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2 Die Pyramide

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Hasso Hawermann, Tim Rasmussen und Arnold Kirstein oder schlicht Hasso, Timmi und Kirri, wie sie sich selbst riefen, das waren Freunde, wie man sie nicht alle Tage findet. Freunde fürs Leben, hätte man meinen können, wenn man sie damals miteinander sah. Die gingen gemeinsam durch dick und dünn, und faustdick hatten sie's hinter den Ohren. Die besonderen Lebensumstände im Internat schweißten die Kinder enger zusammen, als es vielleicht ohnedies der Fall gewesen wäre. Keiner der drei Freunde vergaß je die Geburtsstunde der Pyramide, wie sie selbst sich später nannten. Es war eine schwere Geburt. Hasso und Kirri kannten sich schon seit der Fünften und hatten zunächst eines der seltenen Zweibettzimmer im obersten Stockwerk des Schlosses bewohnt, mit einer fabelhaften Sicht auf das Städtchen unter ihnen und den großen See, an dem es lag. Ihre Begeisterung hielt sich ziemlich in Grenzen, als ihnen die Internatsleitung an einem eisigen Februartag durch die Hausmeisterin Frau Bleiweiß mitteilen ließ, dass man einen neuen Schüler bei ihnen einzuquartieren gedachte und, indem man eines der Einzelbetten durch ein Etagenbett austauschte, aus dem Zwei-Mann- ein Drei-Mann-Zimmer machen würde. Freiräume, hieß es schon beinahe sarkastisch, habe man ja draußen an der freien Luft genug.

Einsilbig und miesepetrig behandelten Hasso und Kirri, wie abgesprochen, den Neuankömmling, als er in seinem übergroßen braunen Wintermantel, schwere Koffer links und rechts, etwas scheu zum ersten Mal sein neues und ihr altes Zimmer betrat. Der Neue durfte ruhig merken, dass er nicht willkommen war. Hasso und Kirri gaben sich sichtlich Mühe, die gewünschte Wirkung zu erzielen. Als Tim sich ihnen vorstellte, blickten sie nicht auf, nickten nur einmal kurz, und als er anfing, Bücher in das für ihn eigens neu befestigte Regal zu räumen, blieben die anderen beiden stumm wie Fische im Aquarium an ihren Schreibtischen kleben und taten, als ob es für sie nie im Leben etwas Wichtigeres geben könne als die gewissenhafte Erledigung der Hausaufgaben, in die sie vertieft zu sein vorgaben. Dabei schielten sie aus ihren Augenwinkeln immer wieder verstohlen zu dem Neuen hinüber, der am anderen Ende des Saals weiter seiner Umpack­arbeit nachging. »Ich nehme an, das hier ist mein Bett?«, sagte er schließlich, mehr weil ihm das konsequente Schweigen im Raume Unbehagen bereitete, als aus echter Unwissenheit.

»Mmh, das obere«, gab Kirri kurz angebunden zurück. »Ich kann nämlich nicht oben schlafen, weil ich Angst hab', ich fall' da raus.« Zu seinem Glück war Tim vorsichtig genug, nicht zu lachen. Kirri hatte eine dünne Haut, auch wenn man es ihm nicht unbedingt ansah. Er war ja auch sonst kein dünner Mensch. Kirri hatte schon mehr geredet, als Hasso lieb war. Ein Blick von Hasso – und wieder herrschte eisiges Schweigen.

Nach einer Weile brach es plötzlich aus Tim heraus: »Stellt euch mal vor, ihr wäret neu an einem Ort, von dem ihr jetzt schon wisst, dass ihr lange Zeit dort bleiben werdet. Ihr kennt keine Menschenseele, und ihr seid allein. Dann begegnet ihr zwei Leuten, die schon länger an dem Ort wohnen und mit denen ihr eng zusammenleben werdet. Was würdet ihr von denen erwarten?«

»Weiß nicht«, meinte Kirri, der am Überlegen war, aber noch nicht ganz durchschaut hatte, worauf Tim hinauswollte.

»Ich würde froh sein, in Ruhe gelassen zu werden, so, wie ich's jetzt auch wäre«, fuhr Hasso ihn an.

»Entschuldigung«, fauchte Tim zurück, »ich wusste ja nicht, dass ich in ein Heiligtum eingedrungen bin.«

»Wenn du hier rumstänkern willst, kannst du dich lieber gleich verpissen«, donnerte Hasso. »So was könn' wir hier nicht brauchen. Hast du hier vielleicht schon was geleistet? Wer Ansprüche erhebt, muss sich erst mal beweisen.«

»Du meine Güte, was denn für Ansprüche? Man wird doch noch mal 'ne Frage stellen dürfen!«

Hasso war es gewohnt, den Ton anzugeben, sich als Chef zu profilieren. Mit Kirri gab es damit naturgemäß keine Schwierigkeiten. Schon seine Bequemlichkeit schloss jegliche Auflehnung aus. Doch der scheinbar so scheue und schmächtige dunkelhaarige Bubi, der da in sein Leben getreten war, das war einer, der nicht beliebig nach seiner Pfeife tanzen würde. Er war mit Sicherheit nicht blöd, auf den Mund gefallen auch nicht und ansonsten offenbar gar nicht so leicht auszu­rechnen. Hasso spürte das, und seine Eitelkeit rebellierte mächtig dagegen. Er wollte das Zimmer verlassen, weil er merkte, dass die Atmosphäre bis auf weiteres vergiftet war. Als er an Tim vorbeiging, der immer noch Bücher aus seinen Koffern herauskramte, fiel diesem bei einem unwillkürlichen Blick auf Hasso ein Buch aus der Hand. Rasch griff Tim danach. Für Hasso hatte die Zeit jedoch gelangt, um den Titel auf dem Buchrücken zu entziffern. Und dazu konnte er nicht schweigen. »Die Bibel?«, fragte er. »Bist du 'n Heiliger?«

»Wenn das hier kein Heiligtum ist, bin ich auch kein Heiliger.«

»Sag bloß, die hast du schon gelesen.«

»Noch nicht«, erwiderte Tim, jetzt nicht mehr ganz so feindselig, »aber ich hab' mir's fest vorgenommen. Ich will nicht sterben, ohne gelesen zu haben, was da drinsteht. Könnte ja wichtig sein.« Hasso hörte gespannt zu. Das war mal was Neues. »Glaubst du, dass du nach deinem Tod wie durch eine Falltür ins Leere fällst und einfach nichts mehr mitkriegst?«, redete Tim weiter.

Da bekam das Eis erste Risse. Endlich jemand, der sich ähnliche Fragen stellte wie er, Hasso, grundlegende Fragen, Fragen, die sich nicht nur auf der Oberfläche bewegten. Endlich jemand, der sich nicht damit begnügte, die Dinge einfach hinzunehmen, sondern der nachdachte und wie er anstrebte, einen Blick hinter die Fassaden des Daseins zu werfen. Endlich jemand, mit dem man reden, diskutieren und nicht bloß ab und zu ein nichtssagendes Schwätzchen halten konnte. »Ist interessant, was du da sagst«, brachte Hasso langsam hervor. »Eigentlich kann man sich ja gar nicht vorstellen, nicht mehr da zu sein und einfach nichts mehr mitzukriegen. Das übersteigt einfach unser... Fassungs­vermögen. Ich hab's versucht. Es ist wie mit der Unendlichkeit des Universums. Hast du dir das schon mal vorgestellt? Wenn man sich das mal ganz genau vorzustellen versucht, dann merkt man, dass man das eigentlich gar nicht kann.«

»Oder es wird einem schwindlig.«

»Ja...«

»Weil man als Mensch nur in endlichen Dimensionen denken kann, logisch.«

»Logisch?«

»Auf der ganzen Erde gibt es nichts, das völlig unvergänglich, ewig, unendlich wäre. Selbst die Sandkörner am Strand kommen uns nur unendlich vor, weil wir in unseren Möglichkeiten so begrenzt sind.«

»Und weil wir keine Lust zum Zählen haben«, lachte Hasso.

»Ja, aber ihre Zahl muss endlich sein, weil der Planet Erde nicht unendlich ist.«

»Und doch gibt es das Unendliche«, spann Hasso den Gedanken weiter, »in das die Erde eingebettet ist. Denn wenn das Universum ein Ende hätte, was wäre dann hinter diesem Ende? Irgendwas muss da ja sein. Vielleicht 'n schwarzes Loch?«

»Vielleicht das Himmelreich? Oder Gott?«

»Das erklärt deine Bibel. Aber was kommt hinter dem Himmelreich und Gott? Das muss ja auch irgendwo zu Ende sein, oder?« Tim zuckte mit den Achseln. »Na jedenfalls, wenn dahinter noch was kommt, dann steht man wieder vor dem gleichen Problem wie vorher: Was kommt dann? Und dann? Und dann? So geht das immer weiter.«

»Unendlich«, lachte Tim, und auch Hasso musste lachen. Das Eis war längst zerronnen. »Hast du dir mal vorgestellt, wie das ist, wenn du tot bist?«, fuhr Tim angeregt fort.

»Das ist es ja eben«, meinte Hasso. »Wie soll man sich das vorstellen können? Dass ich selbst es bin, der sich das vorstellt, schließt ja schon aus, dass ich mir eine Welt ohne mich, ohne Ich vorstelle. Man kann genauso gut versuchen, nicht oder nichts zu denken. Das wird auch nicht klappen. Selbst im Schlaf nicht, denn da träumt man, und Träumen kann man verstehen als Denken ohne Bewusstsein. Und selbst im Traum... Kann man träumen, nicht mehr zu existieren, ich meine, überhaupt nicht mehr, auch nicht als Geist oder körperloses Ich?«

»Man kann vielleicht träumen, dass man stirbt, aber dann wird man vermutlich auch träumen, dass man in irgendeiner Form anders weiterlebt.«

»Oder aufwachen. Meistens wacht man ja auf, bevor man im Traum stirbt.«

»Oder man ist wirklich tot«, gab Tim zu bedenken.

»Oder man wechselt einfach das Thema und träumt was anderes. Plötzlich tot zu sein ist ja auch ganz schön beschissen.«

»Ich glaub', ich träume! Was labert ihr da eigentlich, ihr armen Ärren?«, schaltete sich schließlich Kirri in die Unterhaltung ein, der nur halb und halb mitbekommen hatte, worum es dort am andern Ende des großen Schlafsaals ging.

»Das macht man wahrscheinlich automatisch«, fuhr Hasso fort und blieb Kirri in einer spontanen Entente cordiale mit seinem Gegenüber die Antwort schuldig.

»Aber was schließt man jetzt aus diesen Beobachtungen?«, wollte Tim wissen. »Dass der Mensch – seine Seele oder wie man das nennen will – unsterblich ist und dass es Gott gibt? Oder dass man nur dieses eine Leben hat und dass der Tod so furchtbar, ein so furchtbares, endgültiges Nichts und Ende und Aus ist, dass man sich das nicht mal vorstellen kann und dass man deshalb zusehen muss, dass man so viel wie möglich von dem, was einem wichtig und erstrebenswert erscheint, in dieses eine und einzige Leben reinpackt?«

»Gute Frage«, erwiderte Hasso. »Aber ist es überhaupt möglich, darauf eine einzige verbindliche Antwort zu finden? Glaubst du, du findest in der Bibel eine?«

»Die Bibel?«, meldete sich Kirri wieder zu Wort. »Kenn' ich. Ist das nicht die Geschichte vom Latten-Jupp?« Hasso rollte mit den Augen. Sein Blick schien sagen zu wollen: Von Kirri darf man nicht zu viel verlangen.

Solcherart konnten also die Entdeckungen von Dreizehnjährigen sein. Und sie machten noch viele andere. Eines Tages betrat Hasso das Zimmer und rief mit durchdringender Stimme durch den Raum: »So!« Dann fragte er in normaler Tonlage: »Wer ist das?« Er wiederholte: »So! Was 's' los hier?«

»Wille!«, erriet Tim lachend die Lösung. Und Kirri stimmte zu: »Genau!« Es gab in den Reihen der Unterrichtskräfte am Internat einen Lehrer, der jede Unterrichtsstunde, absolut und ohne Ausnahme jede, mit dem schallenden Ausruf: »So!« anstelle eines trivialen: »Guten Morgen!« begann. Er hieß Wille, und die drei Zimmer­genossen liebten ihn für diese Angewohnheit. Was auf das obligate So des Geschichtslehrers folgte, war durchaus variabel: »So! Was 's' los hier?« – »So! Mal Ruhe hier!« – »So! Macht mal die Fenster auf!« – »So! Macht mal die Fenster zu!« So oder so ähnlich tönte es zu Beginn jeder Wille-Stunde, und Hassos Parodie war vollauf gelungen. Bald waren andere Lehrer mit ihren komischen Eigenarten, typischen Gesten oder Sprachfehlern fällig. Deutschlehrer Bräsig zum Beispiel benutzte in jedem Satz drei Mal sozusagen, und Finke, zuständig für Chemie und Biologie, dehnte jeden A-Umlaut, bis es klang wie im Mäh eines Schafs. »Ääätschibääätsch. Wer Häääme sääät, soll Häääme ernten. Schääämt euch!« Und natürlich war vor allen Dingen der Kunikowski-Skandal eine nie versiegende Quelle der Inspiration. In vielfältigen Variationen stellten die Freunde alle denkbaren Gespräche und Begegnungen rund um den in Ungnade gefallenen Religionslehrer nach. So etwa ließ Tim mit erhöhter Stimme die Schulsekretärin Boberts, unter Schülern besser bekannt als Boby-Baby, den nicht mehr Unbescholtenen zu einer Dringlichkeits­sitzung laden mit den Worten: »Herr Kunikowski, der Herr Direktor möchte Sie in seinem Büro sprechen. Er lässt Sie vorab wissen, dass sein Bedarf an Toiletten­artikeln für den Moment gedeckt ist.« Anschließend imitierte Hasso überzeugend den unerlässlichen Wutanfall von Oberstudien­direktor Dr. Weber: »Ich fahr mit Ihnen so doll Schlitten, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht, Sie Null!«

Bei all diesen komödiantischen Einlagen, die stets den Beifall eines rasch anwachsenden Publikums hervorriefen, erwies sich Hasso zwar als der lustigere Imitator, Tim jedoch als der genauere Beobachter. Zusammen ergaben sie ein Comedy-Team, über das die ganze Klasse lachte, und zwar selbst dann noch, wenn einer der Imitierten leibhaftig das Klassenzimmer betrat und völlig irritiert nach den Gründen der ungewohnten Heiterkeit um ihn herum forschte. Das konnte die Sache nämlich zu einem noch größeren Spaß werden lassen.

Eines Morgens kam Wille mit seinem gewohnten »So!« in die Klasse und löste damit einen Orkan lauten Gelächters aus, der sich zum Tornado steigerte, als er darauf mit einem: »So! Was ist denn jetzt los?« reagierte. Wille stand vor einem Rätsel und sagte lieber erst mal gar nichts mehr. Bräsig war gewitzter. Er kam dem Rätsel rasch auf die Spur, und es gelang ihm, wenn auch nur mit fast übermenschlicher Anstrengung und beträchtlichen Startschwierigkeiten, das Wort sozusagen sozusagen vollständig aus seinem Wortschatz zu verbannen. Er sagte jetzt »quasi«, aber er hütete sich davor, mit diesem Wörtchen allzu verschwenderisch umzugehen, und benutzte es nur, wenn es unbedingt notwendig und von der Sache her einfach unumgänglich war – zumindest in der Klasse von Hasso und Tim.

Im Rahmen dieses umfassenden Parodie-Programms, das mit der Zeit für nahezu jeden aus dem Lehrkörper Verwendung hatte, als Vorlage für eine grobe Verzerrung, konnte auch Kirri sich behaupten. Er war nämlich im Zeichnen wesentlich begabter als Hasso und Tim und zeichnete für eine Rubrik mit dem Titel Das Lehrerkabinett verantwortlich. Es handelte sich um Karikaturen, für deren Sprechblasentexte Tim zuständig war. Im Lehrerkabinett – alternativer Titel: Lehrer­hitparade – wurden die Lehrer in der Reihenfolge ihrer Beliebtheit aufgelistet. Die Liste ergab sich aus einem Punktesystem, das Hasso entwickelt hatte: Jeder Schüler konnte einen Stimmzettel erwerben, auf dem die fünf beliebtesten Lehrer eingetragen und mit Punkten von fünf bis eins bedacht werden mussten. Den ausgefüllten Zettel konnte man in den Briefkasten der Schülervertretung im Erdgeschoss des Schlosses werfen. Auf der Grundlage dieser Stimmzettel – bei einem Punkte­patt gaben Hassos Zeugnis­noten den Ausschlag – erschien dann zwei Mal jährlich Kirris Lehrerkabinett, für das sich später der Name Gruselkabinett durchsetzte, in der von der Schüler­vertretung herausgegebenen Schülerzeitung mit dem bezeichnenden Titel Vox Populi. Die Zeitungsredaktion war selbstver­ständlich in fester Hand der Pyramide.

Unausgesprochen stand zwischen Hasso und Tim eine kameradschaftliche und doch verbissene Rivalität, die gewissermaßen die Schattenseite ihrer gemeinsamen Interessen und Begabungen war. Ohne dass er es sich selbst eingestand, wollte jeder von ihnen der bessere Schüler, der beliebtere Mitschüler, der am meisten bewunderte Schauspieler und Kabarettist sein. Kirri stand mit seinen ganz anders gearteten Fähigkeiten und Interessen außerhalb dieses Vergleichs, war gleichsam außer Konkurrenz. Was die schulischen Leistungen anging, musste Hasso akzeptieren, dass er Tim nicht das Wasser reichen konnte. Tim glänzte in allen Sprachen, in Geschichte, Religion und Musik. In den naturwissenschaftlichen Fächern war Hasso der Bessere. Doch richtig glänzen konnte er nur in Sport. Der bessere Notendurchschnitt blieb Tim vorbehalten, was infolge der leistungs- und eliteorientierten Mentalität, die im Schloss herrschte, niemandem verborgen blieb, niemandem außer vielleicht Kirri. Ihm war Ehrgeiz im Kampf um gute Noten völlig fremd.

Ihre Lust an der Schauspielerei und Zur-Schau-Stellerei brachte Hasso und Tim nicht nur auf so unnütze und geradezu verwerfliche Ideen wie die Ufo-Rache im Tabakladen, sie brachte sie auch auf den Gedanken, im Schloss eine Theater­arbeits­gemeinschaft, kurz TAG, zu gründen. Sie waren inzwischen in der Untertertia, dem achten Schuljahr. Die Ansprüche stiegen. Gespielt werden sollte, um Probleme bei der Kostümbeschaffung zu umgehen, eine in die Gegenwart verlegte Fassung von Schillers Räubern. Hasso betrachtete es von vornherein als Selbstverständlichkeit, dass er Hauptrolle und Regie übernehmen würde. Doch schon auf der ersten TAG-Sitzung gab es diesbezüglich Unstimmigkeiten. »Man kann nicht gut Regie führen und auch noch den Karl spielen«, urteilte Bert, einer der als Schauspieler engagierten Mitschüler. »Wer soll dir denn sagen, ob du gut wirkst, so wie du spielst? Du kannst dich selbst ja nicht von außen sehen.«

»Das kann doch einer übernehmen, der in der betreffenden Szene nicht auftritt – als Regieassistenz«, entgegnete Hasso gereizt. Doch im gesamten Planungsgremium von insgesamt elf Leuten regte sich Widerstand gegen Hassos als selbstherrlich empfundene Ansprüche. Dass selbst sein bester Freund Tim mit Kritik an seiner Einstellung nicht sparte, wenn er sie auch noch so sachlich vortrug, erbitterte Hasso zusätzlich. Am Ende bekam Tim die Rolle des Karl von Moor, und Hasso musste sich mit der seines bösen Bruders Franz begnügen. Alle fanden, dass die Figur besser zu Hasso passe. Als weitere Maßnahme wurde der Registrierten komplett abgeschafft und in die Hände eines »Gruppenkollektivs« gegeben, dem auch Hasso angehören durfte. Doch der war damit alles andere als glücklich. »So wird das nie was«, lamentierte er, »wir brauchen einen, der die Entscheidungsgewalt hat, der im Extremfall sagt, was Sache ist und wie etwas gemacht wird. Sonst ist das einfach unprofessionell. Glaubt ihr, beim richtigen Theater läuft das so? Ich kenne' das! Basisdemokratie! Das klappt nur auf dem Papier. In der Realität läuft das hinaus auf endlose Debattierten mit tausend unqualifizierten Meinungen, aber ohne klares Ergebnis. Nachher gibt das lauter faule Kompromisse, und keiner ist richtig zufrieden. Ohne Kopf, ohne Visionär, der seine klaren Vorstellungen hat und die zielstrebig umsetzt, wird das 'n heilloses, kopfloses Durcheinander. Ich prophezeie' euch, die Sache endet im Chaos!« Aber der kollektive Unverstand hatte sich nun einmal gegen ihn und seine Vision von der Führung durch den einen starken Mann verschworen. Man beschloss, es erst einmal wie besprochen zu probieren. Falls es so nicht klappen sollte, könne man ja immer noch umdisponieren, hieß es. »Macht doch, was ihr wollt«, beendete Hasso frustriert die Diskussion.

Am Abend in ihrem Zimmer gestand er seinen Freunden, dass er kurz davor gewesen sei, das Handtuch zu werfen. »Alles hinschmeißen?«, wiederholte Kir ungläubig. »Ich hab' schon mit den ersten Dekors angefangen.«

»Findest du nicht, Hasso, dass du 'n bisschen über­reagierst?«, meinte Tim. »Du bist die Sache einfach zu forsch angegangen. Spielst dich da als Machiavelli junior auf! Die andern haben auch ihren Stolz. Die wollen sich nicht so einfach an die Wand drücken und bevormunden lassen.«

»Sei du bloß ruhig. Als wäre' das nicht schon Ärger genug, bist du mir auch noch in den Rücken gefallen«, beschwerte sich Hasso. »Dabei weißt du genauso gut wie ich, dass Basisdemokratie Scheiße ist. Hat das vielleicht im Kommunismus geklappt? Jede Gemeinschaft braucht klare Führung. Basisdemokratie ist dagegen nichts als verkappte Anarchie, und Anarchie bedeutet Chaos!«

»Basisdemokratie ist verkappte Anarchie, gut, aber der Kommunismus ist keine Basis­demokratie, sondern 'ne verkappte Diktatur. Und die ist genauso wenig die Ideallösung wie die Anarchie.«

»Ideallösungen gibt das nicht«, warf Kirri ein.

»Aber man kann sich ihnen anzunähern versuchen«, erwiderte Tim. »Und da ist der demokratische Mittelweg doch wohl der beste.«

»Demokratie funktioniert so, dass gewählte Leute für einen beschränkten Zeitraum eine kontrollierte, aber trotzdem, genau betrachtet, ziemlich absolute Macht und Entscheidungsgewalt ausüben«, konterte Hasso, »und zwar wurde ihnen die mehr oder weniger freiwillig vom Volk übertragen, damit nicht alles im Chaos versinkt.«

»Als Dienst«, wandte Tim ein. »Sie dienen damit den Interessen aller.«

»Ach was, die logische Folge sind Machtpolitik und Machtbe­wusstsein. Oder fragt Helmut Kohl vielleicht nach der Meinung von Fritzchen Meier? Wie fing das denn mit Napoleon und Hitler an? Am Anfang waren sie durch den Willen des Volkes legitimiert.«

»Ihr Amt bleibt trotzdem – oder deshalb gerade – ein Dienst am Volk und fürs Volk«, argumentierte Tim. »So war das zumindest mal gedacht. Denk an Friedrich den Großen: der Herrscher als erster Diener des Staates. Deshalb kann man wohl auch mit Fug und Recht behaupten, dass solche Leute wie Napoleon oder Hitler 'n bisschen übers Ziel hinausge­schossen sind. Wer herrschen will, muss sich als Diener bewährt haben. Sonst endet das Ganze in 'ner Katastrophe.«

»Ja, ja«, gab Hasso verdrossen zurück, »knall du mir nur deine Bibelsprüche an den Kopf. Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Erst fällst du mir in den Rücken mit deinem faulen Kompromiss­vorschlag –«

»Jetzt hör endlich auf mit diesem dämlichen Gefasel von In-den-Rücken-Fallen«, unterbrach Tim ihn ärgerlich, »das ist doch nun wirklich Quark! Und sei nicht so verflucht selbstgefällig und egozentrisch! Man wird doch wohl ein Mal hinnehmen können, dass es andere Leute auch noch gibt und die auch ein Recht auf ihre Meinung haben. Keinem kann es immer nur nach seiner Nase gehen.«

»Kinder, seid friedlich«, versuchte Kirri zu schlichten, den jeder Streit in seinem Harmoniebedürfnis empfindlich störte. Doch schon fiel die Tür hinter Hasso knallend ins Schloss. So endete jede Meinungsverschiedenheit, in die er verwickelt war, wenn er nicht recht bekam.

Aber Kinder sind nicht so nachtragend wie Erwachsene, und auch wenn Hasso und Tim schon an der Schwelle zum Erwachsensein standen, war die Sache wie bisher jeder vermeidliche oder unvermeidliche Streit zwischen ihnen im Nu wieder aus der Welt. Wenn man so eng zusammenlebt, kann man sich anhaltende Zwistigkeiten nicht leisten. Dass Hasso nach dem Dissens bei der TAG trotzdem weiter mitmachte, war allerdings nicht Tims Überzeugungskraft zuzuschreiben, sondern allein Hassos Eitelkeit: Er hätte es niemals ertragen, unter den Zuschauern zu sitzen, während die andern auf der Bühne die Lorbeeren einheimsten, die er für sich beanspruchte.

Hasso hatte die zahllosen müßigen Diskussionen über die beste Interpretation einer Rolle und über tausend andere Fragen der Inszenierung, die die Proben endlos in die Länge zogen, richtig vorausgesagt. Doch als Die Räuber endlich auf der eigens für diesen Abend im barocken Rittersaal des Schlosses errichteten Bühne aufgeführt wurden, war all das vergessen. Sobald Tims Schlusssatz: »Dem Mann kann geholfen werden!« verklungen und der Vorhang gefallen war, donnerte anerkennender Applaus durch den gut gefüllten Saal. Dann ging der Vorhang wieder auf, und nacheinander erschienen die einzelnen Akteure wieder auf der Bühne, um sich vor den applaudierenden Zuschauern zu verneigen. Zuallererst Karl von Moor alias Tim, danach Franz alias Hasso. Ewig hatte er hinter dem Vorhang warten müssen, weil der Beifall für Karl nicht abebben wollte. Es war für Hasso eine Enttäuschung, dass er für seine extrem schwierige Rolle als Franz weniger Beifall erntete als Tim in der Rolle des Karl, einer Figur, deren differenziertes Profil, deren Ecken und Kanten in Tims glatter Interpretation nicht besonders gut zur Geltung gekommen waren, jedenfalls nach Hassos Urteil. Aber vielleicht war er nach der anstrengenden Vorstellung auch ein bisschen übersensibel und bildete sich die ungleich verteilte Anerkennung nur ein. Außerdem: Sollte er seinem besten Freund diesen verdienten Erfolg missgönnen? Tim hatte genauso hart für seine Rolle gearbeitet wie er. Nachdem sich alle Schauspieler verneigt hatten, bekam auch Kirri noch ein Blatt vom Lorbeer ab, allerdings eher unfreiwillig. Die Spieler schleiften ihn buchstäblich auf die Bühne, und Tim verkündete, dass Kirri die Bühnendekors angefertigt habe. Verkrampft nickte Kirri der klatschenden und johlenden Menge mit seinem hochroten Kopf zu, sich vor einer richtigen Verbeugung genierend. Wenn nur seine Eltern ihn so hätten sehen können! Sie wären stolz auf ihn gewesen. Doch Eltern hatte Kirri keine mehr.

Als die Darsteller unter Hassos Führung erschöpft durch die seitlich angebrachten Gardinen, die die Kulissen von der Außenwelt abschirmten, wieder ins richtige Leben hinaustraten, hatten sie jede Menge Hände von Gratulanten aller Altersklassen zu schütteln, vom älteren Herrn im Smoking, Oberstudiendirektor Dr. Weber, der sie natürlich als Erster zu der gelungenen Aufführung beglückwünschte und Stolz bekundete, bis zu der kleinen Sextanerin Wiebke von Waldstätten, die Tim mit einer halb verdorrten Narzisse in der Hand anstrahlte. »Große Klasse, der Karl«, hieß es immer wieder. Aber auch: »Super gespielt, Franz.« Hasso hörte genau hin. Auch seine Mutter war neben der Bühne erschienen, um ihrem Sohn zu gratulieren. »Wer ist denn der schmucke Bengel, der den Karl gespielt hat?«, wollte sie wissen.

»Ein Freund«, antwortete Hasso.

»Der kann aber spielen, dein Freund!«

Hasso konnte nicht leugnen, dass Tim zu einem »schmucken Bengel« herangewachsen war. Er eroberte die Herzen im Sturm – nicht nur anlässlich dieses Stücks, in dem er zudem eine sympathische Figur hatte spielen dürfen, wohingegen er selbst, Hasso, einen hässlichen und gemeinen Intriganten gemimt hatte. Franz war zwar ohne jeden Zweifel die schwierigere und provokantere Rolle – Hasso hatte viel aus sich herausholen müssen –, aber welcher Zuschauer bewertete die schauspielerischen Leistungen einer Schulaufführung schon unter derart professionellen Gesichtspunkten? Es war also kein Wunder, wenn Tim, ungeachtet der schauspielerischen Leistung an sich, mehr Zuschauersympathien entgegen­schlugen als ihm, und damit tröstete Hasso sich. Natürlich war ihm auch nicht verborgen geblieben, dass er kein so schönes, form­vollendetes Gesicht hatte wie sein Freund Tim. Keiner hatte das bei der Besetzung so direkt sagen wollen, aber er wusste es trotzdem: Sein Aussehen hatte ihn die Hauptrolle gekostet. »Wir haben eben alle unsere Stärken und Schwächen«, antwortete Hasso mit bescheidenem Understatement auf die lobenden Worte, die ihm galten, und nahm lächelnd noch ein paar Gratulationen entgegen.

Glücklich und zufrieden, aber auch todmüde sanken die drei Freunde weit nach Mitternacht in ihre Kojen und zogen, endlich wieder allein miteinander, ihre persönliche Bilanz des erfolggekrönten Unternehmens TAG. Noch einmal standen ihnen die einzelnen Szenen vor Augen, vor allem diejenigen, die, erkennbar an den lauten Lachern, beim Publikum besonders gut angekommen waren. Die meisten – immerhin in dieser Hinsicht hatte er den Schauplatz als Sieger verlassen – waren bei Hassos aussichtsloser Werbung um Amalia zu hören gewesen. »Du hast den aber auch so was von schmierig gespielt«, witzelte Kirri. »Ich dachte echt, du rutscht gleich auf der Schleimspur aus.«

Tim gab zu, im zweiten Akt einen »bösen Hänger« gehabt zu haben. Plötzlich sei der Text wie weggeblasen gewesen. Er habe sich gefühlt wie in einem luftleeren Raum. »Hat kein Schwein gemerkt«, beruhigte ihn Kirri. »Du warst Spitze, das sagen doch alle.«

»Keine Frage«, bestätigte Hasso.

»Aber das größte Lob gebührt ohne Frage unserem Franz im Schlafrock«, urteilte Tim überschwänglich.

»Pfaffengewäsche, Pfaffengewäsche!«, wiederholte Hasso mit sich überschlagender Stimme seinen Text und brachte damit alle noch einmal zum Lachen. Übermütig stimmten sie zu guter Letzt noch eine Strophe von »So ein Tag, so wunderschön wie heute« an, ehe dumpfes Protestklopfen aus dem Nachbarzimmer sie jäh verstummen ließ.

Stieg Larsson lebt!

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