die anderen einen herunter und schlugen mich dabei windelweich. Ich schrie vor Schmerzen, was sie nur noch mehr antrieb. Irgendwann schlief ich wohl ein. Ich weiß nicht, wie lange das Martyrium gedauert hat. Als ich dann wach wurde, waren alle fort. Das Zimmer sah verwüstet aus. Ich rief danach Robert an, während mich Helen fand, als ihr Dienst im Bordell anfing. Mein Freund Robert wollte die Schweine sofort abschlachten, aber ich hielt ihn davon ab. Ich war in meiner Fruchtbarkeitsphase und ahnte, dass ich schwanger geworden sein könnte. Ich wollte John Taylor, den berühmten Atomphysiker, der eine so schöne, reiche, heile Welt bewohnt, erpressen, falls ein Kind kommen würde und das war mein Fehler ...“. Und sie brach in Tränen aus.

„Und Sie bekamen Zwillinge. Was passierte dann?“, unterbrach sie der Superintendent.

„Ich bekam meine Zwillinge, Stella und Paul, und dann, nach einer Woche, starben sie plötzlich“, und sie schluckte und schluchzte, „und Robert wollte es nicht wahrhaben, er sah John Taylor auf der Station.“ „Und Ihr Freund vermutete“, fuhr Popskin dazwischen, „dass Dr. John Taylor die Kinder ermordet hat?“

„Ja, aber ich sagte nein, nein, man fand doch nichts, es war doch nur ein böser Zufall, dieser Kindstod.“

„Da liegen Sie falsch, Mrs. Braun, es war kein Zufall. Ihre Zwillinge wurden ermordet, und zwar mit einem Gift, das sich nur ein Atomphysiker wie Dr. John Taylor beschaffen konnte. Das hoch radioaktive Polonium.“

Nun an Superintendent Sulley gerichtet: „Die Ergebnisse sind zwar schwach, reichen aber völlig aus. Ich fand eine dünne Spur des Giftes und London hat dies bestätigt. Dr. Green wird noch die Originalproben nach London senden, aber diese wären nur noch für die Studenten von Belang. Chiefinspektor Patterson hatte ungewollt recht, denn mit diesem Gift wurde vor Jahren der russische Ex-Agent Litwinjenko ermordet, beiden Zwillingen reichte eine geringe Dosis ...“

„Mein Gott, wie furchtbar, aber wie sollen wir das beweisen und letztlich ist es ja auch egal, Dr. Taylor ist tot ...“, schluchzte Judy Braun. „Die Zwillinge sind nicht von Dr. John Taylor. Die DNS ist eindeutig. Judy Braun, Sie haben Taylor umsonst erpresst und erpresst haben Sie ihn, dies geht aus einer E-Mail seines Sohnes hervor, zumindest, dass Taylor erpresst wurde, und Sie haben dies ja auch bestätigt und ich gehe davon aus, dass Sie uns jetzt die ganze Wahrheit auf den Tisch legen.“

Judy Braun sah ihn ungläubig an und sagte apathisch: „Dann hat Robert ja diese Bestien nicht umsonst ermordet! Aber wer ist der Vater, etwa Dr. Stevens oder Dr. Burton?“

„Ich gehe eigentlich davon aus, dass er vor der Tür sitzt“, sagte Popskin und schaute durch das vergitterte Fenster auf die Stadt. Dann sah er, dass die Tür vom Verhörraum geöffnet war. Popskin durchzuckte urplötzlich ein Gefühlsblitz, als sich die Tür ruckartig öffnete und Robert Jenkins wild hereinpreschte, mit einer Waffe in der nervösen Hand: „John Taylor ist bestraft, ich habe ihn gerichtet und seine Freunde ebenfalls und jetzt, wo ich weiß, dass ich der Vater bin ...“

„Beruhigen Sie sich“, meinte Popskin und schoss vom Stuhl hoch. „Beruhigen! Ich werde als dreifacher Mörder und zweifacher Vater von toten Kindern wohl keine Ruhe mehr finden ...“, und Jenkins erzählte, wie sich alles zugetragen hatte.

„Gut, Jenkins, reden Sie sich alles von der Seele und Mr. Popskin hat recht, legen Sie bitte die Waffe auf den ...“.

Kaum dass Superintendent Sulley ausgesprochen hatte, hob Jenkins die Hand, setzte sich die kleinkalibrige Waffe zielgerichtet an die Schläfe, blickte kurz zu Judy Braun, sodass sich ihre Blicke für einen Sekundenbruchteil trafen und schoss. Ein ohrenbetäubender Knall füllte den Raum. Blut spritzte wie eine wild auseinanderdriftende Fontäne durch den Raum, wie auch die markerschütternden Schreie von Judy Braun und Mary Sulley, während Popskin urplötzlich Meister Leonardo sah, der eine Hauptschlagader öffnete und sein Schüler ihn anschrie: „Meister, der Mann lebt, mein Gott, der Tote lebt ...“. Geschockt sank Jonathan Popskin auf den Stuhl zurück. Er öffnete seine Augen und blickte auf ein Schreckensszenario, wie es ihm so bisher nie widerfahren war.

Zwei Tage später war Popskin wieder zurück in Headcorn. Zunächst aktualisierte er seine Homepage. Er schrieb einige Fakten und Anmerkungen zu dem Fall auf und er beschrieb die Obduktion von Dr. John Taylor und den Zwillingen, soweit er dies in die Öffentlichkeit bringen durfte. Studenten und Kollegen aus der ganzen Welt besuchten seine Homepage und das Forum. Zu bestimmten Zeiten schrieb er im Chat darüber, diskutierte und fachsimpelte. Nach diesem Fall brauchte er etwas Abstand, was er auch so ins Forum schrieb. Eine Mail seiner Nachbarfreundin beantwortete er mit dem Wunsch, sie am nächsten Abend zum Essen einzuladen. Dr. Green hätte ihm angeräucherte Lammbrust mitgegeben...

Am nächsten Abend sah sie sofort, dass er immer noch unter dem Eindruck der Geschehnisse stand, und sie wusste so gar nicht, wie sie beginnen sollte, ihn aufzumuntern. „Was mich nun aber noch brennend interessiert, Jonathan, wie und wo hat dieser Freund von Judy Braun, dieser Jenkins, die Morde begangen?“

„Mrs. David hat bei allen Physikern im Haushalt gearbeitet, wie Sie wissen, Gloria. Sie wusste doch um die häuslichen Abläufe, wer kam und wer ging und wann die Herren allein zu Haus waren und Robert hat sie einfach ausgefragt. Sie ahnte nichts von dem, was er mit seiner Freundin, ihrer Chefin, plante, die das Botoxgift und die Spritzen besorgte. Robert Jenkins wusste, wann die Herren allein waren. Er entwendete die Schlüssel von Helen David. Sie hatte Schlüssel zu allen Villen. Während der Spurensuche fand man übrigens auch noch Fingerabdrücke von ihm. Dann fuhr Jenkins seelenruhig mit den Limousinen der Leichen nach Südengland, nach Leeds Castle, Mottisfont Abbey und Wardour Castle.“

„Wieso gerade dorthin?“, fragte Mrs. Stuart.

„Liebste Freundin, ganz einfach, er war studierter Historiker und sah Bilder von den Orten in den Villen der Physiker. Da liegt es nahe, dass er beim Thema blieb. Zudem fand man Notizen, in denen sie ihren Familien ausrichteten, dass sie dort zusammen ein Treffen hätten. So vermisste sie zunächst niemand. Dann fuhr er ihre Autos zu Schrott und platzierte die Leichen ans Lenkrad und steckte dann alles in Brand.“

„Wie mit dir, Jonathan, wenn ich mir die vielen Studien von diesem Italiener ansehe. Aber wieso brachte er sie um, welches Motiv hatte er? Man braucht doch ein Motiv zum Morden?“

„Liebe, Gloria, die Liebe. Das älteste Motiv der Welt, denn als er sah, was mit seiner Freundin Judy passierte, wie Taylor sie vergewaltigte und die anderen dabei zusahen und dass dort schon seine Zwillinge heranwuchsen, da konnte ihn zunächst die Liebe retten. Mit seiner Vermutung, dass Dr. Taylor die Zwillinge getötet hatte, lag er richtig und auch mit der Vermutung, dass Dr. Taylor aus purer Angst vor einer Erpressung die Zwillinge umbrachte. Und er muss auch geahnt haben...“, sagte Popskin, als sich plötzlich, „gong, gong, gong“ sein iPhone meldete. „Er ist der Vater“, sagte er ohne Begrüßung und sah Gloria Stuart an.

„Was für eine Tragik“, sagte sie und kraulte Miss Jane, die mit menschlichen Wirrnissen nichts anfangen konnte.

„Ich erwartete keinen Anruf von meinem Vater, Chief, nicht jeder wird so alt wie Queen Mum. Ich sprach nur gerade mit Mrs. Stuart und sagte ihr, dass Jenkins der Vater der Zwillinge war. Chiefinspektor, wir werden pünktlich vor dem Haus stehen.“

„Pünktlich?“, fragte Mrs. Stuart nach.

„Packen Sie ein paar Sachen, Scotland Yard bezahlt uns morgen einen Flug nach Sellafield zur Beerdigung von Ben David und Robert Jenkins.“

„Ben David, ja, aber auf die Beerdigung eines Mörders?“, zweifelte Mrs. Stuart.

„Ich sprach mit Pfarrer Hatley und er meinte, dass jeder Seele im Tod vergeben werden muss, und vielleicht finde ich nachts Ruhe, denn die Bilder gehen mir nicht aus dem Sinn“, sagte Popskin und sann kurz nach, „außerdem können wir beide uns ein paar Tage Erholung gönnen und die Gegend um unser Hotel ist teilweise so einsam, dass mein Buckel dort bestimmt nicht jucken wird. Zudem würde Helen David Dich gerne kennenlernen.“

„Wunderbar!“

„Ich rufe dann noch Mrs. Tippelborn an, damit die Katze nicht vom Fleisch fällt.“ Und Popskin machte eine Pirouette um sich selbst, was er lange nicht mehr getan hatte. Damit bewies er sich den Rest an Jugendlichkeit, die noch in ihm steckte.

„Eine Frage liegt mir noch auf der Zunge“, sagte Gloria Stuart im Gehen: „Wieso trug dieser Jenkins eine Waffe auf dem Polizeirevier? Kann man da so einfach mit einer Waffe hereinspazieren, nachdem im Mai dort oben ein Amokschütze zehn Leute umgebracht hat?“ „Verdrängt, man hat es einfach verdrängt. Verrückt, nicht, da gibt es einen immer perfekteren Sicherheitsapparat und sie verdrängen es…“


Popskins Mordfälle

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