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1 Abreise
ОглавлениеMartin Schöller hatte gelernt, sehr ökonomisch zu schlafen. Wann immer sich die Gelegenheit bot, egal wo. Und wo hätte es eine bessere Gelegenheit gegeben als auf einem zwölfstündigen Langstreckenflug von Deutschland nach Brasilien? Auf dem befand er sich jetzt, nachdem ihn sein Arbeitgeber überraschend aus dem Winterurlaub geholt hatte. Es sei ja nur für drei oder vier Wochen, war ihm am Telephon gesagt worden. Dann könne er ja den verpaßten Skiurlaub nachholen. Nerven hatten die Leute!
Zwei Stunden später jedenfalls saß er mit seinem eilig gepackten Koffer im Zug von Neustadt in Holstein nach Hamburg, wo man ihm in dem prächtigen Verwaltungsgebäude der Reederei an der Binnenalster erklärte, was es mit dem Anruf vom Vormittag auf sich hatte. Die Erläuterungen waren kurz und knapp und bereits eine knappe halbe Stunde später stand er wieder auf der Straße, wo ein Taxi auf ihn wartete, das ihn nach Fuhlsbüttel zum Flughafen brachte.
Auf der Fahrt durch die wie immer chronisch verstopfte Hamburger Innenstadt hatte er Gelegenheit, die Umstände seines ungewöhnlichen Einsatzes zu verdauen. Auf einem der Passagierschiffe waren gleich mehrere nautische Offiziere wegen einer Fischvergiftung ausgefallen. Ersatz mußte her, und was lag da näher, als sich nach einem Mitarbeiter umzusehen, der sich im Urlaub befand und zudem noch über die nötigen Patente zum Führen von Seeschiffen verfügte.
Martin hatte diese Patente. Bevor er sich für sechs Wochen vom Dienst verabschiedet hatte, war er als erster nautischer Offizier auf der “Essen-Express“ gefahren, einem Containerschiff mittlerer Größe mit sechzehn Mann Besatzung. Jetzt sollte er die gleiche Position auf einem Passagierschiff antreten, mit über hundert Mann Besatzung. Und das alles mit knapp dreißig Jahren. Man konnte ihm ansehen, daß er sich äußerst unwohl fühlte in seiner Haut.
Andererseits sah er diese Aufgabe auch als Bestätigung seiner bisherigen Arbeit an. Wen schickte eine Reederei schon in diesem jungen Alter als Erster Offizier auf eines ihrer renommiertesten Passagierschiffe? Klein aber fein war es und wurde als “Expeditionskreuzfahrtschiff“ bezeichnet. Er fragte sich ernsthaft, wie man wohl “Expeditionen“ für eine Klientel im Alter zwischen fünfzig Jahren und scheintot organisierte? Jedenfalls schien es eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben, denn die Gewinne des kleinen Schiffes, die in den Jahresberichten der Reederei ausgewiesen waren, welche Martin regelmäßig studierte, waren bemerkenswert. Naja, man würde sehen.
Vor der Arbeit auf dem Schiff hatte er keine Angst. Zumindest was den nautischen Teil seiner Aufgabe anging. Da war es schon schwieriger gewesen, die alte “Essen-Express“ in den engen Hafenbecken asiatischer Häfen mit ihrem chaotischen Verkehr herumzubugsieren. Immerhin hatte der Alte ihn machen lassen und war ihm nur im äußersten Notfall beigesprungen, um eine unmittelbar drohende Ramming abzuwenden. Danach war dann jedesmal eine Flasche Brunello fällig gewesen, die er dem Kapitän hatte ausgeben müssen. Der Alte liebte italienischen Rotwein, und nach den ersten beiden dieser Hilfsaktionen hatte Martin in weiser Voraussicht auf kommende Unbilden einen stattlichen Vorrat dieses toskanischen Weines mit an Bord. Gut versteckt, wohlweislich, damit der Alte erst gar nicht in Versuchung kam, sich gelegentlich auch ohne eines verpatzten An- oder Anlegemanövers seines schlaksigen Ersten an dessen Weinvorrat zu bedienen. Zuzutrauen wär ihm sowas allemal, inklusive eines grinsend vorgetragenen Geständnisses nach getaner Tat.
Ja, er war schon ein Pfundskerl, sein Kapitän. Und ein ausgezeichneter Lehrmeister noch dazu. Martin war gespannt, wie er mit seinem neuen Alten zurechtkommen würde. Über die Kapitäne von Kreuzfahrtschiffen hörte man ja so allerlei. Und meistens nichts Gutes. Primadonnen allesamt, die mit ihrem Ego zusammen nicht in eine Kabine paßten, so sagte man. Ob das nun zutraf oder nicht, würde er jedenfalls bald genug in Erfahrung bringen.
Ebenso wie den zweiten Teil seiner Aufgabe: den Umgang mit anspruchsvollen, verwöhnten und erwartungsfrohen Passagieren. Davon hatte er nun überhaupt keine Ahnung. Passagiere an Bord, sowas hatte es auf der “Essen-Expreß“ nie gegeben. Und auch nicht auf den anderen Schiffen, auf denen er bislang gefahren war. Zum Glück würde er keine Reden halten müssen. Soviel wußte er immerhin. Das war Sache des Alten. Und wenn ihn die Passagiere an Deck oder auf der Brücke ansprachen, damit würde er schon fertig werden, sagte er sich. Er war zwar nicht gerade ein Gesellschaftstier, aber auf den Mund gefallen war er auch nicht. Trotzdem fragte er sich, warum die Verantwortlichen der Reederei in Hamburg sich ausgerechnet ihn, einen halbgaren Ersten von einem uralten Containerschiff ausgesucht hatten, als Offizier auf einem Nobeldampfer auszuhelfen? Daß diese Leute ihn womöglich keineswegs für halbgar hielten, auf die Idee kam er nicht. Und schon gar nicht, daß sein Kapitän bei dieser Personalsuche seine Hand im Spiel gehabt haben könnte. Das hatte er aber gehabt, und sein Einfluß war erheblich gewesen. Aber das mußte “der Bengel“ ja nicht unbedingt wissen, hatte er den Hamburgern zu verstehen gegeben.
Also hielten sie den Mund, was das Auswahlverfahren anging. Wozu sie allerdings nicht schwiegen, war sein Erscheinungsbild. Fest davon überzeugt, zur Aushilfe auf einem Frachter aus dem Urlaub geholt worden zu sein, war Martin in seiner Frachtschiffoffiziersuniform in der Hamburger Zentrale aufgekreuzt: Jeans und Pullover. Eine Uniform hatte er natürlich auch, aber die befand sich tief unten im Koffer. Das erklärte er den Leuten in Hamburg auf deren Nachfrage, woraufhin sie ihn nachdrücklich anwiesen, beides schleunigst auszutauschen und zwar noch bevor er das Flugzeug in Hamburg bestieg. Schließlich gehe es nicht an, daß er als Offizier auf einem Kreuzfahrtschiff und Repräsentant der Reederei herumlaufe wie ein Bahnhofspenner. Der Mann hatte tatsächlich “Bahnhofspenner“ gesagt. Na, also…
Aber Befehl war Befehl, und so hatte er sich in der Lounge des Flughafens artig umgezogen und zog nun in seiner dunkelblauen Uniform die Aufmerksamkeit der Leute auf sich. Was ihm ganz und gar nicht behagte. Obwohl er sich auch sagte, daß er sich somit gleich daran gewöhnen konnte, im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen, wie das auf dem Schiff wohl ständig der Fall sein würde, sobald er sich außerhalb seiner Kabine befand. Und es ging auch gleich los, als ihn eine ältere Dame ansprach, ob er diesen Flug durchführen würde.
„Nein, gnädige Frau“, hatte er geantwortet und seine Mütze dabei gelupft, „ich bin kein Pilot, ich bin Seefahrer.“
Sie hatte ihn etwas indigniert angesehen und war weitergegangen.
Dann wurde sein Flug aufgerufen. Er würde den Rest dieses und den größten Teil des nächsten Tages in Flugzeugen verbringen. Zuerst von Hamburg nach München, dann weiter nach Sao Paulo und schließlich noch ein dritter Flug nach Santiago de Chile. Von dort aus ging es direkt weiter zum Hafen nach Valparaíso, wo das Schiff seit nunmehr drei Tagen an der Pier lag, unfähig, die Reise zu beginnen, mangels diensttauglicher Offiziere. Es pressierte also. Hoffentlich waren die Flüge pünktlich, und er verpaßte keinen seiner Anschlüsse.
Sie waren es. Pünktlich landete die riesige Boeing 777 der brasilianischen TAM auf dem Flughafen in Santiago de Chile. Paß- und Zollkontrolle gingen reibungslos und schnell, so daß er schon eine knappe halbe Stunde nach der Landung die Empfangshalle des Flughafens betrat, wo er in einem Meer von hochgehaltenen Schildern jenes mit dem orange-blauen Logo seiner Reederei sofort entdeckte. Auch das hatte also geklappt. Der Agent aus Valparaíso erwartete ihn schon.
In seinem rudimentären Spanisch, das er sich inzwischen angeeignet hatte, versuchte er eine Begrüßung, nur um dann zu erfahren, daß der Agent der deutschen Sprache durchaus mächtig war. Etwas holprig vielleicht, aber um etliche Male besser als er selbst des Spanischen. Somit war für ausreichende Verständigung gesorgt. Und auch für die Konversation auf der knapp zweistündigen Fahrt vom Flughafen in Santiago zum Seehafen in Valparaíso. Die hätte zwar für den maulfaulen Martin durchaus etwas weniger umfangreich ausfallen dürfen, aber immerhin war er bei der Ankunft hinreichend gut informiert über die Vorzüge des chilenischen Weißweins aus dem Casablanca Valley, in das man auf dem Weg nach Valparaíso von der Autobahn aus hineinsehen konnte.
***
Der Schock holte ihn beinahe von den Füßen. Verursacher war der Hoteldirektor des Schiffes, der ihn unten an der Gangway erwartete und mit den Worten begrüßte:
„Willkommen auf der “Hanseatic“, Herr Kapitän.“
Das selten dämliche Gesicht, daß Martin nach dieser Ansprache gemacht hatte, sollte nicht nur für reichlich Gesprächsstoff auf dem Schiff sorgen, sondern legendär werden. Den Hoteldirektor beeindruckte es jedoch nicht eine Sekunde lang. Ungerührt fuhr er fort:
„Darf ich Ihnen ihre Kabine zeigen?“
Er durfte. Jedenfalls nahm er das ganz selbstverständlich an und stieg die Gangway hinauf, ohne Martins Antwort abgewartet zu haben. Martin taumelte hinter ihm her wie ein Betrunkener, der einem Brummkreisel entstiegen war. Mit leeren Händen, denn längst hatte sich irgendjemand seines Koffers bemächtigt, ohne daß er es bemerkt hatte. Auch die Leute, Besatzung und Passagiere, die ihn nach dem Betreten des Schiffes begrüßten, sah und hörte er nicht. Also erwiderte er folgerichtig keinen ihrer Grüße.
„Na, das scheint aber ‘n komischer Kauz zu sein“, war die einhellige Meinung der Umstehenden. „Und so jung noch. Also, das kann ja was werden!“
Einen ersten Eindruck hatte Martin hinterlassen. Und keinen allzu positiven.
Noch immer völlig perplex ließ er sich in den erstbesten Sessel fallen, gleich nachdem er seine überraschend geräumige Wohnung auf dem Brückendeck betreten hatte. Der Hotelmanager fackelte nicht lange, sondern ging an einen Schrank, holte eine Flasche Cognac heraus und goß einen großzügigen Schluck davon in ein Glas.
„Hier, trinken Sie das, damit Sie sich mal wieder einkriegen, Herr Kapitän. Üblich ist sowas normalerweise nicht am hellichten Tag, aber in diesem Fall, denke ich, ist es sogar nötig.“
Er drückte Martin das Glas in die Hand. Der nahm einen kräftigen Schluck, verschluckte sich, hustete und sah dann seinen Gegenüber der inzwischen in einem der anderen Sessel Platz genommen hatte, fassungslos an.
„Soll das ein Witz sein?“ krächzte er. Der Cognac brannte noch immer in seiner Kehle. „Wenn es einer ist, dann ist er ziemlich blöde. Und wenn’s keiner ist, dann ist es immer noch völlig daneben. Ich hab gedacht, hier ist die Stelle des Ersten zu besetzen, aber doch nicht die des Kapitäns.“
Der Hoteldirektor lachte. „Ist sie ja auch. Oder sie war es, denn inzwischen haben wir einen der beiden Zweiten zum Ersten befördert. Den Kapitän konnten wir allerdings nicht ersetzen. Soweit ist noch keiner von denen. Also brauchten wir einen von außerhalb. Einen mit dem richtigen Patent. Und da ist die Wahl wohl auf Sie gefallen. Sie haben doch ein A6-Patent?“
Martin nickte. „Na klar hab ich. Sonst hätt‘ ich doch als Erster gar nicht fahren dürfen. Insofern ist das, was Sie hier mit dem Zweiten veranstalten auch nicht ganz regelkonform.“
Sein Gegenüber winkte ab. „Ach was, in der Not frißt der Teufel Fliegen. Jedenfalls stelle ich fest, Schiffchen fahren können Sie also.“
„Sicher kann ich. Aber Containerfrachter und sowas. Von einem “Fleischfrachter“ war nie die Rede. Das ist doch ganz was anderes.“
„Also bei allem Respekt, Herr Kapitän, den “Fleischfrachter“ möchte ich mir aber jetzt ganz ausdrücklich verbitten. Natürlich weiß ich um die despektierlichen Redensarten von Euch Frachtschiffern über diese, unsere Art von Transportmitteln. Aber bitte gewöhnen Sie sich daran, daß es sich hierbei um ein Kreuzfahrtschiff handelt. Und noch dazu eines, das mit fünf Sternen eingestuft ist und somit eine Gattung von Passagieren befördert, die eine Bezeichnung als “Fleischfracht“ keinesfalls goutieren würden.“
Martin zog den Kopf ein, schnitt eine Grimasse und sah den Mann in dem Sessel gegenüber an. Der Hoteldirektor war ein stattlicher Hüne, schätzungsweise Anfang sechzig mit vollem, grau meliertem Haar und einem gewaltigen Schnauzer, der verschmitzt lächelnd aus seiner tadellos sitzenden Uniform herauslugte.
„Mein Name ist übrigens Gabor“, sagte er nach einer Pause. „Vorname Willy. Von Geburt Österreicher, jetzt Weltbürger. Ich fahre seit dreißig Jahren auf Kreuzfahrtschiffen und bin seit fuffzehn Jahren Hoteldirektor auf den Schiffen unserer verehrten Reederei.“
„Na, dann kennen Sie sich ja reichlich gut aus“, antwortete Martin, sprang auf und streckte Gabor die Hand hin. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Und ich freue mich noch mehr, daß mir einer mit ausreichend Erfahrung zur Seite steht. Denn von den Sitten auf einem Fleisch…, hrm, einem Kreuzfahrtschiff hab ich echt keinen blassen Schimmer. Ich hoffe, Sie können mir das beibringen.“
Gabor nahm Martins Hand und drückte und schüttelte sie. „Kann ich und werde ich. Und darum nochmal, ich heiße Sie auf der “Hanseatic“ ganz herzlich willkommen. Zum “Gesellschaftslöwen“ kann ich Sie machen, Herr Schöller. Das Schiffchen fahren müssen Sie aber schon alleine.“
„Ach, das soll mein geringstes Problem sein“, winkte Martin ab. „Ich sag ja, Ihre “Hanseatic“ ist ein gutes Stück übersichtlicher als die gute, alte “Essen-Express“, auf der ich bis jetzt gefahren bin. Wann soll’s denn eigentlich losgehen?“
„Soweit ich weiß, müssen wir den Liegeplatz bis spätestens Mitternacht geräumt haben. Aber das müssen Sie mit Ihren Offizieren besprechen. In siebzehn Tagen wär’s gut, wenn wir dann in Papeete auf Tahiti ankommen würden, diese Reise planmäßig zu Ende geht und von wo aus die Törns planmäßig weitergehen sollen. Wie’s dazwischen aussieht, darüber müssen wir noch reden.“
„Hm“, machte Martin, sah auf seine Armbanduhr und dachte einen Moment nach. „Also gut. Dann schlage ich vor, wir legen um dreiundzwanzig Uhr ab. Jetzt ist es kurz vor sechs, das gibt mir genügend Zeit, mich bei der Besatzung vorzustellen und mit denen auszumachen, wohin wir überhaupt fahren.“
Gabor klatschte in die Hände. „Ausgezeichnet. In weiser Voraussicht habe ich alle Passagiere schonmal für einundzwanzig Uhr an Bord zurückbestellt, die Besatzung schon gleich um achtzehn Uhr. Und für einundzwanzig Uhr dreißig steht die Begrüßung des Kapitäns auf dem Programm. Das dürfte sich zeitmäßig ausgehen.“
„Die Was steht auf dem Programm?“ Martin sah den Hoteldirektor entsetzt an.
„Die Begrüßung der Passagiere durch den Kapitän“ erklärte Gabor. „Die Leute wollen schließlich wissen, wie das hier jetzt weitergeht und, viel wichtiger noch, wer denn jetzt der neue Kapitän ist. Was haben Sie denn gedacht?“ Er legte Martin beruhigend die Hand auf die Schulter. „Aber keine Sorge, das kriegen wir schon hin. Ich helfe Ihnen natürlich. Nur die Begrüßung, die müssen Sie schon alleine machen.“
Martin pustete die Backen auf. „Mein lieber Scholli, da haben die Hamburger mich ja vielleicht in was reingeritten.“
Lachend gab der Hoteldirektor seinem neuen Kapitän einen Klaps auf die Schulter.
„Nehmen Sie’s nicht so schwer, Herr Schöller. Kommen Sie, ich bringe Sie jetzt mal auf die Brücke.“
***
Genau dreieinhalb Stunden später betrat Martin mit seinen Offizieren und dem Hotelmanagement im Schlepptau die Bühne der Explorer Lounge, des größten Gesellschaftsraumes an Bord der Hanseatic. Die Lounge war bis auf den letzten Platz besetzt. Alle einhundertdreiundfünfzig Passagiere waren gekommen, um sich den neuen Kapitän anzusehen. Was man vom ihm zu halten hatte, wußte man inzwischen bereits. Martins Auftritt nach seiner Ankunft hatte sich herumgesprochen. Der Neue war ein stoffeliges, arrogantes Bürschchen, das nicht einmal ordentlich ‚Guten Tag‘ sagen konnte. Obwohl, einigermaßen fesch sah er ja schon aus in seiner Uniform, das mußte man zugeben. Eine Kapitänsuniform war das allerdings nicht, in der er steckte. Dreieinhalb Streifen nur. Die Kreuzfahrterfahrenen hatten es sofort bemerkt. Was das wohl jetzt wieder zu bedeuten hatte?
Martin stellte sich an den vorderen Rand der Bühne und wartete, bis die Anderen um ihn herum Aufstellung genommen hatten. Er blinzelte in die auf ihn gerichteten Scheinwerfer.
„Ich weiß nicht ob das Absicht ist“, begann er, als das allgemeine Gemurmel sich gelegt hatte, „aber diese dämlichen Lampen blenden mich dermaßen, daß ich Sie von hier aus überhaupt nicht sehen kann.“
Er trat von der Bühne herunter ein Stück auf die davorliegende Tanzfläche, aus dem Bereich der Scheinwerfer heraus. Von dort aus sah er in die Runde. Erwartungsvolle Gesichter allenthalben.
„So, jetzt kann ich Sie auch sehen. Sie mich vielleicht nicht mehr ganz so gut, aber bei meiner mangelnden Schönheit dürfte das kaum ein Problem darstellen.“
Vereinzelt wurde gelacht. Verhalten zwar, aber immerhin.
„Mein Name ist Martin Schöller und aufgrund eines unerfindlichen Ratschlusses der Hohen Priester unserer verehrten Reederei hat man mich zum neuen Kapitän auf Ihrem wunderschönen Schiff bestellt.“ Er streckte die Arme aus. „Wie Sie vielleicht an der Anzahl und der Größe der Kolbenringe hier auf meinen Ärmeln gesehen haben, bin ich eigentlich gar keiner. Jedenfalls war ich noch keiner, als ich vor einigen Stunden hier ankam. Ich hatte nämlich nicht den Hauch einer Ahnung, was mich hier erwarten würde. Den hab ich zwar jetzt, viel mehr aber auch nicht. Immerhin hat sich inzwischen die Schneiderin an Bord bereiterklärt, die Sache mit den Kolbenringen über Nacht in Ordnung zu bringen. Das ist ja schonmal ein Anfang. Was den Rest angeht, nun, darüber werden wir noch zu reden haben. Zumindest weiß ich schon, wann wir hier losmachen und wohin wir als nächstes fahren.“
Er sagte es ihnen. Dann gab er einige Erklärungen zu seiner Person und bat um Entschuldigung für seinen verpatzten Auftritt am Nachmittag. Je länger er redete, desto öfter wurde er von Beifall unterbrochen. Vor allen Dingen bei der Vorstellung seiner Offiziere, deren Namen er von einem Zettel ablas, den Gabor ihm vorher zugesteckt hatte. Als er den Leitenden Ingenieur vorstellte, wies er mit dem Daumen auf ihn, nannte seinen Namen und sagte dann:
„Also, das ist der Chief hier an Bord. Blöd, daß ausgerechnet ich den vorstelle. Ich kenn den Typ überhaupt nicht. Als ich vorhin kurz unten in der Maschine war, hat er sich wohlweislich hinter seinen Dieselmotoren verkrochen, und ich hab ihn gar nicht gefunden. Aber ich geh mal davon aus, daß er der Chief ist. Er riecht nämlich genau so wie der Chief auf der “Essen-Express“, nur daß der hier ein dezenteres Parfüm benutzt, um den unvermeidlichen Duft von Maschinenöl zu übertünchen, der allen Chiefs der Welt immer und ewig anhaftet.“
Die Leute prusteten los und applaudierten. Mehr und mehr schienen sie sich für den neuen “Alten“ zu erwärmen. Als er dann zum Schluß kam, hatte er die meisten von ihnen auf seiner Seite. Er stellte sich neben den Hoteldirektor.
„So, verehrte Gäste, und den hier habe ich mir bis zum Schluß aufgehoben. Willy Gabor, unser Hotelmanager. Sie kennen ihn längst, und ich jetzt auch. Eigentlich sollte er Theodor mit Vornamen heißen, das Gottesgeschenk. Denn sowas Ähnliches ist er. Für mich jedenfalls, weil er mich so nett und freundlich empfangen hat und mir erstmal kräftig aus der Bredouille rausgeholfen hat. Deshalb bin ich auch zuversichtlich, daß wir eine schöne Reise haben werden. Ob das eine Expeditionskreuzfahrt werden wird, das weiß ich noch nicht. Aber eine Abenteuerreise wird’s auf jeden Fall, das kann ich Ihnen schonmal versprechen. Für mich jedenfalls. Und darauf möchte ich jetzt mit Ihnen anstoßen.“
Der Beifall, den es diesmal gab, war lang anhaltend. Martin prostete den Leuten zu, nahm einen winzigen Schluck aus seinem Glas und verließ dann zur Musik der Bordkapelle durch die Reihen der immer noch klatschenden Passagiere die Lounge. Draußen sprach ihn der Chief an.
„Ist es wirklich wahr, daß ich so nach Maschinenöl rieche, Käpt‘n?“
Martin sah ihn an und lachte. „Quatsch. Sie doch nicht. Aber unser Chief, der hat. Erbärmlich. Wenn Sie mit dem im Schlepptau in eine Bar gegangen sind, haben sich die Mädels immer gleich ans andere Ende der Theke verzogen. Da hatten Sie keine Chance. Aber ich fand, das war ein schöner Schnokes für die Leute, und sie haben ja auch drüber gelacht. Ich hoffe, Sie nehmen’s mir nicht übel.“
„Ach was. Sowas doch nicht.“ Er streckte Martin die Hand hin. „Auf gute Zusammenarbeit.“
Martin griff danach. „Auf gute Zusammenarbeit. Das würde mich sehr freuen.“
***
Pünktlich eine Stunde vor Mitternacht gingen achtern die Leinen los. Martin stand auf dem Steuerbord-Brückennock und leitete das Ablegemanöver. Etliche Passagiere hatten sich auf dem Deck hinter der Brücke versammelt und sahen ihm dabei zu. Es störte ihn nicht. Erstens wußte er genau, was er tat, und zweitens war er so konzentriert, daß er die Leute überhaupt nicht wahrnahm.
Die wunderten sich allerdings nicht schlecht, in welchem Aufzug ihr neuer Kapitän auf der Brücke erschienen war. Da er seine Uniform inzwischen der Schneiderin zur Änderung überantwortet hatte, trug er nun wieder Jeans, wie er es gewohnt war und, weil auch seine Hemden noch mit den richtigen Schulterklappen versehen werden mußten, ein T-Shirt auf dem in großen Lettern “What shall we do with a drunken Sailor?“ zu sehen war, nebst einer eindrucksvollen Karikatur seines Konterfeis. Einige wenige der Gäste fanden das ziemlich daneben, aber die meisten amüsierten sich köstlich darüber. Immerhin hatte er seine Mütze aufgesetzt, die allerdings im Hinblick auf seine übrige Garderobe eher deplaziert wirkte.
Natürlich gelang das Ablegemanöver ohne Probleme. Obwohl sein “Alter“ diesmal nicht daneben stand, um eventuell eingreifen zu können, wenn’s brenzlig wurde. Diesmal war er selbst “Der Alte“. Aber es wurde auch nicht brenzlig. Erstens war das Schiff viel kleiner, zweitens der Hafen recht geräumig mit wenig Verkehr, drittens das Wetter geradezu ideal und viertens hatte er einen erfahrenen Hafenlotsen an Bord, der ruhig und besonnen seine Vorschläge machte.
Nachdem der Lotse von Bord gegangen war, hatte sich das Außendeck geleert. Auf der Brücke waren lediglich der Wachhabende und sein Rudergänger zurückgeblieben. Die konnte er jetzt getrost alleine lassen. Also verließ Martin die Brücke und machte sich auf die Suche nach dem Hotelmanager. Er fand ihn ein Deck tiefer in seinem Büro.
„Sagen Sie, Herr Gabor, meinen Sie, daß ich hier noch irgendwo was zu essen bekomme? Bis jetzt hab ich noch keine Gelegenheit dazu gehabt, aber allmählich hab ich doch ziemlichen Hunger.“
Gabor sah ihn kopfschüttelnd an. „Soll das ein Witz sein? Auf einem Kreuzfahrtschiff wie diesem kriegen Sie immer was zu essen. Tag und Nacht. Gehört selbstverständlich zum Service. Allemal für den Kapitän. Was wollen Sie denn?“
Martin zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Was gibt’s denn? Was hat der Smut denn gekocht?“
„Der Smut heißt hier Chef de Cuisine, und der macht Ihnen das was Sie wollen. Besser gesagt, er läßt es machen. Von dem, der gerade Dienst in der Küche hat. Also, was soll ich Ihnen bestellen?“
„Na gut. Dann einen Hamburger mit ordentlich Zwiebeln und Gurke drauf und ‘ne große Portion Pommes mit Majo. Dazu nehm ich ‘ne Cola.“
Der Hotelmanager sah seinen Kapitän entgeistert an. „Sagen Sie mal, Käpt’n, sind Sie noch ganz bei Trost? Wir sind doch hier nicht bei Mac Donald‘s. Hamburger mit Pommes und Cola. Ich glaub’s Ihnen ja wohl!“
Martin zog eine Grimasse. „Nicht? Also die Hamburger von unserem Smut waren immer erste Klasse. Aber wenn Sie hier sowas nicht haben…“
„Wissen Sie was, ich lasse Ihnen was von der heutigen Abendkarte zusammenstellen und zu Ihnen raufbringen.“
Martin nickte. „Wahrscheinlich wird das das Beste sein.“ Er wollte schon gehen, da sprach ihn Gabor noch einmal an.
„Sie haben das übrigens ziemlich gut gemacht, heute Abend.“
Martin drehte sich wieder um. „Vielen Dank für die Blumen. Aber wie man ein Schiff von der Pier wegbringt, das weiß ich schon recht lange.“
„Das mein ich nicht, das kann ich ja auch gar nicht beurteilen. Nein, ich meine Ihren Auftritt vor den Gästen. Ich glaube, die waren ziemlich beeindruckt.“
„Fanden Sie? Haben die das gesagt?“
„Einige schon mit denen ich hinterher gesprochen habe. Sie waren ziemlich angetan von Ihnen.“
„Na, das sollte mich freuen. Besonders nach meinem Auftritt am Nachmittag. Denn der war ja wohl nicht so prickelnd.“
Gabor lachte. „Kann man wohl sagen. Ebenso wie Ihr T-Shirt übrigens.“
Martin sah an sich hinunter. „Wieso, was ist mit meinem T-Shirt? Hemden hab ich im Moment keine, das wissen Sie ja. Die sind bei der Schneiderin. Und das T-Shirt hier hat mir unser Chief zum Geburtstag geschenkt. Der Alte hat sich kaputtgelacht, als ich damit aufgekreuzt bin.“
„Scheint ein Gemütsmensch zu sein, Ihr “Alter“. Hier kommt das weniger gut. Ein paar Leute haben ziemlich schräg geschaut. Und in Hamburg sind sie vermutlich auch nicht gerade begeistert, wenn sie erfahren, wie der Kapitän eines ihrer Kreuzfahrtschiffe auf der Brücke rumläuft.“
„Wollen Sie mich etwa verpetzen?“
Gabor lachte höhnisch. „Nein. Das ist gar nicht nötig. Das haben Andere schon längst getan. Sie werden sehen, spätestens morgen früh beim Aufstehen, werden Sie eine gepfefferte Nachricht diesbezüglich in Ihrer Mailbox finden. Besser, Sie stellen das heute Nacht noch klar.“
Martin folgte diesem Rat umgehend. Noch während er auf sein Abendessen wartete, schickte er eine Notiz nach Hamburg:
Sehr geehrte Damen und Herren!
Falls sich jemand über meine Kleidung am vergangenen Abend beschwert, teilen Sie ihm bitte mit, daß das eine Ausnahme war und nicht mehr vorkommen wird. Die Schneiderin hatte meine Hemden und die Uniform zum Ändern abgeholt, so daß ich leider nicht ordnungsgemäß gekleidet zum Ablegen auf der Brücke sein konnte. Das wäre bestimmt nicht passiert, wenn Sie mir gesagt hätten, was mich erwarten würde.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Schöller
“Aushilfskapitän“
Dann kamen zwei Stewards mit seinem Abendessen. Sie schoben es auf einem beheizbaren Servierwagen in seine Kabine. Lachsröllchen mit Kräuterfrischkäse; eine doppelte Kraftbrühe; Spaghetti con Fungi, Tournedos ‘Esterhazy‘ mit frischer Gänseleber, Speckböhnchen und Pommes Dauphine; Mousse au Chocolade mit frischen Früchten und eine Auswahl an Käse. Dazu je eine mittelgroße Karaffe Rot- und Weißwein.
Martin sah die beiden Stewards, die nur wenige Jahre jünger waren als er selbst, entgeistert an.
„Seid Ihr verrückt geworden? Wer soll denn das alles essen? Oder kommt noch jemand?“ Er ging zur Tür und sah auf den leeren Gang hinaus. „Scheint nicht so.“ Er drehte sich wieder zu den beiden um. „Also, was soll das?“
„Herr Gabor hat uns erklärt, Sie hätten Hunger“, erklärte der eine von ihnen in einem ängstlichen Ton. „Das haben wir dann Charley gesagt, und der hat das hier dann gemacht. Sie sollen sich’s schmecken lassen, hat er gemeint.“
„Danke schön. Aber wenn Ihr zurückgeht, dann sagt Eurem Charley, er hat ja wohl total einen an der Klatsche. Wer ist das überhaupt?“
„Charley ist heute Abend der Koch vom Dienst. Ist aber nicht viel los in der Küche. Drum hat er sich besondere Mühe gegeben. Charley ist Philippino. Und ein bißchen durchgeknallt ist der tatsächlich.“
Martin zuckte mit den Schultern. „Naja“, meinte er und deutete auf die Sessel. „Aber jetzt steht da nicht rum und setzt Euch hin. Wollt Ihr was abhaben? Das kann ja ein Mensch unmöglich alleine aufessen.“
Gehorsam nahmen die beiden auf den vorderen Kanten der Sessel Platz. Martin sah sie auffordernd an.
„Also, was ist? Wer will was?“
„Herr Kapitän, das geht doch nicht, daß wir Ihnen Ihr Abendessen wegessen.“
„Wegessen. Red doch keinen Scheiß, Mann. Ich hab’s Euch doch angeboten. Ich bin übrigens der Martin.“
Die beiden grinsten sich an. Martin winkte ab.
„Ja, ja, den bescheuerten Song kenne ich auch.“
„Tut uns leid, war nicht so gemeint.“
„Jetzt habt Euch doch nicht so. Denkt Ihr vielleicht, ich kann keinen Spaß verstehen?“
„Bei allem Respekt, Herr Kapitän, aber es geht ü-ber-haupt nicht, daß wir uns duzen. Auf kei-nen Fall.“
Martin war verdutzt. „Aber wieso denn nicht? Ich bin doch kaum ‘n paar Jahre älter als Ihr. Und außerdem, auf der “Essen-Express“ haben wir uns auch alle geduzt. Und trotzdem wußte jeder, wer wer war.“
„Wir sind hier aber nicht auf der “Essen-Express“ sondern auf einem piekfeinen Kreuzfahrtschiff, und da ist es einfach komplett ausgeschlossen, daß der Käpt’n sich mit den Kellnern aus dem Restaurant duzt. Wenn das rauskommt, ist das ein Riesenskandal.“
„Na schön, bleiben wir also beim Sie. Aber was essen können wir doch wenigstens gemeinsam. Sieht uns ja keiner. Dabei könnt Ihr mir was von den Gepflogenheiten auf dem Schiff erzählen. Oder, Sie können mir was erzählen. Nehmen Sie’s also als ein Arbeitsessen. Sowas ist ja wohl erlaubt, oder?“
Grinsend rückten sie mit ihren Sesseln zu dem Servierwagen hin. Dann verputzten sie zusammen, was Charley angerichtet hatte. Dabei stellte Martin unentwegt Fragen, die die beiden Stewards nach bestem Wissen beantworteten. Schließlich verabschiedeten sie sich wieder und zogen mit gänzlich leergegessenen Tellern ab. Von dem üppigen Essen war nichts übrig geblieben. Lediglich die beiden Karaffen mit dem Wein hatten sie nicht angerührt. Stattdessen hatte einer der beiden Cola besorgt. Martin wollte unbedingt in seiner ersten Nacht an Bord einen klaren Kopf behalten, und mit die Stewards trauten sich einfach nicht, ihrem Kapitän den Wein wegzutrinken.
Nachdem die beiden verschwunden waren, machte sich Martin auf den Weg zur Brücke. Mit Bedacht hatte er dafür gesorgt, daß der Zweite, den sie jetzt zum Ersten gemacht hatten, in dieser Nacht die Mitternacht-bis-vier-Uhr Wache hatte, denn damit ergab sich die Gelegenheit, mit dem Mann über die Fahrtroute zu reden. Von ihm erhoffte Martin sich in erster Linie Unterstützung, denn er rechnete sich aus, in ihm den erfahrensten der Offiziere vor sich zu haben. Schließlich hatte man ihn ja nicht ohne Grund zum Ersten Offizier befördert.
Es stellte sich heraus, daß Werner Schäfer, der erste Offizier, im gleichen Alter war wie Martin. Sie fanden sofort einen guten Draht zueinander. Eifrig machten sie sich an die Planung der Reiseroute. Kurz bevor Schäfers Wache zu Ende ging, waren sie damit fertig. Jetzt mußte Martin das Ganze nur noch mit dem Kreuzfahrtdirektor und dem Reiseleiter besprechen. Aber das würde er später am Tag machen. Im Moment war er erstmal zum Umfallen müde.
Als er in seine Kabine kam, fand er dort seine Uniform und seine Hemden wieder. Alles tip-top aufgearbeitet und gebügelt. Auch die Schneiderin hatte also eine Nachtschicht eingelegt. Er nahm sich noch vor, sich bei ihr dafür zu bedanken, dann war er auch schon in sein Bett gefallen und eingeschlafen.
***
Am nächsten Morgen sah Martin als erstes nach seiner Post. Gabor hatte recht gehabt. Die Leute in Hamburg hatten prompt reagiert.
Sehr geehrter Herr Kapitän Schöller!
Wir betrachten Ihre Erklärung als hinreichend. Allerdings war das T-Shirt wirklich indiskutabel und nicht ganz dem Stil unserer Reederei entsprechend.
Gute Fahrt und Grüße aus Hamburg
Der Anhang bestand aus einem Photo, das Martin in seinem umstrittenen T-Shirt in voller Deutlichkeit auf dem Brückennock zeigte, wie er mit einer energischen Geste ein Kommando ins Brückeninnere gab. An den Rand hatte jemand mit Filzstift “Käpt’n Chaos“ geschrieben und ein Smilie danebengemalt.
Anscheinend waren die Brüder in Hamburg doch nicht so völlig humorlos wie er immer angenommen hatte. Grinsend verschwand er im Badezimmer. Er war gerade fertig mit Anziehen, als es an der Tür klopfte. Eine Stewardeß stand davor, wieder mit einem Servierwagen.
„Guten Morgen, Herr Kapitän“, sagte sie höflich. „Ich bringe Ihnen Ihr Frühstück. Herr Gabor hat gemeint, Sie wollten es bestimmt in Ihrer Kabine einnehmen.“
‚Jetzt red mal nicht so geschraubt, und komm rein mit dem Zeug, Mädchen‘, wollte er sagen. Im letzten Moment erinnerte er sich daran, was die beiden Stewards ihm am Vorabend gesagt hatten und hielt sich zurück. Stattdessen schnappte er einmal kurz nach Luft und sagte:
„Das ist aber nett von Herrn Gabor. Kommen Sie doch rein. Ich hoffe nur, es ist nicht wieder so ‘ne Wagenladung voll wie gestern.“
Sie ging nicht darauf ein. „Möchten Sie Tee oder Kaffee?“
„Kaffee bitte. Schwarz, stark, heiß. Und den als erstes, bitte.“
Sie schenkte ihm eine Tasse voll ein. Während sie das Frühstück servierte, nahm er einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht.
„Vielleicht nehm ich doch lieber Tee“, meinte er.
Die Stewardeß lachte. „Ist der Kaffee nicht gut?“
„Nicht gut würd ich nicht sagen. Im Gegenteil. Er ist sogar sehr gut, wenn man‘s am Herz hat oder magenkrank ist. Hab ich aber nicht und bin ich auch nicht. Und deshalb werd ich mich wohl besser an den Tee halten.“
Sofort hörte sie mit dem Anrichten der Speisen auf und wollte sich um seinen Tee kümmern. Aber Martin wehrte ab.
„Lassen Sie mal, ich mach das schon. Da weiß ich dann auch, was ich kriege. Wer sind Sie denn, wenn ich fragen darf?“
Sie richtete sich auf und deutete einen Knicks an. „Caroline, Herr Kapitän, aber alle sagen Caro zu mir.“
Martin lachte. „Dann heißen Sie so wie der Kaffee, den Sie mir gerade serviert haben.“
„So schlimm?“ Sie wollte den Teebeutel aus seiner Tasse nehmen, aber Martin fuhr ihr dazwischen.
„Drinlassen! Ich will ‘n Tee und kein Spülwasser. Ich bin Friese, müssen Sie wissen. Da ist man ordentlichen Tee gewöhnt.“
„Sie kommen aus Friesland? Von wo denn da? Ost- oder Nordfriese?“
„Weder noch. Ich komme aus Neustadt in Holstein. Aber mein Großvater, der kommt aus Husum. Den hat’s dann nach Holstein verschlagen. Der Liebe wegen. Aber er ist Friese geblieben. Und auch meinen Vater hat er zu einem gemacht. Und der mich. So ist das. Und Sie, wo kommen Sie her? Nicht von da jedenfalls, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nee, ich komm aus Österreich. Hört man das nicht?“
„Schon. Deshalb frag ich ja.“
„Ich hab da nur mal gearbeitet. Nach der Hotelfachschule. In so einem Nobelschuppen auf Sylt. Aber das hat mir nicht gefallen. Deshalb bin ich jetzt hier.“
„Schon lange?“
„Nee. Vor vier Tagen bin ich eingestiegen.“
„Na bravo“, machte er und ahmte dabei perfekt den österreichischen Dialekt nach. „Da schau her. Dann können wir uns ja zusammentun. Ich bin auch gerade erst eingestiegen und auch in Österreich zur Schule gegangen. In Klagenfurt, aufs Internat.“
Sie sah ihn erstaunt an. „Ehrlich? Na das ist ja’n Zufall.“
Es klopfte. Werner Schäfer stand vor der Tür. „Käpt’n, Sie müssen.“
Die Stewardeß drängte sich an beiden vorbei und verschwand.
„Was muß ich?“
„Na, die Ansage ist fällig. Wie immer an Seetagen um zehn Uhr morgens. Position, Wetter, Kurs, et cetera. Der Zettel liegt auf der Brücke. Sie müssen’s nur vorlesen.“
„Was ist das denn für’n Blödsinn? Wer, außer uns, interessiert sich denn für sowas?“
Schäfer zuckte die Achseln. „Die Leute wollen’s so. Und zwar vom Kapitän höchstselbst. Also machen wir’s.“
„Na dann.“
Martin warf noch einen bedauernden Blick auf sein Frühstück. Dann folgte er Schäfer auf die Brücke. Der Zettel lag neben dem Mikrophon. Schäfer reichte ihn Martin. Er wartete noch ein paar Sekunden, bis die Uhr exakt zehn zeigte. Dann schaltete er das Mikrophon ein und nickte Martin zu.
„Guten Morgen, verehrte Gäste, hier spricht der Kapitän von der Brücke. Soeben war es zehn Uhr am Morgen des…“
Martin durchfuhr ein seltsames Gefühl, als er sich so reden hörte. ‚Hier spricht der Kapitän von der Brücke‘. Und der Kapitän, das war er. Kapitän Martin Schöller aus Neustadt in Holstein. Während die eine Hälfte seines Gehirns damit beschäftigt war, den auf dem Zettel stehenden Text fehlerfrei abzulesen, versuchte die andere Hälfte mit dieser Tatsache fertig zu werden. Irgendwie wollte das noch nicht so richtig gelingen. Also beendete er den Versuch zusammen mit seiner Durchsage.
Es blieb ihm auch nichts weiter übrig, denn sobald er das Mikrophon ausgeschaltet hatte, wurde er vom Hoteldirektor mit Beschlag belegt.
„Guten Morgen, Herr Kapitän, ich müßte dringend mit Ihnen reden.“
Martin seufzte. „Das kann ich mir vorstellen. Wo? Hier? Beim mir? Oder bei Ihnen?“
Im Vorbeigehen sah er den Wachhabenden sich köstlich amüsieren.
„Grinsen Sie nicht so blöd“, raunzte er ihn an. „Das ist kein Date. Der Typ will zwar was von mir, aber nicht das, was Sie meinen.“
Worauf der Wachhabende anfing zu prusten. Martin gab ihm einen Schlag auf die Schulter. „Knalltüte“, meinte er.
Dann rief er Gabor zu: „Kommen Sie, lassen Sie uns aus diesem Kindergarten verschwinden.“ Und stürmte hinaus.
Zwei Passagiere, die sich auf der zu dieser Zeit offenen Brücke aufhielten, hatten die kurze Szene ebenfalls amüsiert beobachtet.
„Wie ist der denn drauf?“ fragte einer von ihnen den Wachhabenden.
„Och, der ist schon ganz okay“, antwortete der Offizier. „Humor scheint er jedenfalls zu haben. Und Dampfer fahren kann er auch. War zwar nicht besonders schwierig, aus dem Hafen rauszukommen, gestern Abend, aber dafür daß er dieses Schiff noch nie gefahren hat, hat er’s erstaunlich gut hingekriegt. Er benimmt sich zwar noch ein bißchen so, als wenn er auf seinem Frachter wäre, aber das wird bestimmt noch.“
„Sie meinen, seine “Uniform“, gestern Abend, beim Auslaufen?“
„Naja, seine war ja bei der Schneiderin. Wegen der vier Streifen. Und seine Mütze hat er ja aufgehabt. Obwohl die anderen Kapitäne gerade die meistens weglassen.“
***
Unterdessen saß Martin mit dem Hotelmanager, dem Kreuzfahrtdirektor und der Reiseleiterin zusammen in seiner Kabine. Es ging um die weitere Reiseroute, und die Diskussion verlief gemäßigt. Martin erläuterte den Plan, den er mit seinem Ersten Offizier in der Nacht ausgearbeitet hatte. Die Anderen waren überrascht. Damit hatten sie nicht gerechnet, daß der neue Kapitän bereits nach so kurzer Zeit an Bord schon Pläne vorlegte. Und dann auch noch solche, die Hand und Fuß hatten. Man brauchte nicht lange, um sich endgültig zu einigen. Das größte Problem stellte die Organisation der Ausflüge, die Beschaffung der notwendigen Transportmittel und die Verpflichtung von lokalen Reiseleitern dar. Allerdings war die Tour Managerin des Schiffes keine Frau, die sich lange mit Problemen aufhielt. Sie werde das schon hinkriegen, meinte sie.
„Gut, damit wär das dann ja geklärt“, beschloß Martin die Diskussion. Schäfer kann sich dann um die Formalitäten in den Häfen kümmern. Lotsen, Liegeplätze und so weiter.“
„Liegeplätze ist gut, meinte die Reiseleiterin. „Wir liegen fast überall auf Reede. Erst in Papeete gehen wir wieder an die Pier.“
„Um so besser. Dann können wir wenigstens machen was wir wollen.“ Er stand auf. „War’s das? Ich muß nämlich rennen. Ich hab noch unheimlich was auf dem Plan, heute. Vor allem will ich mich mit den Leuten treffen. Das ist mir das Wichtigste.“
„Einen Plan hätte ich auch für Sie, Käpt’n“, sagte der Hoteldirektor und schwenkte mit einem Blatt Papier.
Martin sah ihn überrascht an. „Ach ja? Na, dann lassen Sie mal sehen.“
Er nahm Gabor den Zettel aus der Hand und begann, ihn zu lesen. Allerdings kam er nur wenige Zeilen weit.
„Hä? Was soll das denn?“ Er tippte auf eine Zeile des Textes. „Friseur und Schneiderin? Was ist das für’n Quatsch? Die Schneiderin hat meine Uniform heute Nacht schon verarztet, das sehen Sie ja.“ Er streckte seine Arme aus, so daß die neuen Streifen am Ärmel zu sehen waren. „Und beim Friseur war ich erst vor sechs Wochen.“
„Ja, das sieht man“, platzte die Reiseleiterin heraus und hielt sich gleich die Hand vor den Mund in Erwartung einer heftigen Reaktion des Kapitäns.
Die blieb allerdings aus. Stattdessen stellte sich Martin vor einen Spiegel und strich sich über die üppigen blonden Locken, die ein Stück über den Kragen seiner Uniformjacke hinausreichten.
„Echt? Aber so lang sind die doch noch gar nicht.“
„Doch, sind sie. Sie sehen aus wie ein Rauschgoldengel auf dem Christkindlsmarkt.“ Die Reiseleiterin war jetzt mutiger geworden, nachdem es keinen Anraunzer gegeben hatte. „So können Sie hier unmöglich rumlaufen.“
Martin stieß einen Seufzer aus. „Auf was man hier alles achten muß.“
„Ein Kreuzfahrtschiff ist eben kein Containerfrachter“, meinte Gabor.
„Ach was, Frachter bleibt Frachter“, entgegnete Martin und zwinkerte ihm dabei zu.
Gabor drohte mit der Faust. „Sie!“
Die beiden anderen waren verwirrt. „Wie jetzt, Frachter bleibt Frachter?“ fragte der Kreuzfahrtdirektor. „Das hier ist doch kein Frachter.“
„In seinen Augen schon“, antwortete Gabor und deutete auf Martin.
„Ich habe unser Schiff gestern Abend als Fleischfrachter bezeichnet“, erklärte Martin. „Herr Gabor fand das höchst unpassend.“
Die Tour Managerin plusterte sich auf. „Das ist es ja wohl auch.“
Martin nickte. „Ja, ist es. Und jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich mit diesem Sklaventreiber von Hotelmanager alleine ließen, damit wir endlich meinen Tagesplan fertigstellen können.“
Nachdem die Beiden gegangen waren, ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und sah den Hotelmanager an.
„Also, was ist das jetzt mit der Schneiderin, Herr Gabor?“
„Sie brauchen eine Galauniform. Für den Willkommensabend. Eigentlich hätte der heute stattfinden sollen, aber das schafft sie unmöglich, hat sie gesagt. Also haben wir uns gedacht, wir machen das morgen. Bis dahin ist die Uniform fertig.“
„Wer ist wir, und was soll das mit dem Willkommensabend? Ich hab die Leute doch schon begrüßt.“ Er deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. „Und setzen Sie sich endlich, Sie machen mich nervös.“
Gehorsam nahm der Hotelmanager Platz. „Also. Wir, das waren der Kreuzfahrtdirektor und ich. Und der Willkommensabend ist eines der wichtigsten gesellschaftlichen Ereignisse auf jeder Kreuzfahrt. Da begrüßt der Kapitän jeden Passagier einzeln. Anschließend lädt er die Passagiere zu einem Cocktail ein und erläutert ihnen die Einzelheiten der bevorstehenden Reise.“
„Sie haben ja wohl nicht alle Tassen im Schrank!“ Martin war empört. „Ich lad doch nicht die ganze Bande zum Freibier ein. Ich denk ja gar nicht dran. Die sehen alle so aus, als wenn sie genug Knete hätten, um ihre Cocktails selber zu bezahlen.“
„Haben sie auch und müssen Sie auch nicht. Für den Kapitänscocktail haben die Gäste längst bezahlt. Als Teil des Reisepreises. Außerdem gibt’s da kein Freibier, sondern Champagner und Cocktails. Es ist ein Spiel, und so sind die Spielregeln. Ein Kapitän in Galauniform gehört jedenfalls dazu. Und deshalb wäre es besser, wenn Sie sich möglichst schnell mit der Schneiderin träfen.“
Martin nickte. „Gut. Dann aber gleich. Und danach geh ich zum Friseur. Bevor ich mir das nochmal anders überlege. Sonst noch was?“
Gabor lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Das Galadinner.“
„Was ist damit? Wenn Sie eins abhalten wollen, dann tun Sie’s. Ich nehme an, auch dafür haben die Leute schon bezahlt. Was hab ich damit zu tun? Ich krieg doch mein Futter immer hier in meine Kammer gebracht. Bißchen öde ist das zwar, aber wenn das hier so Sitte ist…“
„Das ist es keineswegs. Als Kapitän können Sie essen wo Sie wollen. Im “Marco Polo“-Restaurant oder im Bistro “Lemaire“ oder auch in der Offiziersmesse. Ganz nach Lust und Laune. Morgen Abend aber auf jeden Fall im Restaurant. Sie sind nämlich der Gastgeber…“
„Was bin ich“, unterbrach Martin.
„Sie sind der Gastgeber. Und als solcher nehmen Sie natürlich am Kapitänstisch Platz. Und wir müssen uns darüber einig werden, wer die Ehre haben soll, mit Ihnen am Tisch zu sitzen.“
Martin winkte ab. „Mir völlig egal. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich hab mich bis jetzt noch mit jeder Tischgesellschaft vertragen.“
Gabor lachte. „Wenn Sie an Bord ein Schlachtfest veranstalten wollen, dann müssen Sie das genau so sagen. Es würden beim Kampf um die Plätze am Kapitänstisch garantiert ein Dutzend Tote zurückbleiben. Kulant gerechnet. Von den Kollateralschäden gar nicht zu reden.“
„Herr Gabor, hören Sie auf, mich zu verscheißern. Wer legt schon gesteigerten Wert darauf, mit dem Bootsfahrer zusammen am Tisch zu sitzen. Da gibt’s doch bestimmt interessantere Leute. Diesen Geologie Professor, zum Beispiel, der hier die Vorträge macht. Der hat wenigstens was zu erzählen. Zu dem würd ich mich an den Tisch setzen. Aber doch nicht zum Kapitän. Gut, ich hab mich auch immer zum Alten gesetzt, wenn noch Platz war und ich nicht gerade mit ihm überquer lag. Jeder hat das gemacht. Aber was besonderes war das doch nicht.“
Der Hoteldirektor schüttelte amüsiert den Kopf. „Der Geologe fällt aus. Der gehört zum Personal.“
„Na und? Ich doch auch“, erwiderte Martin, dem die ganze Sache langsam zu bunt wurde.
„Aber Sie sind der Kapitän. Sozusagen der Boß von dem ganzen Laden hier. Wenn Sie das bitte endlich mal zur Kenntnis nehmen würden. Und eine Tischdame brauchen Sie außerdem noch.“
Martin stöhnte. „Was ist das jetzt wieder für ein Blödsinn? Ich bin nicht verheiratet, und wie Sie gesehen haben, bin ich allein an Bord gekommen. Ist also nix mit Tischdame.“
„Dann wird diese Rolle ein Mitglied des Teams an Bord übernehmen. So ist das üblich.“
„Also doch jemand vom Personal.“ Martin grinste. „Na gut. Dann von mir aus die Kleine, die mir heute morgen das Frühstück gebracht hat. Die war ganz witzig. Caro heißt sie. Ich hab mir das gemerkt, weil sie genau so heißt wie der Kaffee, den sie serviert hat. Ein schauderhaftes Gesöff. Sagen Sie mal, gibt’s hier eigentlich auch anständigen Kaffee, oder muß ich mir den jedesmal auf der Brücke selber brauen?“
„Natürlich kriegen Sie auch stärkeren Kaffee, wenn Sie den wollen…“
„Will ich.“
„…Aber lenken Sie nicht ab. Eine Stewardeß als Tischdame geht natürlich überhaupt nicht. Es sollte schon jemand vom Führungsteam sein.“
„Ja, dann müssen Sie mir eine aussuchen. Ich kenn doch hier niemanden. Ich werd mich schon mit ihr vertragen, solange sie mit Messer und Gabel umgehen kann, weder schmatzt noch rülpst und bei Tisch nicht in der Nase bohrt. Das kann ich nämlich nicht leiden.“
„Sowas gibt’s auf einem Schiff auch gar nicht.“
„Na, Sie würden sich wundern.“
„Jedenfalls nicht auf einem Fünf-Sterne Kreuzfahrtschiff.“
„Hm.“
Der Hoteldirektor stand auf. „Ich lasse Ihnen heute Nachmittag eine Vorschlagsliste zukommen. Einverstanden?“
„Geschenkt, Herr Gabor. Machen Sie die Liste, und gut ist. Wen soll ich aus einer Liste von Unbekannten aussuchen?“
„Aber es sind eine Reihe von VIP’s an Bord, die Sie bestimmt kennen. Schauspieler, unter anderem.“
Martin sprang auf. Mit einem Mal wurde sein Gesicht hart. „Auf keinen Fall! Ich will keine Schauspieler an meinem Tisch sehen, hören Sie? Auf gar keinen Fall. Von denen hab ich die Nase gestrichen voll. Die sollen galadinnieren mit wen sie wollen aber nicht mit mir.“
„Aber, Herr Kapitän…“
„Kommt nicht in die Tüte, Herr Gabor. Ein für allemal: Ich will mit Schauspielern nichts zu tun haben! Ist das klar?“
Gabor deutete eine Verbeugung an. „Wie Sie wünschen, Herr Kapitän.“
Sobald der Hoteldirektor die Kapitänswohnung verlassen hatte, schossen Martin die Tränen in die Augen. Franziska. Lange hatte er es geschafft, sie aus seinen Gedanken zu verdrängen. Jetzt war sie mit einem Mal wieder da. Seine “Kleine Krabbe“, seine süße, liebe, wunderbare, kleine, die er so sehr geliebt und dann verloren hatte und die er nie, nie wieder zurückbekommen würde.
Jetzt war er wirklich der “Große Kapitän“, als den sie ihn immer bezeichnet hatte. Doch was nützte ihm das? Er konnte es ja nicht mit ihr teilen. Sie wäre die ideale Tischdame gewesen, witzig wie sie war, schön, charmant, geistreich. Sie hätte sie alle an Bord bezaubert, da war er sich ganz sicher. Aber sie war fort. Unerreichbar. Seit fast zehn Jahren jetzt. Und nichts und niemand würde sie wieder zurückbringen.
Jenny, Johannes, Reto und René und seinen Vater, André Schindler, sie alle gab es noch. Und sie alle standen auch noch in Verbindung. So oft es sich machen ließ, besuchte er sie reihum. Aber Franziska, seine kleine Krabbe, war nicht dabei. Sie gab es eben nicht mehr. Und Schuld daran war ihre Mutter, eine Schauspielerin. Sicherlich war es ungerecht, von ihr auf die ganze Zunft zu schließen. Aber Martin konnte nun einmal nicht anders. Mit Schauspielern wollte er nichts zu tun haben. Er hoffte nur, daß Gabor sich an seine Anweisung hielt.
***
Zwei Stunden später betrat Martin den Frisiersalon hoch oben auf dem Observation Deck. Die Friseuse hinter dem kleinen Tresen brauchte einen Moment, bis sie in ihm den neuen Kapitän erkannte. Doch dann straffte sie sich.
„Guten Tag, Herr Kapitän. Was kann ich für Sie tun?“
Martin hob die Hand. „Hallo“, grüßte er wenig förmlich zurück. „Man hat mir eingeredet, ich müßte mir die Haare schneiden lassen.“
Die junge Frau hinter dem Tresen musterte ihn kurz und nickte.
„Stimmt.“
„So? Finden Sie? Ich nicht. Aber gut. Dann machen Sie mal. Geht’s jetzt?“
Sie nickte. „Natürlich. Sie haben doch einen Termin.“
Martin platzte der Kragen. „Erzähl mir doch keinen Scheiß, Mädchen! Termin. Vor zwei Minuten hab ich ja selber noch nicht gewußt, daß ich herkomme. Wo kann da ‘n Termin herkommen?“
Eingeschüchtert wich sie einen Schritt zurück. Die beiden älteren Damen, die mit ihren Köpfen unter Trockenhauben steckten, sahen erstaunt von ihren Zeitschriften auf.
„Herr Gabor war hier und hat mich gebeten, Sie sofort dranzunehmen, wenn Sie kommen“, erklärte die Friseuse leise.
„So, hat er das. Na denn mal los. Und entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie so angeschnarcht habe. Sie können ja nun wirklich nix dafür. Aber das Getue um meine Person geht mir langsam auf den Sender, verstehen Sie? Also, nicht böse sein. Wie heißen Sie denn?“
„Karola“
„Häh?“ Martin sah sie verwirrt an. „Aber nicht zufälligerweise auch Karo genannt, oder? So eine hatte ich heute nämlich schon mal. Die hat mir den Kaffee gebracht, der so unterirdisch schlecht war, daß ich den wie sie bezeichnet habe.“
„Sie meinen die Caro aus dem Marco Polo?“
„Keine Ahnung wo die herkam. Aber sie kam mit einem Frühstück, das locker für zehn Personen gereicht hatte, und außer an diesem grauenhaften Kaffee zu nippen bin ich nichtmal dazu gekommen, was davon zu probieren. Jetzt muß ich auf diesem Luxuseimer Kohldampf schieben. Ein Scheiß-Geschäft.“
Sie kicherte. „Na, dann nehmen Sie mal Platz. Soll ich Ihnen was bringen lassen?“
„Was denn, beim Haareschneiden? Na, Sie sind gut. So’nen prima Hot-Dog vielleicht, mit ordentlich Senf und Zwiebeln und dazu mit meinen abgeschnittenen Haaren, was? Nee, die Firma dankt.“
Er setzte sich auf einen der Friseurstühle.
„Wie soll’s denn sein?“ fragte die Friseuse.
„Woher soll ich das wissen?“ gab Martin zurück. „Sie sind doch der Profi hier. Der Philippino auf der “Essen-Express“, der mir sonst immer die Haare geschnitten hat, hat mich das nie gefragt. Der war nämlich mal Friseur, bevor er bei uns als Matrose angeheuert hat. Der wußte gleich, was zu tun war. Schnipp, schnapp, runter mit der Putzwolle, und gut war’s. Ich denke, das schaffen Sie doch auch, oder?“
„Wie Sie wünschen.“
„Ja, natürlich. Und jetzt machen Sie schon hin, Karola. Ich hab Weihnachten noch was vor. Und außerdem wollen bestimmt noch mehr Leute drankommen.“
Langsam wurde Martin ungeduldig. Zumal er diesen Friseurbesuch ohnehin für komplett überflüssig hielt, angesichts all der Dinge, die er sich noch vorgenommen hatte, zu erledigen. Kapitänsempfang und Galadinner. Er hatte gerade sein erstes Kommando bekommen auf einem Schiff, auf dem er noch nie zuvor gefahren war. Mann, da hatte er doch, weiß Gott, was Besseres zu tun, als sich mit so’nem Firlefanz abzugeben. Gut, das Schiff war winzig im Vergleich zu seiner “Essen-Express“, und leicht manövrieren ließ es sich auch, das hatte er gestern Abend gleich bemerkt, aber trotzdem. Soviel Besatzung, sowas hatte er noch nie. Schon gar nicht als Kommandant. Und dann kam dieser Hoteldirektor daher und mäkelte an seiner Lockenpracht rum. Er seufzte.
„Ist was?“ fragte die Friseuse besorgt.
„Nee, alles in Ordnung. Ich hab nur grad über was nachgedacht.“
***
„Gut schau’n Sie aus“, meinte der Hoteldirektor, als Martin ihn am Abend in dessen Büro traf.“
Martin knurrte nur als Antwort.
„Haben Sie schon was gegessen?“
„Na, wann denn?“ fuhr Martin ihn an. „Das Frühstück fiel aus wegen dieser albernen Positionsansage und unserem Meeting hinterher und zum Mittagessen gab’s die Schneiderin und als zweiten Gang die Friseuse. Wenigstens hat mir der Chief ‘n paar Stullen besorgt, als ich bei ihm unten in der Maschine war. Und passablen Kaffee hatte er auch.“
Er ließ sich auf einen der beiden Stühle in dem winzigen Büro fallen.
„Wenn Sie wollen, gehen wir ins Restaurant und essen was“, schlug Gabor vor. „Sozusagen als Generalprobe für morgen.“
„Denken Sie, daß ich noch nie im Restaurant gegessen habe?“
„Nee, sicher nicht. Aber bestimmt noch in keinem, wo alle Leute sich die Hälse verrenken, um mitzukriegen, was und wieviel Sie auf dem Teller haben. Besser also, Sie gewöhnen sich schnell daran.“
„Und wen müssen wir einladen? Sie haben doch bestimmt schon wieder ‘ne Liste gemacht.“
Gabor lachte. „Nein, diesmal nicht. Diesmal sind wir sozusagen inoffiziell dort.“
Martin stand auf. „Na denn mal los.“
Im Restaurant war tatsächlich ein ganzer, großer Tisch für zehn Personen als Kapitänstisch freigehalten worden. An den setzten sich die beiden Männer. Eilfertig kam ein Kellner herbei und reichte ihnen die Speisenkarte. Martin warf einen Blick darauf und klappte die Karte gleich wieder zu.
„Wissen Sie worauf ich jetzt Hunger hätte? Ich möchte gern ein Steak, groß wie ein Lokusdeckel und blutig innen drin. Dazu einen Berg Pommes mit ordentlich Majo drauf und eine Schüssel Salat. Und einen Eimer voll Cola. Und á tempo, wenn sich’s irgendwie machen läßt, ich hab nämlich Kohldampf bis unter die Arme.“
Der Kellner nickte und verschwand. Gabor versteckte sich grinsend hinter seiner Karte. Da würden die Gäste später in den Bars was zu lästern haben. Zum Glück hatte niemand mitbekommen, mit welchen Worten ihr Kapitän seine Mahlzeit bestellt hatte.
Doch da täuschte sich der Hoteldirektor. Eine der älteren Damen, die in trauter Runde an einem der Nachbartische zusammen saßen, hatte es sehr wohl gehört. Sie hatte nämlich Ohren wie ein Luchs, wiewohl ständig vorgebend, schwerhörig zu sein. Und natürlich stand sie nicht an, es ihren Tischgenossinnen sogleich weiterzuerzählen. Das Urteil war eindeutig. Und vernichtend. Pommes Frites mit Mayonnaise, das durfte ja wohl nicht wahr sein. Ganz abgesehen von der Coca Cola, die zum Dinner ja nun wirklich indiskutabel war. Synchrones Kopfschütteln silbergelockter Häupter. Die jungen Kapitäne heutzutage sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren.
Als das Essen serviert wurde, schraubte Martin die Augen nach oben. Der Chef hatte sich bemüht, es so dezent wie möglich anrichten zu lassen. Ein reichlich dimensioniertes Filetsteak befand sich auf einem großen Teller, garniert mit allerlei Kräutern. Die Pommes Frites in einer eigenen Schüssel daneben und die Mayonnaise getarnt in einem Töpfchen mit Deckel.
Was für ein Zirkus!
Martin sammelte die Kräuter von seinem Teller und deponierte sie auf dem Kleinen Brotteller links neben ihm. Stattdessen schaufelte er die Pommes Frites neben das Fleisch und leerte die Schale mit der Mayonnaise darüber. Mit gutem Appetit begann er zu essen, während der Hoteldirektor in seiner Vorspeise herumstocherte.
„Was ist, schmeckt es Ihnen nicht?“ fragte ihn Martin. „Ich kann nicht klagen. Das Fleisch ist wunderbar zart, die Pommes schön knackig von außen und weich von innen und die Majo offensichtlich hausgemacht. Hätten Sie sich vielleicht auch bestellen sollen.“
„Ich bewundere nur Ihren Appetit.“ Der Hotelmanager schüttelte den Kopf.
„Was glauben Sie, Mann? Ich hab seit gestern Abend nichts Ordentliches gekriegt. Das ist mir sonst noch nie passiert.“
„Ich hoffe, daß Sie morgen Abend nicht ganz so ausgehungert zu Tisch gehen. Mit Cola und Majo können Sie da jedenfalls nicht rechnen.“
„Nicht nötig, Herr Gabor“, beruhigte ihn Martin. „Auch wenn Sie’s kaum glauben, ich weiß schon, wie man sich in Gesellschaft benimmt. André Schindler hat mir da einiges beigebracht.“
„André Schindler? Sie kennen André Schindler? Den Schweizer Finanzmagnaten?“
Martin sah ihn an und zuckte die Achseln. „Ja, ziemlich gut sogar. Er behauptet immer, er sei sowas wie mein väterlicher Freund. Ich find das zwar ein klein bißchen übertrieben, aber ich mag ihn sehr. Und ich besuche ihn oft. Er hat mir sehr geholfen, damals, als…“ Er unterbrach sich und schob seinen Teller zur Seite. „Ach, lassen wir das. Das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls hat er mir beigebracht, wie man sich in den feineren Kreisen bewegt. Und in solchen befinden wir uns ja jetzt offensichtlich, oder?“
Gabor nickte. „Kann man so sagen.“
„Also, morgen werde ich mir keine Pommes mit Majo bestellen, sondern schön was von der Speisenkarte. Und den Wein kann ich auch aussuchen, wenn’s nötig ist.“
„Ist es. Und ich habe Ihnen dazu auch schon ein paar Vorschläge ausgearbeitet.“
Gabor zog einen Zettel aus der Tasche seinen Anzugjacke und reichte ihn Martin. Der nahm ihn an und studierte ihn ausgiebig.
„Na prima. Das hilft immer. Danke Ihnen. Also wissen Sie schon, was es gibt?“
„Ich habe vorhin mit dem Chef gesprochen.“
„Und?“
Gabor reichte ihm ein weiteres Blatt Papier. Martin sah es an und verglich es mit den Weinvorschlägen.
„Also, was den Weißwein angeht, ist das okay. Ein Rheingauer Riesling, Spätlese, das ist schön. Obwohl ich mir eher einen Chardonnay aus dem Casablanca Valley gewünscht hätte. Nur der Burgunder zum Hauptgericht, den Sie vorschlagen, der paßt ja sowas von überhaupt nicht. Ich schlage vor, wir nehmen stattdessen einen Carmenére aus dem Maipo Valley. Dann haben wir wenigstens einen chilenischen Wein, das paßt zu unserer Reise, und ich hoffe, Sie haben welchen an Bord. Wenn nicht, fahren wir stracks zurück nach Valparaíso und bunkern welchen.“
Keine Sorge, wir haben den. Wollen Sie ihn kosten?“
„Unbedingt.“
Gabor winkte den Steward heran. „Bringen Sie uns diesen chilenischen Rotwein. Den Carmenére.“
Kurz darauf hatten sie beide ein Glas davon vor sich stehen. Martin kostete ihn mit Kennermiene.
„Ja, der ist okay. Den können Sie bringen“, stellte er fest.
Die älteren Damen am Nachbartisch registrierten es mit Wohlbehagen. Der neue, junge Kapitän war offensichtlich doch nicht ganz so ein Tölpel wie sie zuerst angenommen hatten. Man würde sehen.
***
Tatsächlich präsentierte sich am Abend des folgenden Tages ein Kapitän, der witzig war, geistreich und voller Esprit, aufgeräumt und gestanden, trotz der knapp dreißig Jahre, die er erst alt war.
Adrett sah er aus in seiner neuen Gala-Uniform, die, natürlich, rechtzeitig fertig geworden war und die ihm wie angegossen paßte. Die wilden Blondlocken waren gezähmt, und seine strahlend blauen Augen gaben ihm etwas von einem Wikinger. Mindestens achtzig Prozent der an Bord befindlichen Damen verliebten sich spontan in ihn, trotz der Pommes mit Majo vom Vorabend, die natürlich alle mit Grausen zur Kenntnis genommen hatten, nachdem sich die Geschichte darüber wie ein Lauffeuer an Bord verbreitet hatte.
Er ließ sich mit allen photographieren und strahlte dabei wie ein Filmstar. Er hielt eine launige Rede, die, öfter als ihm lieb war, von Beifall unterbrochen wurde, erklärte ihnen den weiteren Verlauf dieser Reise und schloß mit den Worten:
„Keine Ahnung, ob das je so klappt, wie wir uns das ausgedacht haben, aber wir werden uns bemühen. Auf jeden Fall garantiere ich Ihnen, daß Sie alle Ihren Flug nach Hause erreichen werden. Was dazwischen passiert, schaun mer mal.“
Auch das anschließende Galadinner verlief besser als Martin es erwartet hatte. Eine Tischdame hatte er nicht, darauf hatte er sich nach einer längeren Auseinandersetzung mit Gabor geeinigt. Also hatte der zu vier Ehepaaren eine alleinreisende Dame mittleren Alters eingeladen und rechts neben Martin plaziert. Statt einer zwanglosen Unterhaltung entspann sich mehr ein Frage-und-Antwort Spiel, bei dem Martin die Rolle des Antwortengebers zugewiesen wurde, während die Anderen unentwegt Fragen stellten. Er spielte das Spiel mit und antwortete soweit er es für angemessen hielt. Es dauerte jeweils zwei Flaschen Weißwein und zwei Flaschen Rotwein lang. Von dem Martin jedoch nur nippte, sehr zum Mißfallen seiner Gäste.
„Aber Herr Kapitän, Sie trinken ja kaum etwas“, kam die prompte Beschwerde, nachdem er zum wiederholten Male bei sich das Nachschenken abgelehnt hatte.
„Ich muß vorsichtig sein“, erklärte Martin. „Morgen früh wollen wir vor der Robinson-Crusoe Insel vor Anker gehen, und ich möchte ungern den Kahn dabei in den Schlick setzen, nur wegen zu viel Wein am Vorabend.“
„Können Sie das denn, so jung wie Sie sind?“
Martin lachte. „Was denn? Das Schiff in die Klippen fahren? Hab’s noch nie versucht. Bislang hatte ich noch immer soviel Wasser unten drunter, daß noch einer bequem durchgepaßt hätte beim Kielholen. Auf Grund gesetzt hab ich noch nie ein Schiff. Das heißt, doch, einmal, das Segelboot meines Onkels. Aber da war ich zwölf. Und Senge hab ich dafür gekriegt, daß ich mir geschworen habe: Das machst Du nie wieder.“
Nach dem Essen wurde der Cognac serviert. Martin bekam so einen kleinen, daß kaum der Boden des voluminösen Cognacschwenkers bedeckt war. Er hatte dem Kellner zuvor mit Daumen und Zeigefinger ein entsprechendes Zeichen gegeben.
Nachdem sich alle noch einmal zugeprostet hatten, hob Martin die Tafel auf, bedankte sich bei seinen Gästen für einen angenehmen Abend und verschwand in seiner Kabine. Er war hundemüde. Und die Nacht würde kurz werden. Denn schon um sieben Uhr hatten sie den Lotsen, und um acht Uhr spätestens wollte er vor Anker liegen. Der Anlegesteg auf der Robinson-Crusoe Insel war zu klein, als daß er dort hätte festmachen können. Also mußte getendert werden.
Martin hatte sich ausgebeten, eins der Tenderboote selbst zu fahren. Er wollte ein Gefühl dafür bekommen, wie die kleinen Schiffe sich handhaben ließen. Zumindest ein paar Runden wollte er drehen. Es klappte besser als er dachte, und die Passagiere fühlten sich geehrt, von ihrem Kapitän höchstpersönlich an Land gebracht zu werden.
Nach ein paar Runden ging er zurück auf sein Schiff und befaßte sich mit dem anfallenden Schreibkram. Er war es gewohnt, daß eine Menge davon zu erledigen war, aber daß es hier auf diesem Schiff soviel sein würde, hätte er dann doch nicht gedacht.
Lange kam er allerdings nicht dazu, denn das Auslaufen war bereits für dreizehn Uhr am Mittag festgelegt worden. Sie hatten den Aufenthalt auf der kleinen Insel auf einen halben Tag begrenzt, denn inzwischen waren sie vier Tage im Zeitverzug. Also ließ Martin aus den beiden Antriebsmotoren herausholen, was herauszuholen war, und es gelang ihm, die Fahrzeit bis zur Osterinsel um fast einen Tag zu verkürzen.
Auf der Fahrt dorthin kam er ein wenig zur Ruhe. Langsam gewöhnte er sich an die neue Umgebung, und es gelang ihm auch, eine gewisse Tagesroutine zu finden. Das Frühstück nahm er zusammen mit dem Hotelmanager und der Kreuzfahrtdirektorin im Restaurant ein. Dabei besprachen sie das Tagesprogramm. Danach erledigte er seine Büroarbeit und widmete sich den Offizieren, mit denen er dann in der Offiziersmesse zu Mittag aß. Den Nachmittag verbrachte er damit, sich mit den verschiedenen Abteilungen des Schiffes vertraut zu machen. Gegen Abend ließ er sich auf den offenen Decks bei den Passagieren sehen, hielt hier einen Schwatz, beantwortete dort ein paar Fragen. Abends “hielt er Hof“ am Kapitänstisch, jeden Abend in wechselnder Besetzung. Die Leute wußten es zu schätzen. Es folgte der abendliche Rundgang über das ganze Schiff, einschließlich einem mehr oder weniger langen Aufenthalt auf der Brücke. Danach zog er sich in seine Kabine zurück.
Bemerkenswert war der Tag, an dem sie vor der kleinen Insel Pitcairn vor Anker lagen, um den Nachfahren der Meuterer von der “Bounty“ einen Besuch abzustatten. Eine Anlandung dort war nur mit den Zodiacs möglich, robusten Schlauchbooten, von denen die “Hanseatic“ nicht weniger als vierzehn Stück an Bord hatte.
An diesem Tag waren beinahe alle davon im Einsatz, denn es waren nicht nur die Passagiere auf die Insel zu transportieren, sondern auch reichlich Vorräte für die Bewohner, die das Schiff von Chile aus mitgebracht hatte. Lebensmittel vor allem und andere Güter des täglichen Bedarfs.
Natürlich ließ Martin es sich nicht nehmen, eines der Schlauchboote selber zu steuern. Kartoffeln hatte er an Bord, Zwiebeln, Mineralwasser, Bier und andere Getränke. Das Anlanden war nicht ganz einfach, denn es drückte eine starke Dünung geradewegs in den kleinen Hafen. Die Zodiacfahrer schimpften nicht schlecht darüber.
Martin ließ sich von dem Gezeter nicht beirren. Er tauschte seine Uniform gegen abgeschnittene Jeans und eines seiner “unmöglichen“ T-Shirts, zog Sandalen an die nackten Füße, setzte aber seine Mütze auf. Wenigstens das, damit sie ihn auf der Insel nicht von vorneherein für einen Piraten hielten.
Dann fuhr er los, volle Fahrt voraus. Das kleine Boot tanzte auf den Wellen, daß man meinen konnte, es werde jeden Augenblick kentern. Aber nichts dergleichen. Martin fuhr wie der Teufel und war bei der Ankunft an der Pier klatschnaß, aber Boot und Ladung waren unversehrt. Es gab einige bewundernde Kommentare der Inselbewohner, als er festmachte. Den Kapitän des Kreuzfahrtschiffes, das vor der Insel vor Anker lag, erkannte niemand in ihm. Und Martin hielt es auch nicht für nötig, es ihnen zu erklären. Er wurde wie ein Kumpel begrüßt. Man lachte und schlug ihm anerkennend auf die Schulter.
Bis einer der Passagiere fragte: „Fahren Sie immer so, Herr Kapitän?“
Erst da ging den Leuten auf, wen sie da vor sich hatten.
„Nee, nur wenn der Klabautermann mich gebissen hat“, antwortete er. „Und heute hat er. Also, wenn Sie mit mir zurückfahren wollen, machen Sie sich auf was gefaßt.“
Das war nicht unbedingt eine Antwort, die die Spaßbremsen der Reederei für gut gehalten hätten, aber die waren ja, zum Glück, einige zehntausend Kilometer weit entfernt. Ebensowenig wie die Bemerkung, die er fallen ließ, nachdem er andere “Opfer“ gefunden hatte, die sich nach zwei weiteren Anlandungen, die er inzwischen hinter sich hatte, von ihm mit zurück zum Schiff nehmen ließen.
„Was wollen Sie?“ fragte er launisch, nachdem das Boot nach dem Ritt auf einer besonders großen Welle so heftig ins Wasser tauchte, daß alle im Boot, aber auch wirklich alle, eine kräftige Dusche abbekamen. „Sie haben eine “Expeditionskreuzfahrt“ gebucht. Jetzt kriegen Sie eine. Ich hab Ihnen ja versprochen, daß es abenteuerlich wird. Geben Sie Ihre Sachen nachher an Bord in die Wäscherei, morgen haben Sie sie zurück, gewaschen und gebügelt. Die Rechnung übernehme ich. Das ist es mir wert, ein bißchen Spaß zu haben. Und Ihnen doch sicher auch, oder?“
Selbst wenn sie gewollt hätten, Beifalls- oder Mißfallenskundgebungen konnte niemand auf dem kleinen Boot dazu abgeben. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, sich an den Leinen festzuhalten aus Angst, über Bord gespült zu werden. Natürlich ging alles gut, und hinterher hatten sie alle wieder was zu reden. Über den neuen Kapitän, der sich gelegentlich aufführte wie ein wildgewordener Teenager.
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Am Ende der Reise, nachdem er sie pünktlich, wie angekündigt, im Hafen von Papeete an Land gesetzt hatte, hatten sie den jungen Mann schätzen gelernt. Das bekamen auch die Damen und Herren in der Reederei in Hamburg zu hören, wo zahlreiche und meist positive Nachrichten eingingen.
Auch Martin hatte seine Sachen bereits gepackt, denn er erwartete, daß die angestammte Besatzung nach dem Ende dieser Reise das Schiff wieder übernehmen würde und er seinen unterbrochenen Urlaub fortsetzen konnte, um danach seinen Dienst als erster Offizier auf dem Containerschiff “Essen-Express“ wieder aufzunehmen. Aber es sollte anders kommen.
Am Abend der Ankunft in Papeete erreichte ihn eine Nachricht aus Hamburg, in der er darum gebeten wurde, das Schiff auch während der nächsten Reise weiterzuführen. Offensichtlich waren die erkrankten Offiziere der “Hanseatic“ noch nicht wieder so weit hergestellt, daß sie ihren Dienst wieder antreten konnten. Martin wunderte sich ein wenig darüber, daß eine simple Fischvergiftung so lange brauchte, bis sie auskuriert war. Aber mit tiefergehenden Überlegungen hielt er sich gar nicht lange auf, sondern machte sich umgehend daran, seine Sachen wieder auszupacken.
„Auf ein Neues, also“, sagte er sich. „Die in Hamburg müssen total verrückt sein, mich hier weiterfahren zu lassen. Als ob’s in der ganzen, großen Reederei nicht einen gestandeneren Mann gäbe, der auf dem Posten wesentlich besser aufgehoben wäre.“
Natürlich gab es solche Leute. Aber die Manager der Reederei hatten ihre guten Gründe, niemanden aus dieser Gruppe zu benennen. Es sollte eben Martin Schöller sein, neunundzwanzig Jahre alt und eines der größten Talente, die sie je in ihren Reihen gehabt hatten.