Читать книгу Stieg Larsson lebt! - Didier Desmerveilles - Страница 5
1 Edelgard Kruses Tabakladen
ОглавлениеStill lag Kruses Tabakladen im winterlich-trüben Licht des Vormittags. Eher schmucklos, trat das alte und unmoderne Geschäft zwischen den auf weihnachtlichen Hochglanz polierten übrigen Geschäften der belebten Hauptstraße kaum in Erscheinung, zumal eine alte Linde am Rand des Bürgersteigs den Blick darauf zusätzlich versperrte. Edelgard Kruse, eine etwas untersetzte Dame mit trotz ihres Alters noch in keiner Weise ergrautem, dunklem Haar, hatte nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemannes vor über zehn Jahren beschlossen, den Laden bis zum Erreichen des Rentenalters – nunmehr noch zwei Jahre – alleine weiterzuführen, doch dies erwies sich gerade in jüngster Zeit als immer schwerere Aufgabe. Das Geschäft ging schlecht. Langsam starben ihm die Kunden weg, zumeist Zigarre rauchende und Tabak kauende Veteranen der letzten beiden Weltkriege, die nichts mehr umhauen zu können schien; doch der Schein trog. Die Leuchtreklame an der ungepflegten Fassade, auf der neben dem Namen des verstorbenen Inhabers Kruse in Schreibschrift der einer Zigarrenmarke namens Rössli prangte, wobei das I von einer brennenden Zigarre mit der glimmenden Asche als I-Punkt verkörpert wurde, leuchtete des Nachts schon lange nicht mehr. Und es hätte auch wenig Sinn gehabt, sie zum Leuchten zu bringen, denn wer kennt heute noch die Firma Rössli? Auch ihr waren die Kunden nämlich längst weggestorben – als wollten sie der Warnung des Bundesgesundheitsministers, die heute auf jeder Packung steht, posthum einen Sinn geben. In den gemeinsamen Tagen von Edelgard und Walter Kruse hatte es solche gut gemeinten Ratschläge noch nicht gegeben. Nun aber ging das Geschäft, wie gesagt, schlecht. Man hätte renovieren müssen, doch das lohnte sich nicht mehr. Die verstaubten Zigarrenkisten auf dem Hintergrund grauer Gardinen in den zwei Schaufenstern links und rechts von der grün gerahmten Ladentür, die hinter ihrem Glas ebenfalls graue Gardinen aufwies, vermochten eine potentielle Kundenschar aus der nachwachsenden Generation nicht mehr in ihren Bann zu ziehen. Für diese war die neue Videothek zwei Häuser weiter eher ein Blickfang.
Aber es gab Ausnahmen. Hin und wieder verirrten sich doch ein paar Halbwüchsige in Kruses Tabakladen. Das war schon immer so gewesen. Es war freilich nicht der Duft von Tabak, der die meisten von ihnen anlockte, sondern mehr ein Anflug kindlicher Pyromanie, wie sie alljährlich um die Silvesterzeit unter Schülern – Schülerinnen selbstverständlich ausgenommen – besonders weit verbreitet und nicht unerheblich ausgeprägt ist. Ja, zu dem reichen Sortiment hinter Edelgard Kruses Ladentheke gehörten – zur Silvesterzeit – notgedrungen auch alle erdenklichen Arten von Feuerwerkskörpern: Knaller, Böller, Raketen und andere explosive Überraschungen. Einige harmlose Artikel dieser Art hielt Frau Kruse sogar das ganze Jahr über vorrätig. Hier sind vor allem die papiernen Ufo-Attrappen mit einem Durchmesser von maximal fünf Zentimetern und einem das Ufo-Deck darstellenden Etikett zu nennen, unter dem ein Drahtgestell mit einer Schwarzpulverdüse einschließlich einer kurzen Lunte verborgen war. Wenn man die anzündete, flutschte dieses Ding aus einer scheinbar anderen Welt, das eindeutig den Abenteuern des Raumschiffs Enterprise nachempfunden war, in sieben von zehn Fällen zirka zehn Sekunden lang durch Raum und Zeit, ehe es verkohlt aus seiner Flugbahn fiel, wie von einem Klingonenkreuzer tödlich getroffen. In den anderen drei Fällen zischte die Antriebsdüse und sprühte mächtig Funken – ebenfalls für die Dauer von rund zehn Sekunden –, bewegte das Ufo dabei allerdings nicht einen Zentimeter von der Stelle. Es handelte sich um so genannte Blindgänger. Bei einem Verkaufspreis von unter einer Mark pro Ufo konnte man aber schon mal so einen Blindgänger verkraften, auch wenn's das spärlich bemessene Taschengeld eines Zwölf- bis Dreizehnjährigen war, das dabei draufging. Das war nämlich jahrelang das Durchschnittsalter der Hauptabnehmer dieser gut identifizierbaren Flugobjekte gewesen. Doch es kann und darf nicht verschwiegen werden: Sorgen hatten Edelgard Kruse angesichts dieser begeisterten, aber eben minderjährigen Klientel lange Zeit geplagt. Wie die Geier hatten sie sich damals, zu Spitzenzeiten, mindestens ein Mal pro Woche in einer Gruppe von drei bis fünf Leuten in ihren Laden und auf die Ufos gestürzt. Einerseits war ihr natürlich jeder Umsatz willkommen, vor allem im Falle einer so gewaltigen Gewinnspanne wie bei diesen Ufos. Andererseits gab es da diese Vorschrift bezüglich des Verkaufs von Feuerwerkskörpern an Jugendliche unter achtzehn Jahren. Und jene ebenso harmlosen wie begehrten Ufos fielen nun einmal in keine andere als die Produktgruppe Feuerwerkskörper, so unbedenklich sie ihres Erachtens auch sein mochten. An Paragrafen konnte man nicht rütteln. Ach, das Leben war doch voller Fallstricke und stellte einen immer wieder auf die Probe. Wer konnte da schon immer anständig bleiben? Edelgard gab also die Ufos in die begierigen Hände der zahlenden Minderjährigen ab und steigerte so ihren Monatsumsatz. Niemals aber ließ sie die leise, aber klar vernehmbare und nie verstummende Stimme ihres Gewissens damit so recht zu Seelenfrieden finden, und nachdem sie eines Abends – es muss wohl im Dezember gewesen sein – im Fernsehen eine Ausgabe des Gesundheitsmagazins Praxis mit Hans Mohl verfolgt hatte, in der über tragische Unfälle von Kindern im schulpflichtigen Alter auf Grund unsachgemäßen Umgangs mit Feuerwerkskörpern berichtet wurde, nachdem sie Bilder von verbrannten Kinderhänden und -gesichtern und von erblindeten Halbwüchsigen gesehen hatte, die ihr des Nachts als alptraumhaft entstellte, anklagende Fratzen von lebenden Mumien wiederbegegnet waren, da stand ihr Entschluss, einen radikalen Schlussstrich unter diese ihre halblegale Praxis zu ziehen, ein für allemal fest.
Zwei Tage später sah sie sich den fragenden, zweifelnden, enttäuschten, aber auch künftig unversehrten Gesichtern ihrer Stammkunden auf der anderen Seite des Ladentisches gegenüber. Ihr Entschluss war unverrückbar. Eisern wies sie alles Bitten und Flehen mit einem resoluten Kopfschütteln zurück. Es gab keine faulen Kompromisse mehr.
Ihr Umsatz an Ufos war seit damals sprunghaft zurückgegangen. Drei Jahre mochten seither vergangen sein, vielleicht auch vier. Und nun saß Edelgard Kruse also an diesem Wintermorgen eine Woche vor Weihnachten missmutig auf dem gepolsterten Stuhl hinter ihrer Theke, harrte ihrer spärlichen Kundschaft und sagte sich: »Zwei Jahre noch, dann ist Feierabend.« Gegen halb zehn kamen plötzlich drei merkwürdige jugendliche Gestalten hereingeschneit, buchstäblich, denn durch die aufgerissene Ladentür wehte der Wind ein paar von den Schneeflocken mit herein, die seit ein paar Minuten leise vom bewölkten Himmel herabrieselten. Andere fielen von den Winterjacken der Eintretenden auf den uralten Holzfußboden in Kruses Tabakladen. Mit Unwillen dachte Edelgard an die durch solches Wetter am Ende eines Geschäftstages vervielfachte Reinigungsarbeit. Dann aber galt ihre Aufmerksamkeit den seltsamen Kunden. Hatte sie diese Gesichter nicht schon mal gesehen? Sie konnte sich nicht erinnern. Die Jugendlichen mochten so um die fünfzehn Jahre alt sein. Zwei von ihnen trugen offenbar weiße Kittel unter ihren Jacken. In ihrer Mitte stand auf etwas wackeligen Beinen ein dunkelhaariger Junge in ziviler Kleidung, dessen Erscheinung sie auf unbestimmte Weise beunruhigte. Es war etwas in seinem Blick, das nicht stimmte. Seine Augen waren weit aufgerissen, blickten starr und stupide, zwischendurch zwinkerten sie nervös. Und sein Mund! Eine amorphe Öffnung, eigenartig verzerrt, mit einem weit vorstehenden Unterkiefer. Den Kopf hielt der Junge die ganze Zeit sonderbar schräg. Überhaupt schien er kein bewegliches Organ recht kontrollieren zu können. Ein... Irrer? Hoffentlich kein Irrer, dachte Edelgard Kruse, die in ihrem langen Geschäftsleben schon so manche Kuriosität erlebt hatte. Offenbar gegen den Willen der anderen beiden, von denen einer, der größere, ihn vergeblich zurückzuhalten versuchte, trat der Irre forsch zu ihr an die Theke. »Ich will 'ne rote Silvesterrakete!«, gab er mit Nachdruck zu verstehen, obwohl er beim Sprechen die Zähne von Ober- und Unterkiefer keinen Millimeter auseinanderbekam.
Oh Gott, dachte Edelgard. Vor Jahren war sie zum bisher letzten Mal einem Verrückten in ihrem Laden gegenübergestanden. Unwillkürlich fiel ihr die Geschichte ein. Der Verrückte hatte darauf bestanden, verschiedene Zigarrenmarken zu probieren. Er hatte gegen ihren Willen fünf Zigarren aus fünf verschiedenen Schachteln herausgenommen, sie sich alle zusammen in den Mund gestopft und angezündet. Noch heute sah sie das Gesicht mit den fünf qualmenden Zigarren vor sich. Edelgard hatte draußen um Hilfe gerufen, und als man ihn entfernen wollte, hatte der Zigarrenirre, wie sie ihn später immer nannte, zu randalieren begonnen und zahllose Tabakwaren vom Regal gerissen. Man war als Geschäftsfrau solchen Situationen einfach hilflos ausgeliefert.
Nun traten auch die anderen beiden jungen Männer vor, und der links Stehende, ein großer, kräftiger Bursche mit kurz geschorenem, mittelblondem, pomadigem Haar und kalten, stahlblauen, eng zusammenliegenden Augen, richtete das Wort an die Ladeninhaberin, die sich, Böses ahnend, hinter ihrer Theke erhoben hatte. »Entschuldigen Sie bitte«, begann er in ernstem Ton und mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er ihr das Ableben eines nahen Verwandten mitzuteilen, »aber das ist Jim. Könnten Sie ihm wohl eine rote Silvesterrakete verkaufen?« Seine Stimme war rau und fest, aber Edelgard beruhigte sie in keiner Weise.
»Ist er denn schon achtzehn?«, erkundigte sie sich mit bröckliger Stimme.
»Ich will 'ne rote Silvesterrakete«, wiederholte der Irre. Hilfesuchend blickte sie die andern beiden an.
»Tut mir leid, er ist aus der Anstalt weggelaufen«, erklärte der große Blonde. »Ich soll eigentlich auf ihn aufpassen, aber er ist mir einfach durchgebrannt, und jetzt muss ich ihn zurückbringen. Wissen Sie, er leidet nämlich an Quindecimviriorumque, und immer zur Adventszeit ist es dasselbe mit ihm: Die Tage werden kürzer, es gibt Frost, und der erste Schnee fällt, und da denkt er immer gleich an Weihnachten und an Silvester – und an rote Silvesterraketen. Die hat er so gern. Und jedes Mal, wenn wir dann an Ihrem Tabakladen vorbeikommen, dann kann ich ihn einfach nicht mehr halten. Er weiß, hier gibt's die Raketen, und dann wird er jedes Mal ganz wild und quengelt rum.«
Der andere Junge, der etwas untersetzt war, fügte hinzu: »Er hat sogar extra ein Weihnachtsgedicht für Sie auswendig gelernt.«
»Mmmh«, nickte der Irre, sichtlich von Stolz übermannt.
»Na los, Jimmi!«, befahl der Große.
»Advent, Advent, ein Lichtlein brennt«, stammelte der Irre und sah Edelgard treuherzig an, »erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann stehn Raketen vor der Tür!«
»Und dann gibt's noch viel mehr Lichter«, ergänzte der Große, »all die schönen Silvesterraketen, die explodieren, nicht, Jimmi?«
Jim sagte Ja und klatschte vor Begeisterung in die Hände, was ziemlich ungelenk wirkte. Die Tabakhändlerin, die ein gutes Herz hatte, sah bereits all ihre guten Vorsätze und Prinzipien sich in Luft auflösen, aber sie durfte ganz einfach ihre Pflicht nicht verletzen, nein, sie musste jetzt stark sein, und deshalb sagte sie, von Mitgefühl ergriffen, dass es ihr leid tue, aber: »Ich kann ihm die nicht verkaufen.«
»Ich will aber 'ne rote Silvesterrakete!«, quengelte Jim inzwischen beinahe weinerlich.
»Nun sei nicht so stur, du hörst doch, dass das nicht geht. Die Dame kann dir keine rote Silvesterrakete verkaufen. Komm jetzt, wir müssen gehen.«
»Ich will aber nicht gehen.«
»Wirst du schon wieder ungezogen?«
»Ich will 'ne rote Silvesterrakete!«, sprach Jim und setzte sich entschlossen auf einen Stuhl neben der Ladentür.
Frau Kruse zugewandt, erklärte der Große: »Es tut mir leid, er ist manchmal ein bisschen bockig.« Und zu Jim sagte er zornig: »Du kommst jetzt mit!« und packte ihn mit Gewalt.
»Nee!«, rief Jim, sträubte sich und riss sich von dem Großen los, der nun zu resignieren schien: »Also gut, wie du willst. Du kannst ja von mir aus hierbleiben, aber wir gehen jetzt!«
Tatsächlich verließen die beiden mutmaßlichen Aufseher abrupt den Laden. Sie ließen ihren Schützling einfach zurück. Der blieb mit verschränkten Armen beleidigt auf dem Stuhl sitzen, während Edelgard Kruse unschlüssig hinter der Ladentheke stehen blieb und ihn beobachtete.
»Mensch, die können mich doch nicht mit dem hier alleine lassen!«, sprach sie spürbar entrüstet vor sich hin.
Nach einer Weile geschah etwas Sonderbares: Jim rutschte erst langsam vom Stuhl auf den Boden, dann begann er plötzlich zu zucken wie unter elektrischen Schlägen und wälzte sich unter erbärmlichen Blöklauten auf dem Boden hin und her.
»Du meine Güte! Was mach' ich denn jetzt?«, schrie Edelgard Kruse. Man merkte ihr an, dass sie mit dieser Situation hoffnungslos überfordert war. Minuten verharrte sie ratlos vor dem Zuckenden, der schaumigen Speichel auf ihren Holzfußboden sabberte ehe, zu ihrer Erleichterung und Erlösung, die beiden anderen Jungen zurückkamen.
»Ach du Schande«, rief der Große sofort aus, als er das Unglück sah, »er hat wieder einen Anfall! Und Sie stehen da einfach so rum? Hätten Sie ihm nur seine verdammte Silvesterrakete gegeben!«
»Das darf ich doch nicht!«, verteidigte Edelgard sich verzweifelt.
»Hat er das schon lange?«, erkundigte sich der Große mit sachverständiger Miene.
»Vielleicht eine Minute, das fing gleich an, nachdem Sie weg waren.«
Der Große beugte sich nieder zu Jim, nahm ihn in den Arm. Der Untersetzte eilte ihm zu Hilfe, und gemeinsam stellten sie Jim wieder auf die Beine. »Ganz ruhig, Jimmi, ganz ruhig!«, redeten sie ihm zu.
Während der Untersetzte sich weiter um Jimmi kümmerte, klärte der Große Frau Kruse auf: »Wissen Sie, das kann bei Quindecimviriorumque schon mal vorkommen. Er ist sehr labil. Sobald ihn irgendetwas zu sehr aufregt...«
»Komm jetzt«, sagte der Untersetzte zu Jimmi. »Was wolltest du denn auch nicht auf uns hören! Das hast du nun davon.« Endlich verließen sie, Jim gemeinsam stützend, den Laden. »Äh ja, also dann auf Wiedersehen!«
Lieber nicht, dachte Edelgard Kruse und atmete auf, als die drei aus ihrem Geschäft verschwunden waren. Zwei Jahre, sagte sie sich, zwei Jahre noch.
Was sich anschließend draußen auf der Straße abspielte, sollte Edelgard Kruse zum Glück nie erfahren. Wenige Meter von ihrem Tabakladen entfernt, brachen die drei seltsamen Genossen lauthals in Gelächter aus. »Auf Wiedersehen! Wenn die uns noch mal wiedersieht, bricht die tot zusammen! Das war echt die Härte!«, rief der Große. Sein Name war Hasso.
»Das Gesicht von der Alten, wie ich mich da vor ihr am Boden gewälzt hab', vergess' ich nie«, keuchte der wundersam genesene Quindecimviriorumque-Patient, der in Wirklichkeit Tim und nicht Jim hieß.
»Die arme Frau, die hat bestimmt 'n Schock fürs Leben! Jungs, wir sind Schweine!«, brach es aus Hasso heraus.
»Stimmt. Aber dein ›Entschuldigen Sie bitte, aber das ist Jim!‹ war einfach zu genial! Dafür hat sich das Ganze schon gelohnt.«
Jetzt meldete sich auch der Dritte im Bunde zu Wort, der, obschon er in Wirklichkeit natürlich anders hieß, auf den Namen Kirri hörte: »Wir müssen ächt ärre sein, hier so'n Scheiß zu veranstalten. Aber auf der andern Seite hat die Alte auch selber schuld. Sie hätte uns eben damals in der Fünften die Ufos verkaufen sollen, anstatt sich so anzustellen, von wegen minderjährig und so.«
»Quindecimviriorumque! Ich lach mich tot!«, brüllte Hasso. »Bin nur froh, dass ich das ohne Versprecher hingekriegt hab'. Und ohne Lachkrampf!«
»Du Dödel, das muss Quindecimvirorumque heißen«, verbesserte ihn Tim, »ohne i; vir ist doch normale O-Deklination, also muss der Genitiv Plural virorum heißen, oder liege ich falsch?«
»Das wird mir jetzt zu vir, äh, wirr«, kam die Antwort. »Und außerdem Scheiß drauf, meinst du, die Alte kennt sich aus mit unsern Lateinvokabeln?«
»Naja, eine hat sie jedenfalls heute gelernt!«
»Und dann war sie mit ihrem Latein am Ende, hihi!«, schloss Kirri mit seiner kauzig-hellen, vom einsetzenden Stimmbruch zusätzlich entstellten Stimme.
»Ich fürchte, das sind wir gleich auch«, nahm Tim nach einem Blick auf seine Armbanduhr den Faden wieder auf, »sofern das für Mathe die richtige Formulierung sein kann.«
»In Mathe war ich mit meinem Latein schon immer am Ende«, meinte Kirri, der nun seinerseits zur Uhr blickte und sogleich mit Schrecken feststellte: »Oh Mann, Scheiße, jetzt versteh' ich, was du meinst. Wir kommen zu spät! Wir kommen zu spät zur Mathestunde!«
»Ein Blitzmerker eben!«, sagte Hasso zu Tim und klimperte ironisch mit den Augenlidern.
»Ich glaube, Jungs«, meinte Tim, »wir haben diese Freistunde zur Genüge ausgereizt. Los jetzt, dalli!«
»Nur noch fünf Minuten. Scheiße, das schaffen wir nie!«, seufzte Kirri.
»Oh, Kirri! Halt die Klappe«, erwiderte Hasso, »und verlier' nicht immer gleich die Nerven. Das schaffen wir locker.« Sprach's und preschte im Laufschritt nach vorn, drehte sich nach zehn Metern um und fügte, während er rückwärts weiter durch das Schneegestöber trabte, hinzu: »Wir müssen uns nur 'n bisschen beeilen!«, womit für die andern beiden ebenfalls das Startkommando gefallen war.
Dummerweise lag das Internat auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Stadtgebiets. Nun ist eine Anhöhe im hohen Norden Deutschlands natürlich etwas völlig anderes als etwa im Harz oder im Schwarzwald, eben eine norddeutsche Anhöhe, eine Erhebung, die – sagen wir mal – einfach etwas weniger flach ist als das Flachland, das sie umgibt. Aber wenn man es eilig hat wie Hasso, Tim und Kirri an diesem Vormittag, wenn einem der kalte Wind auch noch eisige Schneeflocken ins Gesicht bläst, während man sich vorwärtszukommen bemüht, dann spürt man in den Beinen schon die leichte Steigung der Wegstrecke. Vor allem galt dies für Kirri, der kein besonders sportlicher Typ und außerdem leicht – aber wirklich nur leicht, darauf legte er Wert – übergewichtig war. Wie immer, wenn es schnell gehen sollte, hing er hinterher. »Nicht so schnell«, keuchte er ängstlich, weil er sich bereits ganz allein zu spät zum Unterricht erscheinen sah. »Wartet!«
»Lass uns auf Kirri warten«, schlug Tim atemlos vor, als er hinter Hasso den Eingang zum Internatsgelände passiert hatte, dessen Schulhof menschenleer vor ihnen lag und auf dem lediglich der Wind, der die vereinzelten Schneeflocken auf- und niederfegte, für Bewegung sorgte.
»Na gut, jetzt ist's sowieso egal. Bin ja kein Kameradenschwein«, grunzte Hasso.
»Ihr Ärren«, ächzte der Nachzügler, als er endlich zu ihnen stieß, »wieso lasst ihr mich so hängen?« Kirri hatte die Angewohnheit, seine beiden Lieblingswörter irre und Irrer »ärre und »Ärrer« auszusprechen. Hätte jemand versucht, ihn auf diesen Sprachfehler aufmerksam zu machen, er hätte nicht einmal verstanden, wovon die Rede war.
»Du lässt dich doch selber auch immer hängen«, entgegnete Hasso bissig. Geschlossen stiegen sie schließlich die letzten Meter auf der steinernen Treppe des Schlosses zum Klassenraum der Untertertia hinauf.
»Ich hab' ja gleich gesagt, das schaffen wir nicht«, murrte Kirri weiter. Hasso übernahm die Verantwortung, klopfte an die geschlossene Tür des Klassenzimmers und entschuldigte sich bei Herrn Meyer ausdrücklich für die Verspätung. Der Mathematiklehrer quittierte Hassos ungewohnt demütige Ausführungen mit einem spöttischen Grinsen und sagte: »Ach nee, Hasso Hawermann und seine Spießgesellen mal wieder! Ihr habt doch bestimmt wieder irgendwelchen Heckmeck vorgehabt, hm?« Hasso fühlte sich nun auf sicherem Terrain, die Einladung zu einem ironischen Schlagabtausch mit dem Lehrer nahm er dankbar an. Seine Stimme nahm wieder ihren gewohnt festen, sicheren Klang an, als er antwortete: »Heckmeck? Aber Herr Meyer, Sie kennen mich doch...«
»Eben, Hawermann, eben.« Die Klasse lachte entspannt. Inzwischen wanderten die drei Zuspätkommer unauffällig auf ihre Plätze. »Aber du weißt gar nicht, was ich meine, hm?«
»Sie sagen es. Ich weiß nämlich gar nicht, was Heckmeck ist. Wenn Sie Mecki meinen, den kenn' ich aus der Hörzu. Das ist so ein Igel mit Menschenkopf, der –«
Die Klasse lachte. »Danke, Hawermann, reicht!«, würgte Meyer ihn ab. »Treib's nicht auf die Spitze, Hawermann. Mein Geduldsfaden ist heute nicht lang.«
»Na, umso besser«, kam sogleich der Konter, »physikalisch gesehen ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass er reißt, viel geringer.« Ein Gelächter wie ein Sturm. Meyer brauchte eine Weile, um die Klasse wieder zur Ruhe zu bringen. Er sah ein, dass er besser das Thema wechselte. »Gut. Vom Rhetorik-Kurs für Anfänger zu den Mathe-Hausaufgaben für Fortgeschrittene. Was sagst du denn dazu, mir deine mal zu zeigen, Hawermann?«
»Ich sage dazu: Das versteht sich doch von selbst, dass ein Schüler seinem Lehrer die Hausaufgaben zeigt, und sollte insbesondere für einen Schüler wie mich kein Problem darstellen.«
»Am besten an der Tafel hier«, schlug Meyer vor.
»Wenn Sie meinen, dass ich an der Tafel besser bin als Sie...«
Dieser Hawermann war doch ein verflixt ausgekochtes Schlitzohr. So leicht, merkte Meyer immer wieder, war dem nicht beizukommen. Aber Schüler wie er sorgten wenigstens dafür, dass der Unterricht nicht langweilig wurde.