Читать книгу Popskins Mordfälle - Detlef Romey - Страница 8
ОглавлениеKeine Gewalt ist von Dauer
Leonardo da Vinci 1452.1519
Ein alter Fall
Das Leben ging in Headcorn in der Grafschaft Kent seinen gewohnten Gang und doch gab es etwas Ungewöhnliches. Mr. Jonathan Popskin wollte seinen 72. Geburtstag feiern. Eingeladen hatte er seine Teerunde, die jeden Freitag bei ihm erschien. Dabei waren Dr. Peter Varish, ein gut aussehender Junggeselle in den besten Jahren, und Pfarrer Hatley. Der lustige Pfarrer war ein Pfundskerl. Er nahm es mit den Tugenden nicht so genau und sein Bauch ähnelte stark dem Buckel von Mr. Popskin. Dabei war auch Mrs. Tippelborn, die Bibliothekarin, eine alte, quengelige Jungfer. Und schließlich seine reizende, aber stille Nachbarin Mrs. Stuart. Sie war Witwe und nur ein Jahr jünger als er.
Mr. Popskin bat Dr. Varish und Pfarrer Hatley, niemandem in Headcorne etwas von seinen kleinen detektivischen Ausflügen zu erzählen. Schwieriger war es in dieser Beziehung mit Mrs. Tippelborn. Sie galt als schwatzhaft und wusste um Popskins kriminalistische Schwäche. Anderseits hatte sie bisher nicht über ihn geplaudert, was ihn grübeln ließ.
Jonathan Popskin sah auf die Uhr. „Mm, es ist gleich fünf Uhr. Der Tee ist fertig. Mein Kuchen riecht göttlich.“ Im Wohnzimmer zündete er Kerzen an und rieb sich vergnügt tänzelnd die Hände. „Und das schönste Geschenk wird noch kommen!“ Er wollte die ständige Neugierde seiner Gäste befriedigen. Vom Buckel über seine frühere Arbeit als Pathologe am St. Mary Hospital in London. Und dann gab es da noch die Teestunde mit Queen Mum. But last not least wollte er von einem alten Fall erzählen, bei dem er zu seiner eigenen Überraschung in den letzten Monaten neue Erkenntnisse gewonnen hatte. Die Geschichte in London war ein purer Zufall. Er wollte an seinem Ehrentag einen unbekannt gebliebenen Zeugen überführen. Es ging damals, 1960, um einen brutalen Mord an einem alternden schwulen Ballettmeister.
Nach und nach trudelten alle Gäste ein. Man schenkte Mr. Popskin ein dickes Buch über Leonardo da Vinci. Peter Varish hatte den Film „Der da Vinci Code“ gesehen und überzeugte alle anderen, Mr. Popskin das Buch zu schenken. Nur Mrs. Elizabeth Tippelborn war anfangs nicht begeistert, da es mit zehn Kilo das schwerste und größte Buch sei, welches sie je gesehen habe. Sie war schlichtweg neidisch. Ein solches Exemplar hätte sie gern in ihrer Bibliothek. Mrs. Stuart brachte Blumen mit. Pfarrer Hatley einen Sherry, der im Laufe der Feier verköstigt wurde. Irritierend war nur, dass Mr. Popskins Bügelbrett im Wohnzimmer stand. Darunter ein Korb mit Wäsche. Darauf ein Bügeleisen. Mrs. Stuart rümpfte die Nase. „Junggeselle“, murmelte Pfarrer Hatley.
Es wurde zunächst über dörfliche Angelegenheiten geplaudert. Überwiegend ging es um Entscheidungen des Gemeinderates und über das nächste Fest in der Village Hall. Dr. Varish erregte sich über das Ober- und Unterhaus und Pfarrer Hatley ließ einen verstorbenen Mitbürger aufleben.
„Prost! Darauf einen Sherry.“ Dr. Peter Varish erzählte, dass er eine Frau beim Bowling kennengelernt hätte und Mrs. Tippelborn wolle einen Kaffeenachmittag in der - in „ihrer“ Bibliothek ausrichten. Mr. Popskin monologisierte danach über seinen Beruf als Pathologe. Draußen war es dunkel geworden, ein Sturm begann. Er berichtete vom komplizierten Verhältnis zwischen Justiz und Medizin. Ab und an fügte er in seinen Ausführungen gruselige Leichenfunde ein, an denen er mit Freude arbeiten durfte, weil seine Ergebnisse einen Mörder überführen könnten. Alle staunten, bewunderten ihn. Auch dem Kuchen wurde gut zugesprochen.
Nachdem Mr. Popskin einen weiteren Tee angeboten hatte, holte er richtig aus. Er begann mit einer Demonstration. Er schrubbte seinen Buckel am Türrahmen. „Verdammt, aber er juckt.“ Er sagte nicht, was das für ihn in der Regel zu bedeuten hatte. Immer, wenn er jucken würde, läge nämlich etwas Unheilvolles in der Luft. Es folgte eine Offenbarung.
„Vor über 40 Jahren ist ein Mord an einen Ballettmeister ungesühnt geblieben!“ Das machte alle neugierig. Als er jedoch davon anfing, dass in dieser Runde ein Zeuge sitzen würde, der den Täter endlich überführen könnte, waren alle schockiert. Es entstand ein heilloses Durcheinander, Mrs. Tippelborne wollte gar sofort aufbrechen, doch ein heftig einsetzender Regen hielt sie ab. Pfarrer Hatley beschwor den lieben Gott herbei. Dr. Varish schaute jedem tief in die Augen. Wer könnte der- oder diejenige sein? Gar er selbst? Wer könnte sich schon Jahrzehnte zurück erinnern? „Ich war acht Jahre alt, Jonathan!“ Mr. Popskins Nachbarin Gloria Stuart beschwichtigte und meinte, dass Mr. Popskin erst mehr dazu sagen sollte.
Plötzlich donnerte es draußen. Blitze zuckten auf. „Schauderhaft, Mr. Popskin. Ist das etwa ein dummer Trick? Soll sich jetzt jemand freiwillig melden?“, sagte Mrs. Tippelborn trocken.
„Mrs. Stuart.“ Nachdem Mr. Popskin dies laut ausgesprochen hatte, blickten alle sofort auf sie und hielten sie für die Zeugin. Entsetzen und auch Erleichterung durchfuhr Dr. Varish, Pfarrer Hatley und Mrs. Tippelborn. „Mrs. Stuart, wo lebten Sie 1960?“, fragte Mr. Popskin. „In London!“, sagte sie und stierte dabei ihre Teetasse an.
“Erinnern Sie sich eventuell an den äußerst spektakulären Fall des 68-jährigen Ballettmeisters Jack Hopsen?“
„Nein!“.
„Er lag damals halb verkohlt unter seiner eigenen Wäsche auf einer Matratze. Beim Obduzieren stellte ich damals fest, dass die Art und Ausdehnung seiner Weichteilblutungen am Kopf nur von einem Bügeleisen stammen konnten.
„Deshalb das Bügeleisen“, meinte Pfarrer Hatley und blickte auf den Wäschekorb.
„Jack Hopsen starb aber nicht daran, sondern wurde von seiner eigenen Wäsche erstickt. Dann stellte der Mörder das heiße Eisen zwischen die Textilien. Gerade rechtzeitig konnte die Londoner Feuerwehr den grausigen Fund entdecken, bevor er gänzlich verbrannt wäre. Jack Hopsen befriedigte seine Einsamkeit bei jungen Männern und beschäftigte sich mit orientalischem Tanz. Ein Freund, der tags zuvor bei ihm gewesen war, versicherte dem damaligen Chefermittler, dass auf Jack Hopsens Nachttisch ein ausgeliehenes Tanzbuch von Max Niehaus lag. „Himmel, Hölle und Trikot“, so der Titel. Hopsen verließ seine Wohnung nicht mehr. Dann besuchte ihn sein Mörder. Er musste ihn gekannt haben. Die Tür wies auf keinen Einbruch hin. Vielleicht war er ein Tänzer? Man erfuhr nicht, warum er ermordet wurde. Vielleicht verlangte sein Liebhaber zu viel Geld und es kam zu einem Streit? Wir wissen aber, dass dieses Buch spurlos verschwunden ist.“ Dr. Varish meldete sich zu Wort. „Dann hat der Mörder vielleicht heute noch das Buch! Woher stammte es? Hat er es irgendwo gekauft, geliehen?“
„Man ging der Sache nach, aber keiner der vielen Bibliotheken in London kannte dieses Buch, bis auf...“, jetzt knisterte die Spannung im Raum. Pfarrer Hatley trank einen doppelten Sherry. „...die Bibliothek der Schule für orientalische und afrikanische Wissenschaften. Dort, meine Freunde, vermisste man das wenig gedruckte Buch!“
Jonathan Popskin erhob sich. Er schritt an seine beschauliche Bücherwand und griff nach einem ziemlich abgegriffenen Exemplar. Dann legte er es unvermittelt auf den Tisch. „Himmel, Hölle und Trikot.“
Dr. Varish schnellte hoch. Pfarrer Hatley bekreuzigte sich.
Gloria Stuart blickte unverwandt zur Seite, zu Mrs. Tippelborn.
„Vor ein paar Wochen fand ich das Buch hier in unserer Bibliothek. Ich fragte Ihre junge Mitarbeiterin, Mrs. Tippelborn, ob dieses Buch im hiesigen Verzeichnis steht. Sie verneinte. Dann fuhr ich nach London. Ich besuchte dort die Schule für orientalische und afrikanische Wissenschaften.“
Urplötzlich krachte und blitzte es draußen und Mrs. Tippelborn sackte zusammen. „Ja, ja, hören Sie auf. Ich arbeitete damals dort und verlieh das Buch an diesen Mr. Hopsen...“.
„Und ein junger Mann brachte es zurück. Das Buch nahmen Sie mit. Sie ließen den Abgabetermin offen. Warum schützten Sie ihn?“
Elizabeth Tippelborn schluckte und begann weinend zu erzählen. Sie fiel fast vom Stuhl. Dr. Varish stütze sie, dann hob sie den Kopf. „Von wegen alte Jungfer, wie alle in Headcorn glauben. Ich wurde von meinem Vater vergewaltigt, versteht Ihr?“, schrie sie. „Und ich bekam ein Kind, von dem niemand etwas wissen durfte. Mein Mann gab es in ein Heim. Außerhalb von London. Er sagte, man habe uns dieses Kind vor die Tür gelegt.“
Mr. Popskin ging zu ihr und beruhigte sie. „Wie und wann sahen Sie ihn wieder?“
„Am Tag, als er das Buch brachte. Ich wusste dass er jeweils einen Leberfleck unter den Augen hatte. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte mir, in welchem Heim er groß geworden sei. Ich verschwieg, dass ich seine Mutter sein könnte. Er berichtete mir weiter, dass er Tänzer sei, und deshalb nahm ich das Buch mit, um zu erfahren, was ihn interessiert. Ich wollte ihm dadurch nah sein. Dann las ich am Tag drauf von dem Mord an Mr. Hopsen und dem verschwundenen Buch. Ich konnte nicht zur Polizei. Er war doch mein Sohn!“, schluchzte sie.
„War?“, fragte der Pfarrer.
„Er starb zwei Jahre später, 1962, bei einer Tournee in Newcastle. Ich besuchte alle seine Tanzvorstellungen am Londoner West End Theater. Als er nicht mehr auf den Besetzungslisten stand, fragte ich nach.“
„Aber er muss nicht unbedingt der Mörder gewesen sein. Vielleicht bekam Hopsen noch mehr Besuch!“, tröstete sie Mr. Popskin.
„Doch, er war der Mörder! Als er das Buch abgab, hatte er Verbrennungen an der rechten Hand. Was machen Sie jetzt mit mir?“
„Nichts! Hopsen hat keine Familie und Ihr Sohn ist ebenfalls tot! Über das Warum kann man nur spekulieren - und wem nützt es noch?“ Alle schwiegen lange und lauschten dem Regen, der an die Fenster prasselte. „Hört zu! Gott allein war Zeuge dieser Geburtstagsfeier“, sagte Pfarrer Hatley und blickte alle streng an. Eine noch längere Stille setzte ein, bis Mr. Popskins Magen gluckste. „OK, dann erzähle Ich Euch jetzt die Geschichte von Queen Mums hochprozentigem Tee!“ sagte Jonathan Popskin.