Читать книгу Stieg Larsson lebt! - Didier Desmerveilles - Страница 7
3 Die Gebrüder Moor
ОглавлениеDie Einnahmen, die durch den Eintrittspreis von fünf Mark erzielt worden waren, gingen zur Hälfte als Spende an UNICEF. Die andere Hälfte wurde am nächsten Tag, Sonntag, im Bellini, einem der nobelsten Restaurants der Stadt, in üppige Pizzas, zahllose Schalen Eiskrem, etliche Colas und Genussmittel sonstiger Art umgesetzt, wie es vorher höchst basisdemokratisch beschlossen worden war. Auch ein paar Biere waren dabei. Die Besetzung ließ es sich so richtig gutgehen. In der gelösten Atmosphäre ließen die Schauspieler einander gegenseitig hochleben, und jeder brachte einen Trinkspruch aus: »Auf die Gebrüder Moor!« und all die anderen Figuren des Stücks. Schließlich wurde auch auf den guten, alten Friedrich Schiller noch angestoßen. Er konnte sich nicht mehr dagegen wehren.
»Das gibt bestimmt 'n paar Bonuspunkte in Deutsch«, spekulierte Kirri. Deutsch war, wie jedes Fach, nicht gerade Kirris Stärke, er konnte ein paar Sonderpunkte gut gebrauchen.
»Da hätten wir wohl schon die ungekürzte Fassung spielen müssen, wie Bräsig uns das zuerst aufschwatzen wollte.«
»Bräsig spinnt. Wie hätten wir das denn packen sollen in den paar Monaten? So gut unterrichtet er nun auch wieder nicht, dass bei ihm alle Schüler zu Wunderkindern werden.«
»Das Ganze war auch so ein toller Erfolg«, meinte Achim, der den treuen Diener Daniel gespielt hatte. »Timmi kann bald jede Braut im Schloss haben, wenn er so weitermacht...«
»Stimmt«, sagte Bert. »Oder hast du nicht mitgekriegt, Timmi, wie Yvonne dich die ganze Zeit angeglotzt hat? Ich sag' dir, die is' scharf auf dich, scharf wie –«
»Scharf wie ein Theatermesser, was?«, warf Hasso ein und brachte damit alle zum Lachen. Tim, dem solche Themen, zumal in Anwesenheit von Mädchen (die Not hatte ein paar weibliche Räuber erforderlich gemacht), peinlich waren, antwortete betont sachlich und unterkühlt: »So was kriegt man doch nicht mit, wenn man oben auf der Bühne steht. Da konzentriert man sich auf den Text und auf seine Rolle.«
»Yvonne hat sich auch die ganze Zeit mächtig konzentriert.«
»Man wüsste nur nicht genau zu sagen, auf welchen Teil von dir genau.«
»Ach, hört auf rumzulabern!«, meldete sich Bea zu Wort. »Yvonne is' nicht scharf auf ihn. Wer ein Auge auf unsern Timmi geworfen hat, ist Amalia! Derartig schmachtvolle Blicke können unmöglich nur gespielt sein, das ist wahre Sehnsucht!«
»Na, kein Wunder«, meinte Kirri, »er wollte sie ja heiraten. Das verfehlt bei Frauen nie seine Wirkung!«
»Ich fürchte«, wehrte sich Tim mit aufgesetzter Intellektualität, »euch fehlt eine gewisse Abstraktions- und Differenzierungskompetenz. Die Bühne ist nur 'ne Scheinwelt. Ein echter Profi«, erklärte er sachlich, »taucht zu hundert Prozent in diese Welt ein, solange er probt oder spielt, aber sobald die Realität ihn wiederhat, sollte die Scheinwelt der Bühne auch zu hundert Prozent passé sein.«
»Aber wenn das nun hundertprozentige Realität ist?«, kam die schlaue Antwort. »Wenn Amalias Liebe zu Karl nun den großen Sprung von der Scheinwelt in die Realität geschafft hat?«
»Quark!«, schimpfte Tim wenig eloquent.
»Dann müsste er sie ja vor Liebe umbringen«, warf Kirri ein. »Aber ich glaube, das packt er nicht!«
»Ich hab' mal von einem Schauspieler gehört, der verrückt geworden sein soll, weil er 'n Irren gespielt hat«, suchte Annette, die Darstellerin der Amalia, aus nachvollziehbaren Gründen das Thema zu wechseln, »in der Verfilmung von Einer flog über das Kuckucksnest.« Doch ganz offensichtlich war nur eine Minderheit an Gesprächen zu Themenfeldern aus Kunst und Kultur interessiert. Die Mehrzahl der Anwesenden hatte sich auf etwas anderes eingeschossen, das sie reizte und lockte, mehr jedenfalls als sachliche Erörterungen zu abstrakten Gegenständen.
»Und ich sag' dir, Yvonne ist doch in Timmi verknallt!«, beharrte Achim.
»Mann, das Thema scheint dir ja mächtig unter den Nägeln zu brennen«, konterte Bea. »Am Ende bist du es noch, der in Yvonne verknallt ist, hm? Wohl eifersüchtig, wa'?«
»Ich?«, rief Achim. Tim war froh, dass er dem Kreuzfeuer entronnen war. »Weibergeplärr! Yvonne! Die ist doch voll unscharf! Wenn schon, will ich 'ne geile Braut, die gut gebaut! Eine mit Holz« – er deutete mit beiden Handflächen auf seinen Brustkorb – »vor der Hütte!«
»Er nu' wieder!«, protestierte Bea. »Lässt wieder voll den Macho raushängen.«
»Den Lotterbuben«, berichtigte Bert in Schiller'scher Diktion. »Er hatte ja auch bloß 'ne Dienerrolle. Da hätte ich auch 'n Komplex!«
»Was für'n Komplex?«, fragte Achim.
»Meinst du, dass einer wie du große Ansprüche stellen kann?«, knallte Annette ihm ärgerlich vor den Latz. »Bei Timmi könnte ich mir das eventuell ja noch vorstellen, aber bei dir –«
»Timmi könnt ihr voll vergessen«, ergriff Hasso das Wort, »der ist noch nicht so weit. Der pfeift auf Bräute, geile Bräute, ungeile Bräute – egal. Der würde nicht mal dich nehmen, Bea!« Es fiel Hasso, nebenbei bemerkt, ziemlich auf den Wecker, dass andauernd von Tim gesprochen wurde, selbst wenn dieser sich gar nicht in Szene setzte. In der Tat hielt Tim sich auffallend zurück.
»Was du nicht sagst«, giftete Bea zurück. »Du kommst dir wohl besonders schlau vor, was, Hasso Hawermann? Nehmen lass ich mich sowieso nicht einfach so, weder von Timmi noch von sonst wem und ganz besonders nicht von dir! Ich glaub', du guckst zu viel Fernsehen!« Etwas rot geworden war sie, ob vor Wut oder Scham, das blieb ihr Geheimnis.
»Ich finde –«, begann jemand, der die Lage entschärfen wollte, doch Kirri unterbrach ihn: »Also, 'ne richtig geile Braut ist die Blonde von Abba! Die's' ärre!«
»Hugh! Kirri hat gesprochen!«, mokierte sich Hasso.
»Die ist viel zu alt für dich«, meinte Bea. »Wenn du zwanzig bist, ist die schon vierzig.«
»Na und?«
»Vielleicht könnte es ja auch noch andere Gründe geben, weshalb Kirri und die Blonde von Abba –«
»Agnetha«, verbesserte Annette, ein begeisterter Abba-Fan. Sie kannte alle Bandmitglieder mit Vor- und Zunamen.
»– also, weshalb Agnetha und Kirri nicht so besonders gut zusammenpassen«, vollendete Hasso seinen Satz.
»Genau«, rief Achim mit seinem breiten Mund laut in die Runde. »Was, wenn Agnetha nicht gut kochen kann?« Ein lauter Lacher auf Kirris Kosten.
»Egal, dafür kann die singen«, meinte Bert.
»Sicher hat Agnetha auch nichts Besseres zu tun, als für Kirri zu kochen!«, gab Annette zu bedenken.
»Ich meinte ja auch nur, die 's' 'ne scharfe Braut«, stellte Kirri, von einer Diskussion, die er nie im Leben hatte lostreten wollen, sichtlich überfordert, klar. »Von Heiraten hab' ich nix gesagt.«
»Aber von 'er Bettkante schubsen würdest du sie auch nicht, oder?«
»Kommt drauf an, was sie da will«, kam Bea Kirri mit einer schlagfertigen Antwort zuvor. »Vielleicht Märchen vorlesen? Ich schlage vor: Froschkönig...«
Alle außer Kirri lachten. Er hatte den Witz auch nicht verstanden. Wer sollte da der Frosch sein? Die ausgelassene Stimmung unter den jungen Schauspielern steigerte sich zusehends. Einige der anderen Gäste blickten schon seit geraumer Zeit immer wieder skeptisch zu den Jugendlichen herüber. Deren Heiterkeit tat das keinen Abbruch. Schließlich stiegen diverse Pegel so weit an, dass zotige Geschichten erzählt wurden. Über den reichhaltigsten Zoten-Schatz verfügte Achim. Unumstrittener Höhepunkt innerhalb dieser Sammlung war sein Witz über einen impotenten Ehemann beim Onkel Doktor. Wieder lachten alle bis auf einen. Diesmal war es Tim. Geduldig hatte er sich, um die anderen nicht zu verletzen und nicht als Stimmungstöter dazustehen, deren loses Geschwätz angehört, aber jetzt platzte dem sonst so besonnenen Schüler der Kragen. Entnervt sprang er von seinem Platz auf, zerknüllte seine Serviette und pfefferte sie unter den verblüfften Blicken der anderen Gäste auf den Tisch. Betretenes Schweigen. Nur das Geräusch, das Annettes Eislöffel erzeugte, als er ihr aus der Hand in die Schale zurückfiel, war zu hören. Sie hatte übrigens wirklich eine Schwäche für Tim. Er hatte es nur nie bemerkt.
»Merkt ihr eigentlich noch was?«, rief Tim erbost. »Merkt ihr eigentlich, was für'n hirnlosen Scheiß ihr da labert, wie... gehirnamputiert sich das alles anhört? Wir feiern hier die erfolgreiche Aufführung des größten Theaterstücks des Sturm und Drang, und ihr... ihr macht alles kaputt! Kaputt! Wie 'ne Elefantenherde im Porzellanladen. – Ober, zahlen, getrennt!«
»Aber Timmi...«
»Was ist mit deinem Eis?«, fragte Annette verstört.
»Das könnt ihr mit den übrigen Perlen vor die Säue kippen«, herrschte Tim sie an, zahlte und verließ mit Exerzierplatzschritten das Bellini.
»Was meint er 'n damit?«, hätte Kirri gern gewusst.
»Also, das«, versuchte Bea die Sache mit Ironie zu nehmen, »war mit Abstand sein stärkster Theaterauftritt!« Aber die Stimmung war im Eimer.