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2. Martin
ОглавлениеWie war Martin Schöller überhaupt so weit gekommen?
Zur See fahren wollte er schon immer. Allemal, nachdem ihn sein Onkel zum ersten Mal mit auf sein Segelboot genommen hatte. Damals war er noch ein kleiner Junge gewesen. Dann wurde er größer, und als Teenager durfte er sogar gelegentlich alleine mit dem Boot hinaussegeln. Sobald er alt genug war, legte er die entsprechenden Prüfungen ab und fuhr über die Ostsee, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.
Sein Onkel hatte volles Vertrauen zu ihm, denn schon früh erwies Martin sich als ein sehr verantwortungsbewußter Junge, der die Situation zu jeder Zeit richtig einzuschätzen wußte und nie leichtsinnig war.
Martins Leben war aufregend und geordnet, abenteuerlich und behütet, meistenteils gewöhnlich, aber ein wenig außergewöhnlich doch, von Zeit zu Zeit. Er wurde geliebt von seinen Eltern, gemocht von seinen Kameraden, und doch schickte man ihn weit weg, ins Internat, weil sich dort Chancen boten, die sich ihm zuhause nicht eröffneten.
So zog er fort. Nicht gerne, aber doch in der Einsicht, die Gelegenheit, die sich ihm bot, zu nutzen. Er war ein eifriger Schüler, der gute Leistungen brachte, aber doch ständig heimwehkrank. Am Anfang stärker, aber das legte sich, als er ein wenig älter wurde. Dennoch fieberte er in all den Jahren dem Tag entgegen, an dem es Ferien gab und er nach Hause fahren konnte.
Bis zu dem Tag, an dem sich alles änderte. Als ein kleines Mädchen ihn bat, von ihm mitgenommen zu werden, auch nach Hause, auch in die Ferien. Wobei, so klein war sie eigentlich gar nicht. Vierzehn und ein richtiger Teenager. Ein wenig keß, aber ziemlich unglücklich. Im Grunde genommen hatte er wenig Wert auf ihre Gesellschaft gelegt, aber je länger die Fahrt vom Internat in Klagenfurt nach Deutschland und dann hinauf in den Norden dauerte, desto mehr hatte er seine Meinung geändert. Er fing an, sie zu mögen. So sehr, daß ihm der Abschied von ihr sogar ein wenig schwerfiel, als er sie zu Hause absetzte.
Aber dann überwog die Vorfreude auf seinen geplanten Segelurlaub. Er ganz allein, mit der prächtigen Segelyacht seines Onkels. Von Neustadt in Holstein hinaus auf die Ostsee, nach Dänemark oder wohin der Wind ihn auch treiben mochte. Ihn und das Boot und mit ihnen Ludwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart, Antonio Vivaldi und Johann Sebastian Bach mit ihrer Musik, die er so sehr liebte. Oder auch Glenn Miller, Duke Ellington und Frank Sinatra. Dann verwandelte er das Deck der “Blue Star“, der Segelyacht seines Onkels in einen Konzertsaal oder auch in eine Showbühne, je nachdem in welcher Stimmung er gerade war. Dann ließ er sich über die Wellen tragen, war “In the Mood“, hörte “The Summerwind“ in den Segeln rauschen, oftmals mit Tränen in den Augen, wenn in einer sternklaren Nacht das “Große Hallelujah“ erklang aus Händels “Messias“ oder er versunken war in Beethovens “Pastorale“ beim Ansteuern des nächsten Hafens: “Frohe Gedanken bei der Ankunft auf dem Lande“. Lachen mußte er jedesmal, wenn er eines seiner Lieblingsstücke anhörte, Beethovens „Mondscheinsonate“, derentwegen er einmal einen argen Rüffel seines Klavierlehrers kassiert hatte, als er das Klavierstück mit diesem Namen bezeichnete.
„Mondscheinsonate!“ hatte der alte Mann mit grimmigem Gesicht und Groll in der Stimme verächtlich gesagt. „Sonate, Opus siebenundzwanzig, Nummer Zwei in cis-Moll heißt das Werk. Mondscheinsonate! Du bist wohl zu arg vom Mond beschienen worden, scheint mir.“
Er würde das Opus siebenundzwanzig, Nummer Zwei in cis-Moll nie mehr vergessen. Sein Leben lang nicht!
An diesem Tag stand ihm der Sinn mehr nach Joseph Haydns “Schöpfung“, von der er eine alte Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan aufgetrieben hatte. Aber dann stand plötzlich eine ganz andere “Schöpfung“ vor ihm, keineswegs alt, sondern erst vierzehn Jahre, mit endlos langen Beinen, ebensolchen Haaren, bis zum Po, braunen Rehaugen und sehr verschüchtert. Seine Mitfahrerin aus dem Internat. Ob er sie wohl mitnehmen könne auf seinem Segeltörn.
Er konnte, und er wollte. Und während sie gemeinsam über die Ostsee durch den Sommer segelten, entspann sich eine tiefe und innige Liebe zwischen ihnen, dem “Großen Kapitän“ und der “Kleinen Krabbe“, eine Liebe, so unrealistisch wie aus einem Kitschroman und doch so schön und so wirklich, daß man es kaum zu beschreiben vermocht hätte.
***
Daran dachte Martin jetzt, als er gegen drei Uhr in einer tropenheißen Südseenacht achtern auf dem Explorer Deck seiner “Hanseatic“ saß, ein Glas Wein neben sich und die Pfeife im Mund, die er sich nur gönnte, wenn er wußte, daß er ganz allein war. So hatte er auch seine Kapitänsuniform getauscht gegen Jeans und T-Shirt und nur die unvermeidliche Kapitänsmütze aufbehalten. Er saß in einem der bequemen Liegestühle, die tagsüber den Passagieren vorbehalten waren, sah achteraus in die schäumende Hecksee und hatte feuchte Augen bei dem Gedanken an diesen ersten Segeltörn mit seiner geliebten Franziska, der vierzehnjährigen Tochter der großen Schauspielerin Angelika von Weerendonk, seiner “Kleinen Krabbe“, die so gar nicht sein wollte wie ihre berühmte Mutter, sondern nur ein quirliger Teenager, der geliebt wurde und der zurücklieben durfte.
Martin hatte sie geliebt und sie ihn ebenso sehr, trotz aller Widrigkeiten, die ihre Mutter ihnen bereitete, sobald sie von dieser Verbindung erfuhr. Der armselige Habenichts mit der schwer reichen Tochter eines Filmstars. Aber sie hatten sich nicht aufhalten lassen. Ihre Liebe hatte diese Prüfungen überstanden. Alle, bis auf die letzte. An der war seine “Kleine Krabbe“ verzweifelt. So sehr, daß ihr alles Weitere sinnlos erschien. Also war sie gegangen. Unerreichbar weit weg, für immer und für alle.
Tränen liefen über Martins Gesicht, als er daran dachte. An den Tag, als ihm ein mitfühlender aber dennoch unbeteiligter Polizeibeamter die Nachricht von ihrem Tod überbrachte, an den Tag, an dem man sie begraben hatte, einem unfreundlichen, kalten Tag im Spätherbst im Nieselregen, an dem man sie in die Grube hineingelegt hatte aus der sie nie, nie wieder herauskommen sollte. Alles war so sinnlos gewesen damals, an diesem Tag, vor nunmehr fast zehn Jahren, an dem er am liebsten zu ihr in die Grube gesprungen wäre, um endgültig und für immer bei ihr zu sein.
Inken hatte ihn damals davon abgehalten. Und auch Jenny und Johannes und André Schindler und René und Reto. Sie alle hatten ihn mit Trost und Liebe zugeschüttet. So lange und so gründlich, bis er wieder zur Besinnung gekommen war.
Inken, die Tochter des Hafenmeisters aus Neustadt, seine beste Freundin aus Kindertagen. Wie sehr hatte er sie gemocht. Immer schon. Im Kindergarten und in der Schule, bis er wegging von zu Hause. Und auch dann wieder, nach Franziskas Tod. Aber lieben konnte er sie nicht. Sie war eine Freundin. Die Beste, die man je haben konnte. Aber nicht mehr. Sie hatte das verstanden und war ihm niemals böse gewesen. Jetzt war sie längst verheiratet, glücklich verheiratet und hatte zwei reizende Kinder, die er liebte und denen er Geschenke mitbrachte von wo immer er war in der Welt.
Jenny und Johannes, das widersprüchlichste Paar, das man sich nur vorstellen konnte. Noch immer waren sie zusammen. Jenny, die quirlige, lebenslustige und Johannes, der schüchterne, zurückhaltende, der kaum den Mund aufbrachte, nicht einmal im Bekanntenkreis.. Aber Jenny war verliebt in ihn wie am ersten Tag, als er Franziska Martins Brief überbrachte und vor Verlegenheit nicht wußte, was er sagen sollte. Da hatte er sich in Jenny verliebt, und diese Liebe war geblieben, unerschütterlich fest, bis zu diesem Tag. Die Beiden wohnten zusammen in München, wo sie auch studiert hatten und Jenny inzwischen in der Marketingabteilung eines Münchener Fernsehsenders arbeitete. Johannes hatte Jura studiert und inzwischen sein zweites Staatsexamen bestanden. Jetzt bereitete er sich auf seine Promotion vor. Danach wollte er in die Kanzlei seines Vaters einsteigen, der damals Martin aus dem Gefängnis geholt und vor Gericht vertreten hatte. Irgendwann wollten Jenny und Johannes auch heiraten, aber sie hatten es nicht sonderlich eilig damit.
Dann war da René Schindler, der sich um Franziska gekümmert hatte, als ihre Mutter sie in dem Internat in der Nähe von Genf interniert hatte. Dem Internat, in dem sie später so viele glückliche Stunden verbracht hatten. Aber zuvor war René für Franziska dagewesen, hatte die Briefe besorgt, die er und Franziska einander schrieben und hatte sie getröstet, wenn einmal keine Briefe geschickt werden konnten. Sissi hatte er sie genannt, weil sie das ewige “Franzi“ verabscheute, hatte seinen Freund Reto in ihr Geheimnis eingeweiht und war ein treuer Freund geblieben bis heute. Beide, René und Reto wohnten inzwischen in New York, nachdem René einige Jahre in London als Investmentbanker gearbeitet hatte. Aber dann waren sie das Versteckspiel um ihre Beziehung leid gewesen und hatten sich entschlossen, Europa zu verlassen. Renés Vater hatte ihnen den Weg geebnet und auch Retos Eltern hatten schließlich ihren Segen gegeben.
Ebenso ein treuer Freund war Renés Vater geblieben, der mächtige André Schindler, der schließlich Franziskas Tod gesühnt und ihre böse Mutter beruflich vernichtet hatte. Nie wieder würde Angelika von Weerendonk als Schauspielerin arbeiten können, dafür hatte er gesorgt. Doch nicht das war es, das Martin jedesmal, wenn er von Bord eines Schiffes kam und in den Urlaub gehen konnte, zuerst in die Schweiz fahren ließ, um André Schindler zu besuchen. Es war die tiefe Dankbarkeit, die er empfand, dem Mann gegenüber, der ihm wie niemand sonst neuen Lebensmut gegeben hatte und ihn auf den Weg gebracht hatte, den Weg, der ihn schließlich zum Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff führte. Jetzt, mit neunundzwanzig Jahren, war er dort angekommen. Und da saß er nun, nachts um drei Uhr, achtern, wo ihn niemand sah, in der lauen Nacht und weinte.
Er weinte, obwohl er sein Ziel erreicht hatte. Er war der “Große Kapitän“ geworden, von dem sie immer geträumt hatten, er und seine “Kleine Krabbe“. Aber dann hatte er sie verloren auf dem Weg dorthin. Und hatte diesen Verlust nicht verwinden können, bis heute nicht.
***
Oh, er hatte ins Leben zurückgefunden, das schon. Ziemlich schnell sogar, dafür hatten seine Eltern und seine Freunde gesorgt. Schon wenige Wochen nach Franziskas Tod hatte er auf einem Frachter der großen Hamburger Reederei angeheuert, um dort sein Praktikum zu machen, wie es erforderlich war, bevor er mit der Ausbildung zum nautischen Offizier beginnen konnte. Das halbe Jahr auf See hatte ihm gut getan. Er wußte, daß er seine Berufung gefunden hatte. Ein Leben auf dem Schiff, das war seins. Auch wenn er als “Moses“, als Lehrling und jüngstes Besatzungsmitglied die am wenigsten angenehmen oder anspruchsvollen Aufgaben übernehmen mußte, arbeitete er wie ein Besessener. Es half ihm, mit seiner Trauer fertig zu werden, und gleichzeitig schuf es die Grundlagen dafür, später ein guter Seemann zu werden.
Als er nach sechs Monaten das Schiff verließ, war er auf dem besten Wege dorthin. Der Kapitän ließ ihn nicht gerne ziehen, denn er hatte seinen “Moses“ als einen zuverlässigen Mann schätzengelernt, einer, dem keine Arbeit zu viel war, der zuverlässig war, vertrauenswürdig und obendrein noch ein guter Kumpel, den alle in der Mannschaft mochten. Auch wenn er bei den feucht-fröhlichen Abendrunden meist fehlte und sich statt dessen lieber auf der Brücke herumtrieb, von wo aus er stundenlang reglos und in Gedanken versunken auf die nächtliche See hinausstarren konnte. Die Wachhabenden hatten schnell begriffen, daß sie ihn dann nicht anzusprechen brauchten. Er würde sie nicht hören, so weit weg war er. Manchmal hatten sie auch das Gefühl, er weinte, aber sie scheuten sich davor, darauf einzugehen. Irgendetwas war mit dem “Moses“, das fühlten sie mehr als daß sie es wußten. Aber da er es offensichtlich für sich behalten wollte, ließen sie ihn in Ruhe. Am nächsten Tag war er wieder der aufgeräumte, gut gelaunte Kamerad, als den sie ihn kannten, der auch bei ihren manchmal derben Scherzen auf seine Kosten nicht seinen Humor verlor.
***
Nach dieser ersten großen Reise begann er mit dem Nautikstudium an der Maritimen Hochschule in Bremen. Eingeschrieben hatte er sich dort schon, bevor er sein erstes von zwei verpflichtenden Praktika an Bord eines Seeschiffes antrat. Als er ein halbes Jahr später nach Hause zurückkehrte, fand er dort einen Brief von André Schindler, der ihn bat, schnellstmöglich auf ein paar Tage in die Schweiz zu kommen. Es gebe etwas zu besprechen. Ein Rückflugticket Hamburg-Genf-Hamburg hatte Schindler gleich mitgeschickt.
Martin hatte nicht die leiseste Ahnung, was Schindler mit ihm zu besprechen haben sollte, und auch seine Eltern konnten ihm diesbezüglich keine Auskunft geben. Sie hatten lediglich Schindlers Brief entgegengenommen und ihn für Martin aufbewahrt. Der hielt sich dann auch nicht lange mit Rätselraten auf, sondern machte sich schon am folgenden Tag auf den Weg. Er freute sich, André Schindler wiederzusehen.
Schindlers altgedienter Chauffeur, Henry Bourant, erwartete ihn am Flughafen in Genf und brachte ihn gleich zu Schindlers prächtigem Haus in den Bergen. Der begrüßte ihn mit gewohnter Herzlichkeit.
„Komm rein, mein Junge, und such Dir einen Platz. Ich freu mich, daß Du gekommen bist. Erzähl mir von Deiner großen Reise. Wie hat’s Dir gefallen? Du bist ja mächtig weit rumgekommen.“
Und Martin mußte erzählen, den ganzen Nachmittag hindurch und auch beim Abendessen und danach. Schindler hatte sich viel Zeit für ihn genommen, was höchst selten vorkam, denn er war ein vielbeschäftigter Mann. Zwei Flaschen Wein leerten sie über Martins Bericht. Dann erst war Schindler zufrieden. Sein Gast durfte ins Bett.
Wie schon bei seinen Besuchen zuvor, nahm er das kleine Gästezimmer. Das andere, große, in dem er so viele glückliche Stunden mit Franziska verbracht hatte, hatte er nie wieder betreten, geschweige denn, darin eine einsame Nacht verbracht. Sein Herz klopfte heftig, als er an der geschlossenen Tür dieses Zimmers vorbeiging.
Nach dem Frühstück am folgenden Morgen bat Schindler ihn in sein Arbeitszimmer, wo er vor dem Schreibtisch Platz nehmen mußte. Schindler setzte sich dahinter und sah ihn mit ernster Miene an.
„So, Martin, jetzt sollst Du auch erfahren, warum ich Dich gebeten habe, hierher zu kommen. Ich nehme an, Du planst noch immer, in Bremen Nautik zu studieren?“
Martin nickte heftig. „Jetzt um so mehr, nachdem ich ein halbes Jahr zur See gefahren bin. Eingeschrieben hab ich mich schon, jetzt brauch ich nur noch ‘n Zimmer, und dann kann’s losgehen. Vier Semester Theorie, dann nochmal ein halbes Jahr aufs Schiff für das zweite Praktikum und danach wieder zwei Semester Theorie.“
„Gut. Soweit der Plan. Hast Du auch schonmal darüber nachgedacht, wie Du das Ganze finanzieren willst?“
Wieder nickte Martin. „Na klar. Fürs erste hab ich ja mal Geld verdient auf dem Schiff. Das reicht bestimmt für die ersten beiden Semester, wenn ich einigermaßen sparsam bin. In den Ferien will ich dann wieder aufs Schiff. Die in Hamburg haben gesagt, ich kann jederzeit wiederkommen, wenn ich will. Ganz wird das vielleicht nicht reichen, aber es bleibt bestimmt ‘ne Menge übrig. Mit meinen Eltern hab ich auch gesprochen, die können mir ‘n bißchen was dazugeben. Na, und dann krieg ich ja auch BaföG. Das muß ich zwar hinterher zurückbezahlen, aber das ist ja egal. Wenn man auf dem Schiff fährt, braucht man ja nicht viel Geld. Also kann ich das locker machen.“
Schindler sah ihn lächelnd an. „Schöner Plan, wenn auch ziemlich anstrengend, findest Du nicht?“
„Schon“, antwortete Martin achselzuckend. „Aber ich finde, er ist machbar. Außerdem hab ich ja gar keine andere Wahl. Ich will nun mal Schiffsoffizier werden, und dazu muß man halt studieren. Hilft ja nix. Und was anderes hab ich ja auch nicht mehr.“
Er senkte den Kopf. Schindler betrachtete ihn eine Weile. Dann lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück.
„Jetzt laß mal nicht die Ohren hängen, mein Junge. Du bist noch so jung, und Du hast noch eine ganze Menge. Als erstes hast Du mal einen guten Plan. Den ich voll unterstütze. Deshalb hab ich mir auch überlegt, Dir bei der Finanzierung des Studiums ein wenig unter die Arme zu greifen. Damit Du Dich voll und ganz darauf konzentrieren kannst und Dir keine Sorgen um’s Geld machen mußt.“
Martin fuhr hoch. Er wollte eine heftige Antwort geben, aber Schindler ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Nein, Du sagst jetzt nichts, Martin. Ich weiß sowieso, was Du mir antworten willst, aber diese Antwort will ich gar nicht hören. Sieh mal, ich bin ein relativ alter Mann, der hier ganz alleine lebt. Und ich habe soviel Geld, daß ich gar nicht weiß, was ich damit anfangen soll. René braucht nichts davon, der verdient selber mehr als genug. Und sonst hab ich doch niemanden. Also laß mich Dein Studium finanzieren, dann kann ich wenigstens etwas von meinem Geld sinnvoll ausgeben. Einverstanden?“
Martin war wieder in sich zusammengesunken. Er kämpfte mit sich, ob er das Angebot annehmen sollte. Ablehnen konnte er es nicht ohne seinen väterlichen Freund tief zu kränken. Und das wollte er auf keinen Fall. Andererseits konnte er sich aber doch auch nicht so ohne weiteres aushalten lassen. Klar, es stimmte, Schindler war so schrecklich reich, daß er die Ausgaben für Martins Studium wahrscheinlich nicht mal bemerken würde. Warum also nicht?
Schließlich sah er zu Schindler auf. „Also gut. Wahrscheinlich haben Sie recht. Wieder mal. Wie Sie ja immer recht haben.“
Er grinste. Schindler lachte zurück.
„Na also. Ich hab doch gewußt, daß Du vernünftig sein würdest.“ Er zwinkerte Martin zu. „Und weil ich mir darüber ziemlich sicher war, hab ich Dir nämlich auch schon eine kleine Wohnung gemietet. Du kannst sofort einziehen. Ist nicht weit von den Unigebäuden in der Werderstraße. Dein Auto brauchst Du da gar nicht.“
Martin schüttelte den Kopf. Aber er strahlte seinen Gönner an. „Sie sind unmöglich, Herr Schindler.“
„Ja, ja, ich weiß“, winkte Schindler ab. „Freust Du Dich wenigstens?“
„Ob ich mich freue? Ich bin ganz erschlagen vor lauter Freude. Und ich hab keine Ahnung, wie ich das je wieder gutmachen kann.“
Schindler blies die Backen auf. „Och, da fällt mir schon was ein. Spätestens, wenn Du erstmal Kapitän geworden bist.“
„Na da können Sie aber noch lange warten. Kapitäne werden nämlich ernannt. So ohne weiteres wird man das gar nicht. Und ob ich je mal das Glück habe?“
„Hast Du, mein Junge, da bin ich mir ganz sicher.“
Damals hatte Martin gelacht. Er ahnte nicht, wie schnell André Schindlers Prophezeiung in Erfüllung gehen sollte.
***
Aber zunächst war keine weitere Rede davon. André Schindler bestand darauf, daß Martin noch ein paar Tage bei ihm in der Schweiz verbrachte, um sich wenigstens eine kurze Zeit lang Ferien zu gönnen. Er nahm sich die Zeit, ihn zu verwöhnen, machte Bergtouren mit ihm, fütterte ihn mit gutem Essen und trank mit ihm den hervorragenden Wein aus seinem Keller, wobei sie beide gemeinsam Martins Lieblingsmusik hörten.
Aber dann war es Zeit für den jungen Mann, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Zwei kurze Wochen noch verbrachte er mit seinen Eltern in Neustadt, dann zog er um nach Bremen, in seine neue Wohnung, die André Schindler ihm zur Verfügung gestellt hatte.
Vom ersten Tag an vertiefte er sich in sein Studium. Es gab nichts anderes für ihn. Nie kam er unvorbereitet zu den Vorlesungen, nie versäumte er eine der Übungsstunden. Er vergrub sich hinter seinen Büchern, einem strengen Ritual folgend und sorgfältig darauf achtend, es nicht zu übertreiben. Er gestattete sich Auszeiten, durchaus. Dann saß er in seiner kleinen, gemütlichen Wohnung und hörte Musik. Dazu schmauchte er seine Pfeife, trank ein Gläschen Portwein oder zwei und las. Bücher über die Seefahrt waren seine hauptsächliche Lektüre. Manchmal amüsierte er sich selbst über sein absonderliches Verhalten. Aber er fühlte sich wohl dabei. Also, was sollte es?
Die Ergebnisse der Prüfungen in den Fächern des ersten Semesters resultierten in dreißig von dreißig möglichen Punkten. André Schindler bestand darauf, daß er ihn in seinem Haus in der Schweiz besuchte, um das Ergebnis zu feiern. Jenny und Johannes waren auch eingeladen und selbst René und Reto waren da, extra aus New York angereist. Er weinte bittere Tränen, als Jenny ihn zärtlich in den Arm nahm und Johannes nach seinen Händen griff und sie gar nicht mehr loslassen wollte. Aber dann wurde es ein schönes Fest.
Jedesmal wurde es das, nachdem Martin ein Semester abgeschlossen hatte. Dreißig von dreißig möglichen Punkten. Immer und in allen Fächern.
„Du bist ein verdammter Streber“, sagte Jenny, und sie lachte dabei und gab ihm einen dicken Kuß auf den Mund. „Genau wie der da.“ Und dabei zeigte sie auf Johannes, der prompt drei Schritte zurückwich und einen roten Kopf bekam.
Vater und Sohn Schindler, zusammen mit Reto lachten sich derweil kaputt über zwei gestandene, junge Männer, die sich von einer quirligen, jungen Frau in Verlegenheit bringen ließen.
„Womit fährst Du diesmal?“ fragte René.
„Mit der “Essen-Express“, wie immer“, antwortete Martin. „Kapitän Paulsen hat schon gefragt, ob ich wieder mitkomme. Natürlich hab ich ja gesagt. Die ganze nordamerikanische Küste runter, durch den Panamakanal und rauf bis nach Vancouver. Von da flieg ich dann zurück, weil das Schiff weiter nach Japan fährt und so. Aber das geht dann nicht mehr, weil dann die Ferien fast zu Ende sind. Ich freu mich schon wahnsinnig auf die Reise, denn da war ich noch nie.“
„Wenn Du in New York bist, mußt Du uns aber unbedingt besuchen“, verlangte René.
„Gern. Das geht sich bestimmt aus. Soweit ich weiß, liegen wir da mindestens einen ganzen Tag, weil die ganze Ladung umgeschlagen wird. Das dauert. Ich ruf Euch an, und dann machen wir was aus.“
Natürlich erwarteten ihn René und Reto im New York Container Terminal auf Staten Island, nahmen ihn mit in ihre Wohnung in Central Park West, wo sie ein fürstliches Dinner organisiert hatten und anschließend in die Metropolitan Opera zu Mozarts “La Nozze di Figaro“ für die es Karten schon eigentlich gar nicht mehr gab. Aber sie hatten welche besorgt, und Martin heulte die ganze Vorstellung hindurch, so sehr freute er sich an der Musik.
Dann brachten sie ihn zurück zum Hafen nach Staten Island, gerade noch rechtzeitig bevor das Schiff auslief. Der Kapitän empfing ihn an der Gangway.
„Dat war knapp, min Jong.“
Und er gab Martin einen kräftigen Klaps auf die Schulter.
Später dann, als sie losgemacht hatten und Kurs auf die offene See nahmen, dröhnte “Steuermann laß die Wacht“ aus Richard Wagners “Fliegendem Holländer“ über die Decks, zum Entsetzen der Wachhabenden und der übrigen Besatzung. Aber der Kapitän lachte sich darüber kaputt, als er bei einem Glas Brunello di Montalcino in seiner Kabine saß, zusammen mit Martin, der ihm den Wein ausgegeben hatte.
Weiter ging die Fahrt dann die amerikanische Ostküste hinunter nach Newport und Fort Lauderdale. In Höhe der Florida-Keys kamen sie in einen heftigen Sturm, den schlimmsten, den Martin bis dahin erlebt hatte. Es machte ihm nichts aus. Unerschüttert tat er seine Arbeit. Nur eben etwas langsamer als gewöhnlich, denn der starke Seegang warf das Schiff hin und her und seine Besatzung mit ihm. Es war unmöglich, für längere Zeit an einem Ort stehenzubleiben. Ständig mußte man Ausgleichsschritte machen, um die Balance zu halten.
Es ging allerlei zu Bruch in diesen Tagen. Der Smut stellte den Betrieb in der Kombüse ein und legte sich seekrank ins Bett. Sehr zum Unmut der halben Besatzung, die noch auf den Beinen war. Der anderen Hälfte machte es nichts aus. Sie lagen ebenfalls seekrank darnieder. Selbst den Zweiten hatte es erwischt. Also übernahm Martin seine Wache, nachdem Kapitän Paulsen ihn kurzerhand zum “Aushilfszweiten“ ernannt hatte.
„Aber Mann, Käpt’n, ich hab doch noch gar kein Patent“, protestierte Martin. „Wenn da was passiert.“
Der Alte knurrte nur. „Na und? Ick hebb ‘n Seemann nodich. Un Du biss’n Seemann, unn’n patenten noch dazu. Auch wenn’de kein Patent hast. Wat soll denn schon passier’n? Du sollst den Kahn ja nich durch’n Panamakanal schippern. Sondern nur schön grade-us. Dat wirs‘ doch wohl hinkriegen, wat? Unn’nu sabbel nich lang und mach Dich op de Brück. Der Friseur steht am Ruder. Mit dem wirs‘ schon klorkomm‘. Ihr kennt Euch ja ganz gut.“
So kam Martin zu seiner ersten Wache. Die Spätabendwache von zwanzig Uhr bis Mitternacht. Mitten im schlimmsten Sturm, den diese Gegend in dem Jahr erlebte. Und dunkel war’s natürlich auch um die Zeit. Die Radarbilder konnte man vergessen. Nicht auszumachen, was auf dem Schirm Küstenlinie, andere Schiffe oder auch nur Sturmwolken waren. Die Sicht durch die Scheiben war auch nicht die beste. Regen prasselte darauf, so heftig, daß die Scheibenwischer Mühe hatten, das Wasser beiseitezuschieben. Jedesmal wenn der Bug heftig eintauchte hoffte Martin, daß es nicht krachte und sie ein Fischerboot darunter begraben hatten. Selbst die Funkerei machte Schwierigkeiten. Nie war die Verständigung so beschissen gewesen wie jetzt.
Aber all das focht “den Alten“ nicht an. Nicht ein-mal ließ er sich auf der Brücke sehen, während Martin dort Blut und Wasser schwitzte. Erst nachdem die Wache zu Ende war und Martin völlig erledigt von der Brücke torkelte, kam er aus seiner Kabine, zog den jungen Mann zu sich herein und drückte ihn in einen Sessel. Ein gut gefülltes Wasserglas hielt er ihm hin.
„Hier, dat trinkste jetzt, damit dat Du wieder runterkommst und schlafen kannst. Prost min Jong. Dat hast Du gut gemacht.“
Daß es sich bei der wasserhellen Flüssigkeit in seinem Glas mitnichten um Wasser handelte, wußte Martin sofort. Tatsächlich war es weißer Rum von Puerto Rico. Der, der einem das besondere “Feeling“ verleiht. Und von diesem “Feeling“ bekam Martin in dieser Nacht reichlich. Als er in seine Kabine torkelte, war er sturzbesoffen. Aber glücklich. Ein richtiger Seemann eben.
In der Folge bekam Martin regelmäßig eine Wache übertragen.
„Dat mutt Du lernen, min Jong“, führte Kapitän Paulsen als Begründung an.
Und Martin entgegnete: „Ay, ay, Käpt’n“ und schob Wache.
***
Dann gingen die Ferien zu Ende, Martin mußte wieder von Bord. Ein paar Tage verbrachte er bei seinen Eltern in Neustadt, anschließend besuchte er André Schindler in der Schweiz, und an den letzten beiden Ferientagen schaute er bei Jenny und Johannes in München vorbei.
Danach stürzte er sich wieder in sein Studium in Bremen. Alles war so wie im vergangenen Semester. An jedem Werktag stand er früh genug auf, um ausgiebig frühstücken zu können, bevor er sich auf den Weg zur Uni machte. Das Mittagessen nahm er in der Mensa ein, die Zeit bis zum Beginn der Nachmittagsvorlesungen verbrachte er in der Bibliothek. Nach dem Ende der Vorlesungen machte er sich sofort auf den Heimweg. In seiner Wohnung nahm er ein frühes Abendessen zu sich und widmete sich danach noch einmal einige Stunden lang seinen Büchern. Gegen zehn Uhr lag er im Bett.
Der Samstag gehörte dem Haushalt. Waschen, Putzen, Einkaufen. Der Sonntag gehörte ihm selber. Da unternahm er, wonach ihm gerade der Sinn stand. Meist lief er durch den Bürgerpark, gleichgültig wie das Wetter war. Oft kehrte er dann am “Haus im Walde“ ein, um zu Abend zu essen. An den Wochenendabenden saß er zu Hause in seinem gemütlichen Wohnzimmer, hörte Musik, las und trank ein paar Gläser Wein dazu.
Für einen jungen Mann in seinem Alter, noch dazu einen Studenten, war Martin Schöller ein richtiger Langweiler. Er war zwar nicht gerade kontaktscheu, aber Freundschaften pflegte er keine. Einladungen lehnte er konsequent ab mit der Begründung, er habe keine Zeit. Wenn überhaupt, traf er sich mit seinen Kommilitonen, um zu arbeiten. Meistens saßen sie dann in einem der Übungsräume der Uni, von Zeit zu Zeit trafen sie sich aber auch in Martins Wohnung.
„Ist das Deine Freundin?“ fragte einer von ihnen dabei und nahm Franziskas Bild von Martins Schreibtisch, um es zu betrachten.
„Ja, das ist meine Freundin“, antwortete er ruhig.
„Sieht ziemlich jung aus.“
„Ist schon ein paar Jahre her, daß das Bild gemacht wurde. Aber ich find das so schön, deshalb steht’s immer noch da.“
„Warum bringst Du sie nicht mal mit?“
„Geht schlecht. Sie ist ziemlich weit weg.“
„Schade. Sie sieht niedlich aus auf dem Photo.“ Er stellte das Bild wieder auf den Schreibtisch zurück. „Ich hätte gar nicht geglaubt, daß Du ‘ne Freundin hast“, meinte er dann.
Martin lachte. „Warum nicht? Meinst Du, ein Freund würde besser zu mir passen, oder was?“
„Nein, nein, so war das nicht gemeint“, beeilte sich der Andere zu sagen. „Ich dachte nur, so wie Du immer drauf bist.“
„Wie bin ich denn drauf?“
„Na, Du hast nix als Uni im Kopf. Disco oder mal einen trinken gehen, total Fehlanzeige. Wie kann’s da ‘ne Freundin bei Dir aushalten?“
Martin blies die Backen auf. „Och, sie hat sich nie beschwert.“
„Wart’s ab. Wenn Du so weiter machst, dann kommt das garantiert.“
„Das ist mehr als unwahrscheinlich“, erwiderte Martin und wechselte das Thema. „Soll’n wir loslegen?“
Der Andere sah Martin an. „Von mir aus. Aber was ist denn los mit Dir? Du siehst aus, als ob sie Dir die Erdbeeren vom Teller geklaut hätten.“
Martin winkte ab. „Ach, nichts weiter. Es ist nur, das Wetter geht mir auf den Keks. Wahrscheinlich ist es deshalb.“
Mehr als drei Stunden saßen sie zusammen und arbeiteten. Als Martins Kommilitone sich schließlich verabschiedete, meinte er noch:
„Also, Deine Freundin würd ich doch gern mal kennenlernen. Ich frage mich, wie die wohl tickt, daß sie mit Dir zusammen ist.“
Martin gab ihm darauf keine Antwort. Er lachte nur. „Tschüß, mach’s gut. Wir sehen uns morgen in der Vorlesung.“
Dann saß er lange vor Franziskas Bild und weinte.
***
Zum Semesterabschluß war alles so wie immer. Dreißig von dreißig möglichen Punkten in allen Fächern. Zufrieden meldete sich Martin auf der “Essen-Express“ bei Kapitän Paulsen.
So reihten sich die Semester aneinander. Das sechste davon verbrachte er abermals auf dem Schiff. Das zweite Praktikum war fällig. Inzwischen war Martin schon längst nicht mehr der “Moses“. Paulsen ließ ihn mehr und mehr Aufgaben auf der Brücke übernehmen. Eines Tages, kurz vor der Ankunft in Hamburg, waren sie, wie üblich, auf der Brücke versammelt.
„So min Jong“, meinte Paulsen eher beiläufig“, nu sieh man tau, dat Du den Kahn an die Pier bringst.“
Martin sah seinen Kapitän entgeistert an. „Ich soll was?“
„Anlegen, Mensch“, blaffte der Alte. „Sieh zu, sieh zu. Wir ham nich ewich Tiet.“
Das Anlegemanöver wurde eine Katastrophe. Die Festmacher waren einmütig der Meinung, der Alte an Bord müsse besoffen sein, so wie der fuhr. Drei Versuche brauchte Martin, dann hatte er es endlich geschafft. Und die ganze Zeit stand der Kapitän dabei, kaute auf seinem Zigarillo herum und grinste sich eins.
„Dat mut wie noch üben“, stellte Paulsen klar, als sie endlich fest waren.
Und sie übten es. Solange, bis Martin es endlich begriffen hatte. Mehr als einmal wurde es dabei gefährlich eng. Aber der Alte hatte Nerven wie Drahtseile.
„Wenn Du so weiterfährst, hat der da vorn gleich’n Loch in den Kaldaunen“ kommentierte er trocken, als er feststellte, wie Martin, halbe Kraft voraus, auf einen Supertanker zuhielt.
Es war dann doch gerade nochmal gutgegangen, aber eine Flasche Brunello war fällig.
Bei der Rückkehr nach Hamburg klappte schließlich alles wie am Schnürchen. Selbst die Festmacher hatten nichts zu meckern. Martin brachte das Sechzigtausend-Tonnen-Schiff an die Pier, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Auch der Hafenlotse war beeindruckt. Und das wollte was heißen, hatte er doch Martins ersten Versuch ebenfalls begleitet.
Zwei weitere Semester später hatte Martin sein A6-Patent in der Tasche. „Kapitän auf großer Fahrt“ stand auf seinem Zeugnis. Nur, von einem Kapitän war er noch meilenweit entfernt. Als “Vierter“ heuerte er an, natürlich bei seiner Hamburger Reederei und natürlich auf seinem Schiff bei seinem “Alten“. Drei Jahre lang fuhr er dort. Diente sich allmählich hoch bis zum “Ersten“.
Er war hochzufrieden mit seinem Leben. Etwas Schöneres als zur See zu fahren konnte er sich nicht vorstellen. Nur etwas vermißte er immer noch, auch nach all den Jahren: Franziska. Oft dachte er an sie, vor allem während der einsamen Wachen, nachts auf hoher See, wenn alles ruhig war. Dann glaubte er manchmal ihr Spiegelbild zu sehen in den Scheiben auf der Brücke, durch die er hinaussah auf das Auf und Ab der Wellen, aus denen sie plötzlich aufzutauchen schien und ihm zulächelte aus der anderen Welt, in der sie jetzt war.
Die Rudergänger auf der “Essen-Express“ kannten seine Stimmungen, wenn sie auch nicht wußten, woher sie kamen, und sie hüteten sich dann, ihn anzusprechen. Wenn er wieder einmal ganz vorne auf der Brücke stand, bewegungslos und das Fernglas in der Hand, hinausstarrte auf die nächtliche See, als ob es dort etwas wer-weiß-wie Interessantes zu sehen gäbe. Für Martin gab es etwas zu sehen, etwas, das er niemandem verriet. Außer seinem Kapitän. Dem hatte er sich anvertraut. Irgendwann, in einer stürmischen Nacht, nachdem sie zwei Flaschen Brunello miteinander geleert hatten und “der Alte“ dann noch einen kräftigen Schluck Rum “drübergestreut“ hatte, wie er sich ausdrückte. Da hatte Martin sich ihm offenbart. Aber sein Geheimnis war bei Paulsen gut aufgehoben. Er mochte ein vierschrötiger, alter Seebär sein, aber er hatte ein Gefühl für das, was seine Leute umtrieb. Und zu Martin sagte er nur:
„Ick versteh man, dat Du se nich vergeten kannst.“
***
Dann kam der Tag, an dem Martin in seinem Urlaub einen Anruf von seiner Reederei erhielt, auf einem Schiff für plötzlich erkrankte Offiziere einzuspringen.
Paulsen wußte davon, und er hatte es den Leuten in Hamburg gesagt:
„Dä Schöller, dat is de geborene Seemann. Wenn einer de Käpt‘n sein kann, dann is dat de Martin. Ick mut dat segg’n, obwohl ick’n nich gern zieh’n lot. De Jong iss’n ganz Groß’n.“
Und er hatte weiter auf sie eingeredet, bis sie schließlich überzeugt waren, ihm das Kommando zu geben. Das Kommando auf einem ihrer besten Kreuzfahrtschiffe: Kapitän auf “MS Hanseatic“.