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2: Das Crocodile

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Ich sog die Luft ein, diese Aura von Verfall und Geheimnis, und stieg die Stufen nach oben. Im zweiten Stock kam ich an eine hohe, mit Schnitzereien verzierte Wohnungstür. Aus ihrem rechten Flügel hatte man einen Teil herausgesägt und eine Metalltür eingepasst, mit Spion und Tastatur für den Code. Ich drückte den Buzzer neben der nutzlos gewordenen Porzellanklingel. Ich weiß noch, dass mir ein Mann aufmachte, der sich sofort wieder abwandte und zurückging zu seinem Computer, der im Flur der Wohnung stand. Daneben standen noch vier oder fünf andere Computer auf Tischen, wie in einem Internetcafé oder Call Center. Alle waren von Männern besetzt, die mindestens mein Alter hatten und nicht wie Backpacker aussahen. Ich ging nach rechts in den Aufenthaltsraum, setzte mich auf einen Hocker an der Stirnseite der Bar, steckte mir eine Zigarette an. Ich hatte den Raum im Blick, den Balkon zur Straße im Rücken. Das wurde mein Platz, an dem ich viele Stunden zubrachte, bis Jamie einzog.

Die Wohnung hatte Charakter. Es gab Deckenstuck mit Puttenköpfchen und Rosen, im Fensterglas Flecken wie in erblindeten Spiegeln, Fischgrätenparkett, auf dem jeder Schritt knarrte. Siebzigerjahretapeten, die sich rollten wie alte Zehnägel. Über der Bar hing ein Bildschirm, auf dem Musikvideos liefen, mit viel nackter Haut. Vor Lenins Revolution hatten hier bestimmt reiche Leute gewohnt, mit Dienerschaft und französischer Gouvernante. Nach der Revolution hatte man sie verjagt und frischgebackene Sowjetbürger einquartiert. Zwei, drei Familien pro Zimmer, Küche und Bad für alle gemeinsam. Und nun, in ihrer neuesten Inkarnation, war die Wohnung ein Hostel. Ich erinnere mich an die Namen der Schlafsäle. Dingo, Shark, Koala, Ostrich und Crocodile. Und natürlich die Kangaroo Lounge, wo man sich traf. Alles war nach australischen Tieren benannt, denn der Betreiber des Hostels stammte aus Melbourne und pflegte seine Herkunft mit der üblichen Unbescheidenheit der Aussies.

Er hieß Gary und ich konnte mich über ihn nicht beschweren. Ich hatte auf seine Gastfreundschaft gehofft, auf ein Entgegenkommen, was das Finanzielle anging, doch was er für mich tat, übertraf meine Erwartungen. Er führte ein Hostel, wie man es kennt, mit Doppelstockbetten, Aufenthaltsraum, einem Please do your dishes-Schild in der Küche. Typische Gäste aber hatte er nicht. Er kam in die Lounge an jenem ersten Tag, unrasiert im Hawaiihemd, das über dem Bauch spannte, und offensichtlich verkatert. Als er meinen Rucksack an der Bar lehnen sah, stutzte er und musterte mich von unten bis oben: meine Trekkingsandalen und knielangen Shorts, das verschwitzte T-Shirt, die zum Zopf gebundenen, strähnigen Haare.

»Halleluja«, sagte er leise.

Es stellte sich heraus, dass ich der erste Backpacker war, den er begrüßte. Obwohl das Hostel schon zwei Jahre lang existierte. Er bot mir sofort einen Drink an, fragte mich aus. Woher, wohin, wie lange ... was man eben so fragt. Er tat es nicht beiläufig, sondern mit Ehrfurcht, wie einer, der sein Glück noch nicht glaubt. Ich nannte Indien als Ziel meiner Reise, den Überlandweg als bewusste Entscheidung. Zeit spiele keine Rolle, sagte ich, Geld schon. Zur Anmeldung zeigte ich meinen britischen Pass – die zweite Staatsbürgerschaft, die ich seit meiner Geburt besaß. Gary aber hatte ein feines Ohr. Er hörte an meinen Vokalen und meinem noch immer mit der Zunge getippten R, woher ich ursprünglich stammte.

»Wahnsinn«, rief er. »Du bist aus Südafrika!«

Jetzt blühte er richtig auf. Fast behandelte er mich wie einen lange verschollenen Bruder. Kein Saffa, schwor er, hatte je einen Fuß nach Odessa gesetzt. Brits ja, Aussies, Kiwis, Canucks und natürlich Amerikaner, die machten das Gros seiner Gäste aus. Dazu Franzosen, Deutsche, Spanier, Schweden. Alles schon da gewesen. Ich aber war eine Sensation, ein kleines Wunder. Er holte seine Putzfrau.

»Natascha«, sprach er feierlich, »dieser Mann ist ein Backpacker. Er heißt Guy Nicholas Green und kommt aus Südafrika, und er wird bei uns wohnen.«

Natascha war ein pummliges Mädchen, das wenig gemein hatte mit den Gazellen draußen in der Fußgängerzone. Sie starrte mich an, ein bisschen angewidert, wie mir schien, und erstaunt, dass ich hellhäutig war. Dann sagte sie etwas auf Russisch.

»Klar muss er duschen«, lachte Gary. »Aber erst muss er trinken.«

Der Stolichnaya brannte mir im Magen, denn außer einer moldawischen Salzbrezel am Morgen hatte ich noch nichts gegessen. Gary lieh mir ein paar Griwna, so hieß die Landeswährung, und gab mir das Passwort zu seinem Computer, damit ich über Skype meine Mutter anrufen konnte. Er bot an, dass mich ein Freund, der momentan vor der Krim kreuzte, im Segelboot nach Istanbul bringen würde. Dieser Freund war ein Kiwi, und auch das konnte in Garys Augen kein Zufall mehr sein. Er fing an, vom Commonwealth of Nations zu schwärmen, den historischen Banden zwischen unseren Ländern. Auf diese Freundschaft sollten wir uns besinnen in der slawischen Fremde, und wir tranken noch eine Runde, ehe er mir mein Zimmer zeigte.

Das Crocodile Dormitory lag auf der anderen Seite des Flurs. Es war groß und unbewohnt. Vier leere Doppelstockbetten: zwei links an der Wand, zwei rechts. Gary brachte mir Bettwäsche. Wie eine Präsidentensuite hatte er das Crocodile aufgespart für den Tag, an dem endlich ein echter, ehrlicher Backpacker einziehen würde, wie er mich nannte. Ich wählte das Bett am rechten Fenster, untere Liege. Die Matratze hing durch und war zu kurz für meine Beine, doch die Fensterbank war eine alte Marmorplatte, auf der ich, wenn ich mir dazu ein Kissen nahm, die Haltung des Gurus üben konnte, zu dem ich unterwegs war: wie er seelenruhig im Lotossitz saß, als wären seine Beine längst abgestorben, und über Gier, Hass und Nichtwissen sprach, die Ursachen für alles menschliche Leid.

Das Zimmer wurde vom Hinterhaus vor der Sonne geschützt. Ich schlief gut und erwachte mit ruhigem Geist, wenn morgens auf den Simsen die Tauben gurrten. Weil ich allein wohnte, konnte ich mich seelenruhig aus dem Laken schälen, nackt umhergehen und die Einheimischen im Hinterhaus beobachten, wenn sie ihre Fenster öffneten und mit der Hand fühlten, ob die Wäsche an den kleinen Stricken trocken war. In diesem Zimmer fiel mich die Hitze nicht an wie eine Hyäne. Es gab viel Platz, um ein bisschen Yoga zu üben, und da war noch etwas, das ich mochte: den Riss in der Wand gegenüber von meinem Bett, drei Meter lang und so breit wie meine Hand. Sand bröselte aus dem Gestein, wenn man kratzte. Ungünstige Bodenverhältnisse, erklärte mir Gary, dazu ein Labyrinth von Katakomben unter der Stadt, denn man hatte den Sandstein für die Häuser unterirdisch gewonnen.

Die Vorstellung, auf einem solchen geologischen Lochkäse zu sitzen, passte zu meiner Verfassung. Auch mein Fundament war ins Wanken geraten, und genau wie das Haus blieb ich beharrlich. Eine Qualität, die ich brauchte in den Telefonaten mit meiner Mutter. In Kapstadt war es eine Stunde früher als in Odessa. Ich störte Mutter regelmäßig beim Frühstück, das sie trotz der Wintertemperaturen von fünfzehn Grad plus auf ihrer Veranda einnahm. In eine Kaschmirdecke gewickelt saß sie an ihrem Tisch, vor sich einen Teller mit Croissants und die Gischtzungen des Atlantiks, der auf den Indischen Ozean traf. Ich hockte in Garys Besenkammer-Büro mit Blick auf die Wäsche der ukrainischen Nachbarn.

Mutter machte mir einen Vorschlag zur Güte, wie sie es nannte. Ich würde ein vorgezogenes Erbe aus dem Verkauf unseres Familiensitzes erhalten, genau wie meine Schwester, zu der ich seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Ich sollte nach Kapstadt kommen, um alles zu regeln. Dabei war das Haus längst verkauft und mein Anteil lag bequem auf der Bank. Mutter war nach Walker Bay gezogen, in eine Siedlung für reiche Rentner. Vater wohnte auch dort, allerdings nicht mehr bei ihr, sondern in einem Heim.

Nie gelang es mir am Telefon, seinen genauen Zustand zu erfahren. Mutter sagte mir nicht die Wahrheit. Sie betonte nur, wie gern er mich sehen würde – seinen einzigen, seinen verlorenen Sohn. Ich war auch nicht ehrlich zu ihr. Ich sagte, mein Projekt in Mexiko sei zu Ende und nun habe ich eins in der Ukraine zu laufen, sei stark eingespannt und brauche dringend einen Vorschuss aufs Erbteil, am besten in Dollar mit Western Union zu schicken.

»Wieso hast du nichts mehr?«, fragte sie in ihrer vom Alter knarzig gewordenen Stimme.

Ich hörte die Brandung in Garys Kopfhörer und das digital verzerrte Keifen der Möwen, die vor der Terrasse um Croissantkrumen bettelten.

»Man hat mich in Mexiko ausgeraubt«, log ich. »Und die neue NGO hier ist klamm.«

»Armer Guy«, sagte Mutter. »Komm heim, ich zahl dir den Flug.«

Und ich war wieder am Ende mit meinem Latein.

In jener ersten Woche mit den Bittstelleranrufen, bevor Jamie Durham einzog und meine Geldsorgen aufhörten, unternahm ich in Odessa viele Spaziergänge. Spazierengehen ist der Luxus des armen Mannes, genau wie die Beobachtung, das Gespräch, die Masturbation. Es war nicht immer leicht, mich aufzuraffen zu diesen Ausflügen. Ich wäre lieber im Hostel hocken geblieben oder im Treppenhaus, in der Vorahnung des inneren Friedens, den der indische Guru versprach. Doch die Grübelschleifen in meinem Hirn lösten sich nur auf, wenn ich dem Körper Bewegung verschaffte. Also ging ich spazieren und eignete mir wie nebenbei die Ortskenntnis an, die mich so wertvoll machen sollte in den Augen von Jamie.

Nach der Erkundung der Altstadt mit Deribasov Street, Seepromenade, Potemkintreppe und Hafen unternahm ich Ausflüge in den Park und zu den südlich aneinandergereihten Stränden. War ich an einem Ziel angekommen, wählte ich mir ein Objekt der Betrachtung. Trauriges war mir am Liebsten. Zum Beispiel setzte ich mich an einen altersschwachen Betontisch am Lanzeron-Strand und zählte die Wellen, die sich nicht im Traum messen konnten mit denen vor Mutters Terrasse. Am Bahnhof stellte ich mich in einen Fußgängertunnel und lauschte dem Gewirr der fremden Schritte, bis ich mir vorkam wie der einsamste Mensch auf der Welt. Auf dem Markt beobachtete ich Zigeunerinnen beim Feilschen und erkundigte mich nach dem Preis für Drahtspulen, Schrauben, zerfledderte Schuhe. Vor dem Schaukasten der Polizeistation rätselte ich über Steckbriefe gefundener Leichen. Ertrunken, erschossen, erwürgt? Wer konnte Hinweise geben zu diesen Unglücklichen?

In kleinen Eckläden beobachtete ich Alkoholiker, die ihre paar Griwna zusammenkratzten, um den billigsten Wodka zu kaufen. Ich sah Straßenkinder mit vom Leimschnüffeln fahlen Gesichtern und reiche Rüpel am Steuer von Landrovers, die sich den Weg frei hupten. Ich studierte Verwerfungen im Asphalt, Hinterhöfe im Abendlicht, blinkende Casinoreklamen, die Etiketten der Zigarettenschachteln am Kiosk. Stundenlang lief ich über die Boulevards, ohne Karte und sonstige Hilfsmittel, denn ich orientierte mich an der natürlichen Topografie und zur Deribasov Street fand man immer zurück.

Natürlich verfolgte ich hin und wieder auch das Schaulaufen dort. Die jungen Gazellen auf ihren schwindelerregenden Absätzen, für mich unerreichbar. Die Verachtung, mit der sie mich straften, einen einstigen Herzenshelden erster Klasse! Ihr Pendant im Sozialpanorama schienen Kerle mit geschorenen Schädeln und schlechten Manieren zu sein. So jedenfalls ließ sich die Art von Businessmen beschreiben, die im Café vor dem Hostel fläzten und ihre Vanillezigaretten rauchten. Auf dem Stuhl neben sich oder auf dem eigenen Schoß hatte jeder von ihnen eine Handtasche stehen. Herrenhandtaschen waren das, um genau zu sein, denn mit den Taschen ihrer Frauen und Freundinnen waren sie nicht zu verwechseln. Die meisten dieser albernen Dinger ähnelten Miniaturaktenkoffern aus dunklem Leder, mit Silbergriff, Schnallenschloss und einer Schlaufe fürs Handgelenk. Die Kerle trugen sie spazieren wie Statussymbole, wie die Aktentaschen aus exotischem Leder, die in der Generation meines Vaters Ansehen genossen hatten.

Mit solchen kleinen Beobachtungen beschäftigte ich meinen Geist. Eines Abends aber, als ich zurückkam ins Hostel, erlebte ich in der Lounge eine Szene, die mich beeindruckte. Ich erfuhr, was meine Mitbewohner in die Ukraine gelockt hatte: zwei Dutzend weiße Männer im besten Alter oder darüber, verteilt auf die Dingo, Ostrich, Koala und Shark Dormitorys. Drei Viertel von ihnen waren Amerikaner, der Rest Westeuropäer, und es gab einen Australier, der an jenem Abend bittere Tränen vergoss. Er saß auf der Couch, vor sich den gepackten Koffer, neben sich das Hostelmaskottchen, ein Plüschkänguru namens Eddie. Ich weiß nicht mehr, wie der Typ hieß. Ich weiß nur noch, dass er ähnlich groß war wie ich, jedoch massig statt sehnig und mit einer Led-Zeppelin-Mähne, die er vermutlich seit den Siebzigerjahren so trug und die ihm nun, als er sein Gesicht in den Händen verbarg, vor die Finger rutschte.

»Kopf hoch, Kumpel«, sagte einer der Männer, die sich um ihn versammelt hatten. »Mach nich’ auf wilde Abreise. Hast ja noch’n paar Tage bis zu deinem Flug.«

»Das Meer wimmelt von schönen Fischen«, sagte ein anderer.

Und Gary, der hinter der Bar stand und Bier zapfte, versprach seinem Landsmann: »Wir düsen heut Nacht nach Arkadia, da kommst du schnell auf andere Gedanken.«

Der Australier ließ die Hände sinken. Ein Ausdruck stand ihm im Gesicht, der Männer über vierzig erbärmlich aussehen lässt. Schmerz, Zorn, Trauer ... es war der Ausdruck eines Gescheiterten, eine Mischung, die sich in die Falten frisst wie der rote Sand, wenn man im offenen Bakkie-Truck durch die Namib fährt. Von Beruf war der Kerl Schafzüchter auf einer Farm in Queensland, wo die Menschen noch ehrlich miteinander umgingen, wie er schluchzend erzählte. In Odessa war er betrogen worden. Von einer Frau, die er heiraten wollte.

Es ging dabei unter anderem um einen Pelzmantel. So viel verstand ich aus den Gesprächsfetzen, die ich verfolgte. Ein Pelzmantel, mitten im Hochsommer? Ich fragte nicht nach, denn ich wollte mir nicht die Blöße der Neugier geben. Langsam, wie um sein Scheitern mit Würde zu tragen, erhob sich der Australier von der Couch, nahm seinen Koffer, nickte Good-bye und schritt zur Tür hinaus. Die Zurückgebliebenen schwiegen betroffen. Schließlich räusperte sich einer der Amerikaner. Er hieß Charles Spretzer, kam aus Hollywood und war Scheidungsanwalt. Ich erinnere mich gut an sein Äußeres. Schwarzer Bürstenhaarschnitt, mit Haarverpflanzungen füllig gehalten, das Gesicht rosig gespritzt und so stark geliftet, dass es androgyn und maskenhaft wirkte. Ein bisschen wie Tony Curtis in späten Jahren. Spretzer trug immer ein leichtes Jackett, Leinenhosen und Slippers, und einmal beobachtete ich durch die offene Tür zum Dingo, wie er mit freiem Oberkörper am Gestell seines Doppelstockbetts hing und Bauchpressen machte. Im Kühlschrank in der Küche bewahrte er Botoxspritzen auf, und sein Passport-Alter, wie er es nannte, hielt er geheim, denn es hatte mit seinem gefühlten Alter angeblich nicht das Geringste zu tun.

An jenem Abend, als der Australier so plötzlich abgereist war, dozierte Spretzer vor versammelter Mannschaft über die Gräben in der Mentalität zwischen bestimmten Menschen. Ein simpler Schafscherer, sagte er, musste es von vornherein schwer haben in einer kultivierten Stadt wie Odessa. Vor allem, wenn er geistreichen Ladys begegne, zu denen seine Pelzmantelfreundin mit Sicherheit gehört habe. Löckchen-Rob aus Kentucky, die Nummer zwei in der informellen Hostelhierarchie, stimmte dem zu, gab aber der Heiratsagentur eine Teilschuld. Sie habe dem Aussie die falsche Frau vermittelt, so einfach sei das.

Als Nächstes meldete sich ein gewisser Stevie aus Ohio zu Wort, der daheim noch bei seiner Mutter wohnte.

»Wenn das so ist«, stotterte er, »das ist ja fast so, also ich meine ...«

Spretzer schnitt ihm das Wort ab. Auf dem Tresen der Bar, direkt vor meinen Augen, klappte er seinen aus Kalifornien mitgebrachten Anwaltskoffer auf.

»An seinen unrealistischen Erwartungen ist jeder selbst schuld«, sagte er, »und mit Enttäuschung ist immer zu rechnen. Deshalb streue ich mein Risiko mit einem diversifizierten Portfolio, wie beim Aktienhandel. Ich investiere, halte meine Optionen am Laufen, nehme Kursschwankungen in Kauf, um am Ende meines Aufenthalts die Dividende einstreichen zu können.«

Er zog ein paar Formulare aus dem Aktenregister und zeigte sie herum. Es waren seine Verabredungen für den Abend, steckbriefähnlich präsentiert mit Fotos und Daten. Eine Blondine zum Dinner, eine Dunkle für die Cocktailbar und später für die Disco ein rothaariges Busenwunder. Alle drei Mädchen waren kaum über zwanzig. Spretzer zog weitere Bögen hervor, mit seinen Terminen für die kommenden Tage. Er drückte Löckchen-Rob einen Taschenrechner in die Hand und diktierte ihm Gewicht und Maße der Mädchen laut den Angaben der Agentur. Löckchen-Rob wandelte die Kilogramm und Zentimeter in Pfund, Fuß und Zoll, und Spretzer notierte die Ergebnisse fein säuberlich in die Bögen. Er kritisierte, sich diese Arbeit machen zu müssen. Die Agentur solle umstellen auf amerikanische Einheiten, forderte er, denn mit Kilogramm könne kein Mensch etwas anfangen.

»Stimmt«, sagte Stevie. »Außerdem frag ich mich auch, ich meine, kann man das alles so ...?«

»Guter Punkt«, antwortete Spretzer. »Manche Chicks machen sich größer und schlanker, als sie in Wirklichkeit sind. Sie tragen BHs, wo alles nach mehr aussieht. Und viele Fotos sind ein bisschen getürkt. Ihr versteht, was ich meine?«

Er fuhr mit seinem manikürten Fingernagel über das Register des Aktenkoffers zu einer Rubrik, die er mit dem Wort cheaters beschriftet hatte. Daraus zog er ein paar Blätter und erklärte, wie sich die betreffenden Damen in natura von ihren Hochglanzporträts unterschieden hatten: dass manche ein Doppelkinn hatten, braune Augen statt blauen, einen zu breiten Hintern, unreine Haut. Die Männer nickten. So etwas war schon einigen von ihnen passiert. Sie wollten künftig mehr auf der Hut sein, versprachen sie sich, und einander nicht als Rivalen betrachten, sondern sich austauschen und gegenseitig unterstützen. Schließlich saßen sie alle im selben Boot.

Und ich saß daneben. Ich fragte mich, wo ich hingeraten war. Das war kein Hostel, sondern ein Lonely Hearts Club für Heiratstouristen! Gary mietete die Wohnung von einer Agentur, die ihr Büro im Hinterhaus hatte und Kontakte zu ukrainischen Frauen vermittelte. Ich gebe zu, ich war unangenehm berührt, denn ich verband Heiratstourismus mit Wohlstandsgefälle und Patriarchat. Ich beschloss, auf Distanz zu bleiben zu meinen Mitbewohnern. Es war nicht schwer. Sie fanden mich ohnehin komisch, weil ich ihre Suche nicht teilte, und sie waren neidisch auf mich, weil ich ein Zimmer für mich hatte, während sie wie die Boy Scouts kampierten. Ich mimte den abgehalfterten Weltenbummler für sie und ließ durchblicken, dass ich pleite war. Das machte mich harmlos in ihren Augen, denn ein Kerl ohne Geld war für sie ein Kastrat, auch wenn seine Eier zufällig noch in der Hose steckten.

Abends war es dann immer dasselbe. Wenn die Sonne hinter die Häuser getaucht war, leerte sich die Lounge. Die Duschen am Ende des Flurs liefen heiß. In den Schlafsälen nebelten Parfüms und Achselsprays durcheinander. Auch wer kein Date hatte, bürstete sich heraus. Neue Nacht, neues Glück, diese Stimmung lag in der Luft. Ich blieb jedes Mal brav auf meinem Hocker sitzen, rauchte meine ukrainischen Camel und trank, was Gary spendierte. Auf dem Bildschirm über der Bar liefen Musikvideos, sexy und stumm gestellt. Zum Balkon herein strömte der Abend mit seinem klebrigen Lindenduft und den Geräuschen der Promenade: Grillenzirpen, Stimmengewirr, spitze Absätze auf dem Pflaster. Gegen zehn begannen die beiden Gitarristen vor dem Haus ihr Konzert. Guantanamera, Hotel California, Sweet Home Alabama ... sie spielten ein global verkäufliches Repertoire, gemischt mit Songs, die ich nicht kannte. Zusammen mit ein paar Stolichnaya auf Eis reichte das für die Schleifen in meinem Hirn, um ruhiger zu laufen. Wenn Gary gegen elf fortging zu seiner Freundin, schaltete er für mich die kleine Discokugel an der Decke der Lounge ein, vielleicht weil er dachte, das mache die Sache gemütlich. Und ich verbrachte die restliche Zeit bis zum Schlafengehen in der Gesellschaft der Lichtflitter, die monoton über mein Gesicht und die alten Sowjettapeten flossen.

Die Reise des Guy Nicholas Green

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