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3 Angelika von Weerendonk
ОглавлениеDas fahle Licht eines weiteren, trüben Tages fiel durch das Fenster des Krankenzimmers herein, in dem Angelika von Weerendonk langsam aus der Bewußtlosigkeit erwachte. Sie brauchte eine Weile, bis ihr klar wurde, wo sie war und vor allem, warum sie an diesem Ort war. Zuerst glaubte sie, aus einem schrecklichen Albtraum erwacht zu sein, aber als sie die Verbände an ihrem Körper spürte und das geschiente Bein, wußte sie, daß es kein Traum gewesen war.
Die Schmerzen kamen zurück, gedämpft zwar, durch die Schmerzmittel, die man ihr gegeben hatte aber doch immer noch recht heftig. Sie erinnerte sich an die Schläge, zuerst ins Gesicht, dann auf dem ganzen Körper und auch an den Satz, den der Arzt in der Notaufnahme gesagt hatte: „Mag sein, daß die mal eine sehr schöne Frau war, aber so wie die jetzt zugerichtet ist, kriegt die kein Schönheitschirurg der Welt mehr hin.“
Sie mußte das sehen. Sie mußte sich sehen, wie sie aussah, ob der Mann recht haben könnte oder ob er doch nur übertrieben hatte. Sie versuchte aufzustehen, aber das gelang nicht wegen ihres eingegipsten Beins. Also klingelte sie nach der Schwester.
„Helfen Sie mir auf und bringen Sie mich zu einem Spiegel“, verlangte sie harsch.
Die Krankenschwester blieb höflich aber bestimmt. „Nein, das geht nicht. Die Ärzte haben Ihnen strikte Bettruhe verordnet, und ich werde mich an diese Anweisung halten. Brauchen Sie sonst noch etwas?“
Verärgert schüttelte die Schauspielerin den Kopf. „Nein. Nicht im Moment“, war die knappe Antwort.
„Fühlen Sie sich in der Lage, einige Fragen zu beantworten?“ wollte die Schwester weiter wissen.
„Wenn’s sein muß.“
„Gut, dann werde ich das ausrichten.“ Sie drehte sich um und ging hinaus.
Einige Zeit später betraten zwei Männer das Krankenzimmer. Sie waren nicht wie Ärzte gekleidet, sondern trugen normale Straßenanzüge, die ziemlich schlecht saßen, wie Angelika von Weerendonk sofort feststellte. Billige Stoffe, von der Stange und schon etwas abgetragen.
„Mein Name ist Georg Huber“, stellte der eine, ältere von beiden sich vor, „das hier ist mein Kollege Markus Obermeyer, wir kommen von der Kriminalpolizei in München.“ Er hielt ihr einen Ausweis vor die Nase, den sie allerdings kaum eines Blickes würdigte.
„So? Und was wollen Sie von mir? Ich kann mich nicht erinnern, in der letzten Zeit falsch geparkt oder die Geschwindigkeitsbegrenzung mißachtet zu haben.“
„Das mag sein, aber das interessiert uns auch nicht. Man hat uns vom Krankenhaus aus benachrichtigt, daß in der vergangenen Nacht eine Frau eingeliefert wurde, die aufgrund fehlender Papiere nicht zu identifizieren war. Außerdem war sie aufgrund schwerwiegender, entstellender Gesichtsverletzungen nicht zu erkennen. Offensichtlich war sie Opfer eines Verbrechens geworden. Als man uns heute Vormittag erneut anrief, die Frau sei jetzt bei Bewußtsein und ansprechbar, sind wir sofort gekommen, und man hat uns zu Ihnen geführt. Ich bitte Sie daher, uns Ihre Personalien anzugeben und die Umstände zu schildern, wie Ihnen diese Verletzungen zugefügt wurden, damit wir unsere Ermittlungen aufnehmen können.“
Übellaunig nannte die Schauspielerin ihren Namen und ihre Adresse. Der Name schien den beiden Beamten nichts zu sagen. Huber machte sich lediglich eine Notiz.
„Wo sind Sie beschäftigt?“
„Ich bin Schauspielerin“, antwortete sie gereizt. „Angelika von Weerendonk“, setzte sie pointiert hinzu.
Hubers einzige Reaktion bestand in einem Nicken. „Wo?“ fragte er weiter.
„Ich habe kein festes Engagement. Wenn Sie öfter ins Kino gehen oder fernsehen, sollte Ihnen mein Name etwas sagen.“ Sie war jetzt richtig wütend.
„Dazu hat man in meinem Beruf kaum Gelegenheit.“ Huber schien sie wirklich nicht zu kennen. Obermeyer hingegen schien etwas zu dämmern.
„Ich glaube, ich habe Sie kürzlich mal in einem Tatort gesehen“, warf er ein.
„Sowas siehst Du Dir an?“ fragte sein Kollege verwundert.
Obermeyer zuckte die Achseln. „Gelegentlich. Es entspannt.“
„Wenn Du meinst.“ Huber wandte sich wieder an die Schauspielerin. „Also, dann schildern Sie mal, was vorgefallen ist. Wann fand der Überfall statt?“
„Gestern, am frühen Abend. Vor dem Haus, in dem ich wohne. Man hat mich niedergeschlagen und verschleppt.“
„Haben Sie die Täter erkannt? Waren es mehrere oder nur ein Einzelner?“
„Das weiß ich nicht. Ich wurde von hinten angegriffen und sofort betäubt.“
„Was geschah dann?“
„Als ich wieder zu mir kam, war ich an einen Stuhl gefesselt. Man hatte mir sämtliche Kleider ausgezogen, aber meine Augen verbunden, so daß ich nichts sehen konnte. Dann wurde ich ins Gesicht geschlagen. Womit, kann ich nicht sagen, jedenfalls derart, daß die Haut aufriß. Es war ungeheuer schmerzhaft und zerstörte offenbar mein ganzes Gesicht.“
Ihre Stimme versagte. Trotz ihrer Wut brach sie in Tränen aus.
Die beiden Kriminalbeamten sahen sich an. Wie schwer die Verletzungen waren und wie sehr das Gesicht der Frau entstellt war, konnte man wegen der Verbände nicht feststellen. Es war jedoch davon auszugehen, daß sie nicht übertrieb.
Huber wartete, bis sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte, bevor er seine nächste Frage stellte: „Was geschah dann?“
„Man löste die Fesseln und zerrte mich zu einer Wand, wo man mich aufrecht stehend mit nach oben ausgestreckten Armen an etwas festband. Dann wurde ich wieder geschlagen, diesmal aber am ganzen Körper. So wie zuvor , so daß die Haut überall aufplatzte. Es war entsetzlich. Ich wurde vor Schmerzen fast ohnmächtig.“
Wieder brach sie in Tränen aus. Trotzdem berichtete sie weiter.
„Schließlich band man mich los. Aber ich war vor lauter Schmerzen nicht in der Lage, mich zu wehren oder irgendetwas zu tun. Man zerrte mich weg und stieß mich in ein Auto. Einen Lieferwagen oder sowas. Jedenfalls kam ich auf einer harten, metallenen Fläche zu liegen. Als ich in das Auto hineingestoßen wurde, wurde ich endgültig ohnmächtig. Was dann geschah, weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer Trage und befand mich im Krankenhaus.“
Obermeyer machte sich eifrig Notizen. Huber nickte.
„Sie haben also den oder die Täter nicht erkannt?“
Die Schauspielerin schüttelte den Kopf.
„Auch nicht an der Stimme?“
Erneutes Kopfschütteln. „Es wurde die ganze Zeit hindurch kein Wort gesprochen.“
„Haben Sie einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?“
Angelika von Weerendonks Gesicht wurde hart. „Oh ja, den habe ich. Es kann nur dieser widerliche Kerl gewesen sein, der meine Tochter verführt hat und der letztendlich Schuld daran ist, daß sie nicht mehr lebt.“
Obermeyer fuhr von seinen Notizen hoch. „Er hat sie ermordet?“
„Sozusagen. Er hat sie soweit getrieben, daß sie sich das Leben genommen hat.“
„Wann war das?“
„In der vergangenen Woche. Sie sollte zu ihrem Vater nach Hongkong übersiedeln, weil ich mit ihr hier nicht mehr fertig wurde. Am Tag ihrer Abreise ist sie ihren Begleitern entwischt und hat sich umgebracht.“
„Mein aufrichtiges Beileid“, murmelte Huber und machte die Andeutung einer Verbeugung. Dann sah er seinen Kollegen an. Obermeyer nickte.
„Ich glaub, das wär’s für’s erste. Wir werden Ihrem Hinweis nachgehen. Vielen Dank, daß Sie uns zur Verfügung gestanden haben. Wir werden uns sicher noch einmal melden, sobald es Ihnen etwas besser geht.“
Sobald die beiden Beamten auf dem Gang standen und die Tür zu Angelika von Weerendonks Krankenzimmer hinter sich geschlossen hatten, fragte Huber: „Was hältst Du von der Geschichte?“
Obermeyer hob die Schultern. „So wie sie aussieht, klingt das glaubwürdig. Jedenfalls was die Entführung und die Mißhandlung angeht. Und ihr Verdacht bezüglich des Täters, das wird sich überprüfen lassen.“
„Na, dann mal los.“
***
Noch am selben Tag suchten Beamte der Kieler Kriminalpolizei, die von ihren Münchener Kollegen um Hilfe gebeten worden waren, Martin Schöllers Eltern auf. Auf deren Aussage hin, daß sich ihr Sohn zur Zeit in der psychiatrischen Klink in Bremen aufhalte, da er zusammengebrochen war, nachdem man ihm die Nachricht von Franziskas Tod überbracht hatte, wandten sich die Beamten an die Kollegen aus Bremen, die die Aussage der Eltern bestätigten. Ja, Martin Schöller halte sich seit etwa einer Woche im Krankenhaus auf. Er stehe unter ständiger Beobachtung und habe die Klinik seit seiner Einlieferung nicht verlassen.
Von ihren Kollegen erfuhren die Kieler, daß es eine Untersuchung des Todes von Franziska von Weerendonk gegeben habe. Es sei eindeutig von einem Suizid des Mädchens auszugehen. Fremdeinwirkung könne mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Staatsanwaltschaft in Kiel habe die Ermittlungen aufgrund des Obduktionsberichtes eingestellt.
Unverzüglich informierten die Kieler Beamten ihre Kollegen in München vom Ergebnis ihrer Untersuchungen. Martin Schöller käme als Täter nicht in Frage.
Kriminalhauptkommissar Georg Huber klappte den Deckel der Ermittlungsakte zu und sah seinen Kollegen, Kommissar Markus Obermeyer, der am Schreibtisch gegenüber saß und das Telephongespräch aufmerksam verfolgt hatte, nachdenklich an.
„Warum erzählt die Frau uns so eine haarsträubende Geschichte?“
„Das kann ich Dir sagen“, antwortete Obermeyer. „Während die Kollegen in Kiel und Bremen aktiv waren, habe ich mich mal ein bißchen umgehört. Unsere Schauspielerin scheint ein ziemliches Früchtchen zu sein. Sie hat schon einmal versucht, den Jungen ins Gefängnis zu bringen. Fast wäre es ihr auch gelungen. Sie hat ihn angezeigt, weil er angeblich ihre Tochter vergewaltigt hätte. Aber der Junge hat Glück gehabt. Er hatte einen guten Anwalt, der nachweisen konnte, daß an diesen Anschuldigungen nichts dran war. Die Beiden hatten zwar Sex miteinander, aber das Mädchen hat vor Gericht klipp und klar erklärt, zu jeder Zeit damit einverstanden gewesen zu sein. Von Vergewaltigung könne überhaupt keine Rede sein, hat sie ausgesagt. Das Gegenteil sei der Fall. Der Richter hat Schöller daraufhin freigesprochen.
Die Mutter des Mädchens muß nach der Urteilsverkündung getobt haben wie eine Wilde. Sie war damals ein echter Star. Es gab einen riesigen Aufstand in der Presse, der sich für sie zu einem Skandal ausweitete. Daraufhin war’s mit dem großen Star erstmal vorbei. Ein ganzes Jahr lang hat man von ihr nichts mehr gehört und gesehen. Dann bekam sie wieder erste, kleine Rollen. Im “Tatort“ oder so. Wo ich sie auch mal gesehen habe. Aber so hoch oben wie früher ist sie längst nicht mehr. Und so wie’s aussieht, wird sie da auch nicht wieder hinkommen.“ Er kicherte leise. „Es sei denn, man sucht für einen Film die Zwillingsschwester des Glöckners von Notre Dame, oder sowas?“
Huber zog die Stirn in Falten. „Jetzt werd mal nicht geschmacklos.“
Obermeyer hob entschuldigend die Hände. „Ich sag nur, was ich sehe.“
Huber winkte ab. „Ja, ja, ist ja schon gut. Jedenfalls, das wünscht man keinem. Nicht was sie durchgemacht haben muß, und das Ergebnis schon gar nicht. Die ist ruiniert für ihr ganzes Leben.“
„Zumal sie ja auch noch den Mord an ihrem Liebhaber verkraften muß“, ergänzte Obermeyer und tippte auf eine Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
Huber sah ihn fragend an.
„Ja“, erklärte Obermeyer. „Ich weiß nicht, ob Du das mitgekriegt hat. Der Tote, den man im Hafen von Hongkong gefunden hat, ein Doktor Kern, ziemlich zwielichtige Gestalt, übrigens, das war ihr Kerl.“
„Nee, weiß ich nix von. Ob da irgendein Zusammenhang besteht?“
„Keine Ahnung, glaub ich aber kaum. Den hat irgendjemand bestialisch abgeschlachtet. Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Gliedmaßen abgeschnitten, Augen ausgestochen, Ohren abgesäbelt. Und alles, als er noch gelebt hat. Zum Schluß haben sie ihn dann der Länge nach aufgeschlitzt. Unglaublich sowas. Aber ich glaube kaum, daß irgendjemand von hier was damit zu tun hat. Wahrscheinlich ist er irgendeinem Chinesen mal auf die Füße getreten. Die vom Morddezernat meinen das auch. Hat ja auch reichlich im Trüben gefischt, der Guteste. Auf jeden Fall war die von Weerendonk mit ihm liiert. Hat sich aber gelohnt für die Dame. Der Typ war steinreich, und sie hatte die Verfügungsgewalt über seine Konten. Also hat sie mal eiskalt alles abgeräumt, nachdem ihr Geliebter verblichen war. Ist jetzt schwerreich, die Dame.“
„Hat sie vielleicht dran gedreht?“
Obermeyer wiegte den Kopf hin und her. „Glaub ich nicht. Wieso hätte sie sollen. Soweit die Kollegen rausgekriegt haben, hat er sie auf Händen getragen.“
Huber schlug mit beiden Händen auf den Tisch und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Wie auch immer, ich glaub, das bringt uns nicht weiter. Ich denke eher, irgendjemand hier hatte ein Hühnchen mit ihr zu rupfen.“
„Fragt sich nur, wer“, gab Obermeyer zurück.
„Das ist die große Frage“, meinte Huber nachdenklich.
Aber soviel sie auch nachdachten, nachforschten und ermittelten, es ließ sich nicht feststellen, wer der Schauspielerin so übel mitgespielt hatte. Es gab keinen Hinweis, so sehr sie auch Angelika von Weerendonks Lebensgeschichte ausleuchteten.
***
Die Schauspielerin, Mädchenname Angelika Härtel, stammte aus kleinen Verhältnissen. Die Familie war im Münsterland zu Hause, der Vater arbeitete in einem Malerbetrieb, die Mutter war Hausfrau. Mit Mühe schafften es die Eltern, ihr einziges Kind zum Gymnasium zu schicken, das sie allerdings nicht bis zum Abitur besuchte. Sie ging vorher ab und bewarb sich an einer Schauspielschule, wo man ihr Talent entdeckte. Sie wurde gefördert, nicht zuletzt deshalb, weil sie es skrupellos und ohne Rücksicht auf irgendwen oder irgendetwas verstand, sich ins rechte Licht zu rücken. Was bei ihren körperlichen Vorzügen, die sie bei jeder Gelegenheit einsetzte, schließlich auch zum Erfolg führte. Sie bekam kleinere, dann größere Rollen beim Film, wurde bekannt, machte sich einen Namen.
Sie lernte den Geschäftsmann Albrecht von Weerendonk kennen, heiratete ihn, kaum dem Teenageralter entwachsen und nahm seinen Namen an. Der Mann war ein gutes Stück älter als sie, doch er vergötterte die junge Frau. Entscheidend für sie war, daß er steinreich war und sie mit seinem Geld verwöhnte. Für sie hatte die ganze Affäre mit Liebe nichts zu tun. Sie wurde schließlich berühmt als Angelika von Weerendonk, entwickelte sich zu einer wahren Diva mit allen Eigenschaften, die mit diesem Ruf einhergehen. Inwieweit das Geld und der Einfluß ihres Ehemannes auf ihrem Weg an die Spitze eine Rolle spielten, läßt sich nur vermuten. Wahrscheinlich war es eine entscheidende, aber es ist durchaus möglich, daß ihr Ruhm sich tatsächlich nur auf ihr Talent gründete. Sehr wahrscheinlich ist es allerdings nicht.
Bald nach der Hochzeit gebar sie eine Tochter. Franziska. Besonders glücklich war sie nicht darüber. Ein Kind, was sollte sie mit einem Kind? Für Albrecht von Weerendonk hingegen war es die Erfüllung eines langgehegten Traums. Er hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als mit dieser, in seinen Augen anbetungswürdigen Frau ein Kind zu haben. Die sorgte allerdings dafür, daß dieses Kind, das sie nie im Leben haben wollte und das sie nur wie einen Klotz am Bein empfand, sie in ihrem von Luxus und Glamour geprägten Leben so wenig wie möglich behinderte. Schon bald nach der Geburt überließ sie es der Obhut einer Kinderfrau. Wechselnder Kinderfrauen, genauer gesagt, denn die Betreuerinnen des Kindes kamen und gingen.
Erschien es der Mutter sinnvoll, trat sie mit dem Kind auf. Und Auftritte waren es. Denn mit Füttern, Wickeln, am Bett zum Einschlafen Lieder singen oder Geschichten vorlesen, hatte Angelika von Weerendonk nichts zu schaffen. Ihre Tochter war für sie lediglich ein Marketingobjekt.
Und der Vater? Albrecht von Weerendonk glänzte die meiste Zeit durch Abwesenheit. Seine Geschäfte trieben ihn mal hierhin, mal dorthin. Wenn er zu Hause war, verwöhnte er seine Tochter über die Maßen, aber zu Hause war er eben äußerst selten.
Also wuchs das Kind Franziska auf mit der zurückhaltenden Liebe stets wechselnder Kinderfrauen und der seltenen ihres Vaters als das Klischee des armen, reichen Mädchens, diesseits und jenseits der Schwelle zum Unglücklichsein.
Die Familie lebte in einer schloßartigen Villa mit riesigem Grundstück im Münsterland. Obwohl ganz in der Nähe ihres Elternhauses, spielten die Eltern Angelika von Weerendonks in ihrem Leben eine höchst untergeordnete Rolle. Nachdem sie eine gewisse gesellschaftliche Stellung errungen hatte, wollte sie von den einfachen Leuten, die ihre Eltern waren, kaum mehr etwas wissen. Als Schauspielerin hatte sie vor allem zwei Dinge im Auge: Ansehen und Reichtum. Alles andere interessierte sie nicht. Sie suchte die Nähe von denen, die diesen beiden Zielen förderlich sein konnten und mied den Kontakt zu allen anderen. So auch ihren Eltern.
Das Kind, das sie irrtümlicherweise geboren hatte, war mehr das Aushängeschild einer intakten Familie, soweit es der Karriere nützlich war. Ansonsten wurde es der Obhut anderer übergeben, die sich um Versorgung und Aufzucht dieses Nachwuchses kümmern sollten. Folgerichtig kam das Mädchen in ein Internat, sobald es das nötige Alter erreicht hatte. Franziska war eine reine Nebensache. Das Verhältnis der Drei zueinander war entsprechend. Tiefere Gefühle, wie sie normalerweise zwischen Eltern und ihren Kindern üblich sind, entwickelten sich nicht.
Mit vierzehn Jahren lernte Franziska den vier Jahre älteren Martin Schöller kennen. Sie verliebte sich in ihn, es entwickelte sich eine innige, intime Beziehung zwischen den beiden, die der Mutter mißfiel, sobald sie davon erfuhr. Martin Schöller war durchaus nicht der Typ, den sich Angelika von Weerendonk als den Partner ihrer Tochter vorstellte. Obwohl selbst aus sehr einfachen Verhältnissen stammend, betrachtete sie das Verhältnis der beiden jungen Leute als eine Mesalliance, die es unter allen Umständen zu verhindern galt, zumal sie es mißbilligte, daß sich ihre Tochter bereits in so jungen Jahren einem anderen anschloß.
So unternahm sie alles in ihrer Macht Stehende, um das Verhältnis der Beiden zu durchkreuzen, bis hin zu einer Anklage gegen den jungen Mann, ihre Tochter vergewaltigt zu haben. Ihre Bemühungen blieben letztlich erfolglos, denn das Mädchen hatte es verstanden, nicht zuletzt auch zurückgehend auf eine versuchte Intrige seiner Mutter, in dem Schweizer Finanzmagnaten André Schindler einen mächtigen Verbündeten zu gewinnen, der Franziska nach Kräften unterstützte und gegen den die Mutter mit ihren Ränkespielen nicht ankam.
Tapfer durchkreuzten die beiden jungen Liebenden alle Versuche der eifersüchtigen Mutter des Mädchens, ihre Beziehung zu hintertreiben. Alle, bis auf den letzten Schachzug, den Angelika von Weerendonk, die sich mittlerweile von Albrecht von Weerendonk getrennt und in dem Rechtsanwalt Doktor Harry Kern einen neuen Partner gefunden hatte, sich mit diesem ausgedacht hatte. Darüber verzweifelte das junge Mädchen so sehr, daß es keinen anderen Ausweg mehr sah, als im Alter von sechzehn Jahren den Freitod zu wählen.
Das alles erläuterte Kommissar Markus Obermeyer seinem Kollegen und Vorgesetzten, Hauptkommissar Georg Huber und schloß:
„So sieht’s aus. Wenn Du so willst, hat also die Mutter ihre Tochter in den Selbstmord getrieben, und der Junge ist die tragische Figur dabei. Ein starkes Motiv hätte er also schon, sich an der Mutter zu rächen, aber so wie’s aussieht, hat er’s nicht getan. Und so wie die Bremer Kollegen ihn schildern, wäre er auch gar nicht der Typ dazu.“
„Und was ist mit diesem väterlichen Freund, diesem Schweizer?“
„Du meinst André Schindler?“ Obermeyer atmete tief durch. „Der hätte die Möglichkeiten natürlich, gewaltige Möglichkeiten. Aber das läßt sich nicht nachweisen. Er könnte eine solche “Bestrafung“ der Mutter des Mädchens durchaus eingefädelt haben. Die Mittel hätte er allemal. Aber seine Spur nachzuverfolgen ist nahezu unmöglich. Kaum jemand weiß, wo er sich wann gerade aufhält. Er reist mit gemieteten Flugzeugen, ist ständig unterwegs, und sein jeweiliger Aufenthaltsort ist schwer festzustellen. Natürlich sollten wir versuchen, rauszukriegen, wo er an jenem Abend gerade war, als Angelika von Weerendonk überfallen wurde, aber ich glaube, das bringt uns kaum weiter. Erstens wird sich so ein Typ kaum selbst die Hände schmutzig machen, und zweitens glaube ich nicht, daß irgendjemand in seiner Umgebung den Mund aufmachen wird. Aber versuchen sollten wir’s auf jeden Fall.“
Kommissar Obermeyer sollte mit seiner Vermutung recht behalten. So sehr sich seine Leute auch bemühten, alle Nachforschungen bezüglich André Schindlers verliefen im Sande. Die Mauer des Schweigens, die diesen mächtigen Schweizer Finanzmagnaten umgab, erwies sich als zu stabil und zu hoch. Es war äußerst unbefriedigend, aber schließlich mußten sie die ganze Sache erfolglos abbrechen. André Schindler, dem die Bemühungen der Münchener Kriminalpolizei natürlich nicht verborgen blieben und die er mit Interesse verfolgte, blieb unbehelligt.
***
Inzwischen war Angelika von Weerendonk aus dem Krankenhaus entlassen worden. Der Bruch ihrer Unterschenkelknochen, ebenso wie die Verletzungen, die sie durch die Mißhandlungen erlitten hatte, heilten zufriedenstellend, obwohl sie auch nach dem Abheilen der Wunden dauerhaft entstellt blieb. Wie es bereits der Arzt in der Notfallambulanz bei ihrer Aufnahme ins Krankenhaus angedeutete hatte, war ihr Gesicht und auch die Narben an ihrem Körper nicht mehr zu reparieren. Obwohl die Schauspielerin alles daransetzte, es zu versuchen. Ihre Bemühungen scheiterten samt und sonders.
Man hatte ihre Nase richten können. Gegen die Narben, die sich über beide Wangen und über die Stirn hinzogen waren die Ärzte jedoch machtlos. Die Wunden hatten sich durch die Zuckerkristalle sofort entzündet, so daß sie schlecht abheilten und wulstige Narben bildeten. Diese mannigfachen Wülste beseitigen zu wollen, war einfach ein sinnloses Unterfangen. Die übrige Haut ihres Körpers und ihrer Gliedmaßen sah nicht anders aus, nur daß es ihr hier möglich war, die Verunstaltungen durch Kleidung unsichtbar zu halten. Im Gesicht gelang das hingegen nur höchst unvollkommen, trotz der Base-Cap die sie, tief in die Stirn gezogen, zu tragen pflegte und der großen, dunklen Brille. Die vernarbten Wangen gaben ihr das Aussehen einer alten Frau. Oft mußte sie den Spott der Kinder ertragen, die sich hinter ihrem Rücken mehr oder weniger verhalten zuflüsterten: „Ey, guck mal, hast Du die geseh’n? Die sieht ja aus wie ‘ne Hexe.“
Von der einst so berühmten und gefeierten Schauspielerin Angelika von Weerendonk war nichts mehr übrig geblieben. Das Talent zum Schauspielern hatte sie freilich noch, aber niemand konnte und wollte es nutzen. Ihr Agent gab seinen Auftrag zurück, sie wurde von sämtlichen Besetzungslisten gestrichen. Die Zäsur in ihrem Leben war allumfassend. Sie mußte sich neu orientieren.
Viele Möglichkeiten dazu eröffneten sich ihr nicht. Tatsächlich blieb ihr als einzige, sich mit dem Geld, über das sie nun reichlich verfügte, ein angenehmes Leben zu machen. Soweit das unter den gegebenen Umständen möglich war.
In den Kreisen, in denen sie einst zu verkehren pflegte, war sie nunmehr eine Unperson. Den Eintritt zu gesellschaftlichen Ereignissen mußte sie sich erkaufen. Das gelang ihr gelegentlich, aber bei weitem weniger oft, als sie es sich erhofft hätte. Wenn es ihr dann gelungen war, sich Zutritt zu dem einen oder anderen Fest zu verschaffen, auf dem man sie in früheren Zeiten begeistert begrüßt hätte, wurde sie behandelt wie eine Aussätzige. Nie mehr war sie der strahlende Mittelpunkt eines solchen Festes, auf den wilden Parties auf den millionenteuren Yachten der Schönen, Reichen und Berühmten in Saint Tropez oder Monte Carlo, den Empfängen der Filmfestspielen in Cannes, Venedig oder Berlin, den Preisverleihungen in Rom oder in Los Angeles. Die einzige Bemerkung, die sie über sich und ihr Aussehen zu hören bekam, lautete:
„Mein Gott, die sieht ja schrecklich aus. Dabei war sie mal eine echte Schönheit. Jetzt sollte man lieber aufpassen, nicht zusammen mit ihr photographiert zu werden.“
Anfangs war sie darüber regelmäßig in Tränen ausgebrochen. Dann hatte sie sich damit arrangiert, und schließlich gewöhnte sie sich an ihre Rolle als Aussätzige. Sie mied die Kameras, bewegte sich unauffällig und bemühte sich, ihre wenigen Gesprächspartner nicht durch ihr Aussehen zu kompromittieren. Wodurch sie sich letztlich wieder einen gewissen Respekt erwarb. Man pflegte wieder einen gewissen Umgang mit ihr, aber diskret. Sehr diskret.
***
Ansonsten genoß Angelika von Weerendonk ein Leben in Luxus. Ausgestattet mit nahezu unerschöpflichen finanziellen Mitteln, verkaufte sie ihre Wohnung in München und übersiedelte auf die Karibikinsel Saint Barthelemy in jenes Anwesen, in dem sie mit Harry Kern ihr erstes und einziges gemeinsames Weihnachtsfest verbracht hatte. Für alle Fälle unterhielt sie aber auch Apartments in Kitzbühel, Saint Tropez und Santa Monica, an der kalifornischen Pazifikküste. Schließlich konnte man nie wissen, wann und wo man eine Operationsbasis brauchen würde. Es stellte sich heraus, sie brauchte sie kaum, fast gar nicht.
Ihr Alltag gestaltete sich eintönig, monoton. Umgeben von einem Heer von Angestellten sonnte sie sich im eigenen Garten, schwamm im eigenen Pool, ließ sich das Essen nach Wunsch zubereiten von einem Koch, der zuvor ein Sterne-Restaurant geführt hatte. Allerdings nahm sie ihre Mahlzeiten allein zu sich. Gesellschaft hatte sie nur, wenn einer ihrer Angestellten ihr einen Gesellschafter oder, je nach Stimmungslage, eine Gesellschafterin zuführte. Zu Tisch, oder auch an ihr Bett, wenn sie gerade das Bedürfnis danach spürte. Wirklich befriedigend allerdings waren diese Zusammenkünfte nicht. Ihr Leben war hohl, langweilig und inhaltsleer.
Gelegentlich verließ sie ihre Insel und unternahm Reisen. Zu allen Traumzielen dieser Welt. Nach Rio zum Karneval, nach New York, London, Paris oder Rom zum Einkaufen, auf die Seychellen, Malediven, nach Mauritius oder eine der Südseeinseln, in die Rocky Mountains, die Dolomiten oder die chilenischen Anden zum Skilaufen, wonach ihr gerade der Sinn stand. Sie konnte es sich erlauben, so oft sie wollte und zu jeder Zeit.
Gelegentlich standen auch Reisen auf Kreuzfahrtschiffen auf ihrem Programm, je öfter, desto älter sie wurde.