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Der kleine Kobold im Dirndl

Georg Berghammer

(Sachrang, Aschau)

Julius, der junge Tannenhofbauer, blickte hoch zum Spitzsteingipfel. Der Berg mit der markanten Flanke durchdrang die sonnendurchflutete Nebeldecke, die sich wie ein gigantischer Wattebausch um die zackigen Felsen schmiegte. Der Sommerwind vertrieb schnell die hartnäckigsten Wölkchen, gab die Sicht frei auf das schmucke Bergsteigerdorf Sachrang. Hier lebte und wirkte einst der allseits bekannte Müllner Peter. Saftige Almwiesen prägten das Bild dieser herrlichen Landschaft. Gänseblümchen, Margeriten und Alpenveilchen mischten sich unter die Gräser. So entstand ein bunter Blumenteppich in voller Blüte. Doch die Schmetterlinge, Zitronenfalter und Pfauenaugen, Bienen und dicken Hummeln mussten jetzt auf andere Reviere ausweichen, um weiterhin ihrer Arbeit als Bestäuber nachgehen zu können. Der Jungbauer Julius setzte mit voller Kraft und frischem Elan zur ersten Heumahd an.

»Bist schon recht fleißig, in aller Herrgottsfrühe!«, rief ihm die Bäckerliesl etwas mitleidig zu. »Es hilft ja nix, wer soll denn sonst die Ernte einbringen?«, antwortete der Julius. Dann griff er wieder schwungvoll zur Sense, um den großflächigen Steilhang an der Mitterleiten abzumähen. »Magst einen frisch aufgebrühten Kaffee und dazu eine Butterbreze? Ein gutes Frühstück hast du dir jetzt schon verdient«, meinte sie mitfühlend. »Gerne«, sagte er und bedankte sich mit einem etwas zaghaften Lächeln. Er ist schon ein schneidiger Kerl, dachte sich die junge Bäckerfrau. Seit ihrer Schulzeit waren die beiden miteinander befreundet. Der Julius hätte sich eine gemeinsame Zukunft durchaus vorstellen können, aber die Liesl fühlte sich nicht zu einer Bäuerin berufen. »Eine gute Freundschaft ist mehr wert als eine schlechte Partnerschaft«, sagte sie öfter mal zu ihm. Und der Julius musste sich eingestehen, dass sie wohl recht hatte.

Als an diesem Sommertag die Kirchturmuhr gegen zwölf ging und die Mittagszeit einläutete, brannte die Sonne so heiß vom Chiemgauer Himmel, dass Julius sich ständig die Schweißperlen von der Stirn wischen musste. Ein Schluck von dem sonst so frischen Quellwasser wäre ihm jetzt am liebsten gewesen, aber das kleine Bächlein, die Prien, war ausgetrocknet. Wie die Kehle von Julius. Die Hitze der vergangenen Tage hatte Mensch und Tier so richtig zugesetzt. Einige Bachforellen, die der Fluss einst bis an den Chiemsee spülte, schnappten verzweifelt nach Luft, manche lagen bereits verendet im Bachbett.

Für Julius war es auch ein trauriger Tag. Ein Gedenktag an jenes tragische Ereignis, das sein Leben für immer verändert hatte. Er dachte zurück an die Zeit vor genau zwanzig Jahren. Julius war wieder am selben Platz, wo er als kleiner Bub am Ufer der Prien spielte, zusammen mit Betty, seiner jüngeren Schwester. Die war so quirlig wie ein kleiner Pumuckl. Manchmal sichtbar, manchmal unsichtbar, wenn man nicht immer auf sie aufpasste. An einem Sommertag vor nunmehr zwanzig Jahren, als sich der sonst so friedlich dahinfließende Bach nach sintflutartigen Starkregenfällen innerhalb kürzester Zeit in ein gefräßiges Monster verwandelte, geschah das, was nie und nimmer hätte passieren dürfen. Betty trieb leblos im Wasser der Prien. Ein Augenblick der Unachtsamkeit hatte genügt, um den kleinen Kobold im netten Dirndlkleid für immer unsichtbar zu machen.

Schon der Gedanke an diesen einen Augenblick erzeugte bei Julius einen immer wiederkehrenden Schmerz, so zeitnah, als wäre es gestern geschehen. Julius und Betty sprangen damals vergnügt in den riesigen Wasserpfützen herum, die sich auf der sumpfigen Wiese unweit des Flusses gebildet hatten. Sie hörten nicht das warnende Donnergrollen. Zu sehr waren sie ihrem unbändigen Spieltrieb gefolgt, der sie näher und näher an die rauschenden Fluten der Prien führte. Betty sprühte schier vor Lebensfreude. Dazu gehörte natürlich auch das Versteckspielen. Ehe sich Julius versah, war Betty verschwunden. Hinter dem großen Holzstapel konnte er sie nicht finden. Auch in dem kleinen Heustadel, wo sie manchmal Unterschlupf vor drohenden Unwettern gesucht hatten, war keine Spur von Betty. Julius wurde plötzlich von einer Angst ergriffen, die er bisher so noch nicht gekannt hatte. Er rief immer wieder laut ihren Namen, sogar die Kampenwand leitete sein Echo im gesamten Priental weiter. Doch Betty hörte seine verzweifelten Rufe nicht mehr. Ihr kindlicher Übermut hatte sie über die Grenzen des Lebens hinausgetragen, als sie von der starken Strömung des Flusses mitgerissen wurde. Julius konnte ihr seine helfende Hand nicht reichen. Betty war in ihren letzten Minuten und Sekunden allein, konnte dem Schicksal nicht entrinnen.

Als die Männer von der Bergwacht das kleine Mädchen Stunden später auf dem Wasser treibend fanden, glitten zwischen ihren Fingern viele bunte Blumen. Betty hatte wohl am Wegesrand einen Strauß Vergissmeinnicht gepflückt. Es waren ihre Lieblingsblumen. Vielleicht wollte sie Julius damit sagen: »Vergiss mich nicht.« Aber vergessen konnte Julius seine Schwester nie. Er fragte sich oft, wo Betty jetzt wohl sein mochte. Von der Himmelsliege am Aschauer Bankerlweg aus konnte er sie um die Mittagszeit nicht sehen, wohl aber in der Nacht, als tausend Sterne glühten. Dann war Betty auch dabei. So wie damals am Wasserfall bei Schoßrinn, wo manchmal tosende Wassermassen in das Flussbett der Prien stürzen, wo die Sonnenstrahlen einen bezaubernden Regenbogen an die Felswände malen. Betty liebte dieses faszinierende Naturschauspiel.

Julius fragte sich, was seine geliebte Schwester heute wohl machen würde. Sie wäre bestimmt genauso gerne in den heimischen Bergen unterwegs, wahrscheinlich immer noch als Pumucklchen. Die Schatten der Vergangenheit hatten Julius bis zum heutigen Tag, dem zwanzigsten Jahrestag von Bettys Tod, begleitet. Dieser Tag war genau so heiß wie der Tag zuvor, und all die Tage davor. Es hatte lange nicht mehr geregnet im Priental. Plötzlich war ein unheimliches Donnergrollen zu hören. Grelle Blitze zuckten über den gesamten Chiemgauer Bergkamm. Es wirkte gespenstisch. Viele Leute aus dem Dorf versammelten sich an der kleinen Ölbergkapelle, die malerisch am Fuße des Spitzsteins liegt. Einige Bauern wollten wohl eine Bittbotschaft zum Petrus schicken, das drohende Unwetter möge sich rasch wieder verziehen. Andere wiederum bettelten um den lang ersehnten Regen. Auch Julius war gekommen. Er zündete in der Kapelle eine Kerze für Betty an. Vielleicht hatte sie sich hinter dem Herrgottswinkel versteckt?

Plötzlich hörte Julius eine vertraute Stimme. Das konnte nur Betty sein. Sie lächelte ihm aufmunternd zu und flüsterte verschmitzt: »Freut mich, dass du zu Gott gefunden hast. Mir geht es gut, mach’ dir keine Sorgen. Ich pass vom Himmel aus auf dich auf.« Seit diesem Erlebnis in der Kapelle wusste Julius, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unser Verstand sich erklären kann. Eine zweite Kerze zündete Julius für seinen Vater Josef an, obwohl der ihm seit diesem Schicksalstag sämtliche Schuld an dem Unglück um Betty zugewiesen hatte. Das war beinahe so, als würde der kleine Julius durch die ständigen Vorwürfe immer wieder unter das Wasser der Prien gedrückt werden. Eine schier unerträgliche Belastung. »Wo warst du, als dich Betty brauchte? Wie konntest du unser kleines Mädl so alleine lassen? Du hast unser aller Leben zerstört.« Solch demütigende Worte verfolgten Julius durch seine gesamte Kindheit und Jugendzeit.

Der kleine Junge von damals wusste die traurige Wahrheit, konnte sie aber nicht aussprechen. Eigentlich wollte er es seinem Vater genauso direkt sagen: »Wo warst du, als wir dich brauchten? Wahrscheinlich wieder mal beim Dorfwirt, deiner zweiten Heimat.« Damit hätte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Der alte Tannenhofbauer, sein Vater Josef, hat seine eigenen Probleme immer nur im Alkohol ertränkt. Vor nunmehr zwei Jahren war er völlig zermürbt und verhärmt an Leberkrebs verstorben. Sein Körper hatte die mutwillige Selbstzerstörung nicht mehr länger mitmachen wollen.

Dabei hatten Julius und sein Vater sich anfangs gut verstanden. Sie fuhren oft gemeinsam aufs Feld und brachten die Ernte ein. Manchmal nahm der Vater seinen Sohn mit zum Angeln, wo sie schweigend im Boot saßen und auf einen guten Fang hofften, damit sie abends über dem Lagerfeuer zusammen mit der Familie ein leckeres Fischessen zubereiten konnten. »Zu einem guten Fisch gehört ein noch besserer Wein«, meinte der Vater, wobei er immer öfter das edle Getränk mit dem süffigen Aschauer Märzenbier verwechselte. Diese gefährliche Mischung machte ihn zusehends aggressiver. Bei den zünftigen Dorffesten schlug er manchmal dermaßen über die Stränge, sodass aus hitzigen Wortgefechten handgreifliche Schlägereien wurden. Das gehörte seiner Ansicht nach zum Dorfleben dazu. Als Josef wegen zweier Missernten seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte und deshalb die Pfändung und Zwangsversteigerung drohte, sah er im Alkohol den einzigen Nothelfer.

Er wurde in seinem Verhalten unerträglich. Bald schon begann er Maria, seine Frau, schlecht zu behandeln, wurde immer öfter gewalttätig. Ein ums andere Mal schrie er sie an, warf ihr von ihm selbst erdachte Unwahrheiten vor den Kopf: »Du betrügst mich, ich seh’ es dir an. Hinter meinem Rücken treibst du es mit dem Loisl, dem Hannes, und wahrscheinlich auch noch mit dem Toni. Ich bin nicht blöd, verkauf mich nicht für dumm!« Als seine ehemals große Liebe ihn nur verständnislos ansah, verlor er die Beherrschung, schlug ihr mit dem flachen Handrücken ins Gesicht, bis sie blutete. Hinterher tat es ihm schrecklich leid, er gab die Schuld dem Alkohol, bat um Verzeihung.

Doch die Mutter von Julius hatte aufgehört, ihren Mann zu lieben. Sie wollte nur, dass dieses Martyrium aufhört und er sie endlich in Ruhe lässt. Als das schlimme Ereignis mit dem Verlust der Tochter in sein Leben trat, er die geliebte Prinzessin für immer verlor, rutschte Josef endgültig in die Sucht ab. Julius hoffte vergeblich, dass sein Vater sich von dem Schock erholen würde. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als für die Eltern stark zu sein und das Überleben des Hofes zu sichern.

Aber auch seine Mutter erholte sich nie wieder richtig von dem damaligen tragischen Unglück. Der trinkende Mann, die vielen Schulden und die Einsamkeit nach dem Tod von Betty ließen sie am Leben verzweifeln. Nach und nach verwandelte sich ihre zupackende Art und ihr praktischer Realismus in lähmende Resignation. Sie verlegte sich aufs Beten, zog sich tagelang in ihre Kammer zurück, wollte nur noch Gottes Beistand. Doch die Gebete heilten ihre schwere Krankheit nicht. Der Krebs ergriff von ihr Besitz, hatte bereits mehrere Organe befallen.

»Jetzt wird’s nimmer lang dauern«, meinte sie oft vielsagend. Schließlich wurde sie zum Pflegefall, musste beinahe rund um die Uhr betreut werden. Julius brachte es nicht übers Herz, sie in eine Pflegeeinrichtung zu bringen. Trotz ihrer schweren Krankheit, oder gerade deswegen, gab die Mutter ihrem Sohn einen unschätzbar wertvollen Rat. Sie drängte darauf, dass sich Julius um eine fleißige Dorfhelferin bemühen sollte. Schließlich musste es mit der Landwirtschaft auf dem Tannenhof irgendwie weitergehen. Die Arbeit auf dem elterlichen Hof war allein nur schwer zu bewältigen. »Mein Bub, du wirst mal ein tüchtiger Bauer, und ein tüchtiger Bauer braucht eine tüchtige Bäuerin.«

Ihre aufmunternden Empfehlungen taten dem Julius gut. Er brachte sein Anliegen im Gemeindeamt vor. Dort sah man seine Anfrage eher skeptisch: »Wir können Ihnen nicht versprechen, dass Sie gleich eine Hilfskraft zum Tannenhof mitnehmen können. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist für solche Tätigkeiten so gut wie niemand verfügbar. Sie müssen Geduld aufbringen. Vielleicht klappt es noch vor der Erntezeit.«

Nach bangen Tagen des Wartens kam aus der Gemeindeverwaltung die für Julius höchst erfreuliche Nachricht: Eine Dorfhelferin aus Polen sei kurzfristig verfügbar. Julius fuhr dennoch mit etwas gemischten Gefühlen zum Bahnhof nach Aschau. Schließlich konnte er kein Wort polnisch. Wie sollte er sich da verständigen? Zu seiner Überraschung löste sich dieses kleine Problem schon beim ersten Zusammentreffen ganz von selbst. »Guten Tag, ich bin die Verena,« begrüßte sie Julius mit bezauberndem Lächeln. »Freut mich, dass du so schnell kommen konntest. Du wirst sehen, dass du dich bei uns im schönen Priental sehr wohlfühlen wirst,« antwortete der junge Bauer.

Verena schwärmte geradezu von dieser herrlichen Gegend. »Ich habe schon viel von dem Märchenschloss auf Herrenchiemsee gehört. Als kleines Kind hab ich sogar von König Ludwig geträumt.« Julius gefiel sich jetzt in der Position des Touristenführers. Stolz erklärte er Verena die geschichtsreichen Besonderheiten und auch die weithin bekannten Sehenswürdigkeiten, sowohl auf der Herreninsel als auch auf der Fraueninsel. »Unser König Ludwig II. von Bayern hat das Schloss auf Herrenchiemsee nach dem Vorbild von Versailles bauen lassen, weil er König Ludwig XIV. von Frankreich so sehr verehrte.«

»Und die Klosterkirche von Frauenwörth auf der kleineren Fraueninsel geht auf die Zeit von Herzog Tassilo zurück, der im Jahr 782 diese Benediktinerabtei gegründet hat,« ergänzte Verena zu seiner Überraschung. »Das ist richtig. Du kennst dich erstaunlich gut in der bayerischen Geschichte aus«, bekannte Julius.

»Ich interessiere mich eben für das Land, in dem ich arbeite«, entgegnete Verena. »Ich habe gehört, dass du auf dem Tannenhof dringend eine Erntehelferin suchst. Nur für einen Sommer lang, weil der Hof vielleicht schon bald verkauft wird?«

Jetzt hätte der Julius einen Schluck von seinem selbst gebrannten Obstler gebraucht, um diese Worte von Verena besser verdauen zu können. Nach dem kurzen Ausflug in die bayrische Vergangenheit hatte ihn die Wirklichkeit wieder eingeholt. Es stimmte ja. Die Zwangsversteigerung stand tatsächlich bald schon an. Nur hatte er mit seiner Mutter nie darüber gesprochen. Julius wollte seine gebrechliche alte Mam, wie er sie oft nannte, nicht auch noch mit dieser schlimmen Nachricht zusätzlich belasten. Und es waren auch nicht die beiden Missernten, die sein Vater immer als Ausreden für das unrentable Wirtschaften auf dem Tannenhof gebrauchte. Vielmehr war es die Spielsucht von Josef, die sich immer weiter steigerte. Verzweifelt versuchte der alte Tannenhofbauer den immer höher werdenden Schuldenberg durch eine Glückssträhne beim Kartenspiel abzutragen. Doch Josef hatte sich verzockt. Er geriet in eine immer tiefere Abhängigkeit, die eine Zwangsversteigerung des Hofes bald schon unausweichlich machte.

Verena bemerkte mit ihrer weiblichen Intuition sofort die Bedrücktheit von Julius, wusste aber nicht, wie sie ihm in dieser ernsten Situation helfen könnte. Am besten wohl mit ihrer tüchtigen Arbeitskraft, die sie schon in ihrer eigenen Familie mit voller Hingabe eingesetzt hatte. Aufgewachsen in Lötzen, nahe der masurischen Seenplatte, musste sie als älteste Tochter einer armen polnischen Bauernfamilie schon früh mit anpacken und für ihre drei jüngeren Geschwister sorgen. Besonders zu ihrem Bruder Wacław hatte sie ein inniges Verhältnis. Wohl auch aus dem Grund, weil Wacław einen angeborenen Herzfehler hatte. Seine Ärzte rieten ihm zur Vorsicht, vor allem bei sportlichen Aktivitäten. Doch Wacław wollte immer seinen eigenen Willen durchsetzen. Und so kam es, wie es wahrscheinlich kommen musste. An einem warmen Sommertag konnte er der Versuchung nicht widerstehen und sprang in erhitztem Zustand in den noch relativ kühlen Badesee. Der Temperaturunterschied war für sein Herz zu groß. Ein Kreislaufkollaps war die Folge von seinem Leichtsinn. Wacław wollte um Hilfe schreien, doch er wurde schwächer und schwächer. Beinahe schon bewusstlos, versank er lautlos in der Tiefe des Löwentinsees in den Masuren. Wacław konnte nur noch tot geborgen werden.

Verena fühlte sich ebenso schuldig, weil sie im entscheidenden Moment nicht bei ihrem Bruder war. Julius konnte nicht anders. In einem wahren Wortschwall sprudelte es nun aus ihm heraus: das erlebte Drama um Betty. Verena hörte ergriffen zu und meinte mitfühlend: »Da haben wir ja ein gemeinsames Schicksal.« Julius nickte zustimmend und dachte: Gemeinsame Schicksale schweißen zusammen, machen einander stärker. Er sollte recht behalten. Zu Hause angekommen, stellte Julius Verena gleich seiner Mutter vor: »Hier ist die Dorfhelferin, die du dir immer gewünscht hast, damit unser Hof nicht zwangsversteigert und verkauft wird.« Julius biss sich auf die Zunge. In seiner Euphorie hatte er sich verplappert. Er wollte seiner Mutter diese traurige Wahrheit nicht sagen. Zumindest so lange nicht, bis sie es irgendwann mal erfahren musste, wenn es da vielleicht nicht schon zu spät war.

Aber so weit sollte und durfte es nicht kommen. Mit vereinten Kräften und eisernem Willen schafften Julius und Verena das scheinbar Unvermeidliche: Die Zwangsversteigerung vom Tannenhof abzuwenden. Die ursprünglich geplante Aufenthaltsgenehmigung von Verena als Aushilfe nur für ein halbes Jahr wurde in beiderseitigem Einverständnis verlängert auf ein ganzes Jahr, danach auf ein weiteres Jahr, dann auf unbestimmte Zeit. Julius merkte bald, dass Verena die harte Arbeit am Tannenhof gern machte. Dafür war er seiner Dorfhelferin sehr dankbar. Verena hatte ihm schon öfters gesagt, dass sie die Pflege der Mutter und alle sonstigen Tätigkeiten auf dem Hof machen wollte. Auch für die Tiere auf dem Bauernhof hatte sie immer ein gutes Gespür. Die zehn Milchkühe im Stall freuten sich, wenn Verena jeden Tag um fünf Uhr morgens frisches Grünfutter brachte. Man sah es ihnen an. Zum Frühstück gab es natürlich frische Eier von den fleißigen Legehennen. Bertl, der Hahn, wollte eigentlich gar nicht der Hahn im Korb sein, weil er spürte, wo das manchmal enden kann: Im Kochtopf. Die Katze Minka und Bello, der Hofhund, machten das kleine idyllische Paradies auf dem Tannenhof beinahe perfekt. Nach Feierabend wurde es am Tannenhof richtig gemütlich. Die Heuernte war eingebracht, das Vieh im Stall versorgt. Nach getaner Arbeit saßen Julius und Verena oft gemeinsam auf der altbayrischen Hausbank, schauten zufrieden auf ihr erbrachtes Tagwerk zurück und konnten gemeinsam den Sonnenuntergang im Priental genießen.

Langsam kam eine romantische Stimmung zwischen den beiden auf. Julius wurde mit einem Mal klar, was er an Verena hatte. Nicht nur ihre Arbeitskraft, auch ihre Gesellschaft war ihm sehr angenehm. Es passte einfach. Und so machte er Verena spontan den Vorschlag, doch mal an das Bayrische Meer zu fahren. Er wollte mit ihr in die Schafwaschener Bucht, dorthin, wo die Prien in den Chiemsee mündet. »Werden da Schafe gewaschen?«, fragte Verena etwas erstaunt in ihrem nicht ganz akzentfreien Deutsch. »Nein, meine Liebste«, erwiderte Julius, und er musste dabei herzlich lachen. Über diese Vertrautheit war er beinahe erschrocken. Verena freute sich über die zärtliche Anrede von Julius. Insgeheim hatte sie es sich schon oft gewünscht, den etwas schüchternen Julius mit ihrem heiteren Wesen aufzumuntern. Und sie nutzte die Gelegenheit, ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange zu geben.

In der darauffolgenden Nacht träumte Julius seinen schönsten Traum. Seine Schwester Betty erschien ihm und sagte: »Julius, ich freue mich für dich. Verena ist das Beste, was dir passieren konnte. Halt sie fest und lass sie nie wieder los. Sie wird dir eine gesunde Tochter schenken, die euer beider Leben bereichern wird.« Etwas ungläubig erwachte Julius, rieb sich verwundert die Augen und dachte: »Wer weiß? Manchmal werden Träume wahr.«

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne nicht nur im Priental, auch die Herzen von Verena und Julius waren hell erleuchtet. Dieser Sonntag sollte ein ereignisreicher Tag für die beiden werden. Sie schnürten ihre Wanderstiefel, machten einen Spaziergang entlang der Prien. Bald schon erblickten sie das herrschaftliche Schloss von Hohenaschau, das mächtig auf einem Felsen über Aschau thront. Der prächtig herausgeputzte Laubensaal, in dem einst die adeligen Familien von Freyberg und von Preysing residierten, wartete scheinbar nur auf einen Besuch von Verena und Julius. Zu ihrer Begrüßung kreiste majestätisch ein Seekopfadler. Sie konnten den atemberaubenden Sturzflug des Greifvogels miterleben, ebenso sein schwereloses Dahingleiten. Die Flugshow in der Falknerei Hohenaschau war beeindruckend. Julius wünschte sich, mit Verena wie ein Vogel an das Ziel seiner Träume zu fliegen. Die Schafwaschener Bucht an der Prienmündung sollte dieses Traumziel sein.

Nun hatten sie viel Zeit füreinander, sich näher zu kommen, und ein lauschiges Plätzchen am Seeufer ließ keine Zweifel mehr aufkommen: Amors Pfeil hatte beide getroffen. Im schönsten Moment der Glückseligkeit stellte Julius seiner Verena die entscheidende Frage: »Willst Du mit mir auf dem Tannenhof zusammenleben? Willst Du meine Frau werden?« Diese Worte von Julius berührten Verena so sehr, dass sie spontan »Ja, ich will« sagte. Während der Vermählung in der Kirche zu Sachrang schworen sie sich die ewige Treue. In der Hochzeitsnacht verschmolzen ihre Herzen miteinander.

Einige Wochen später verriet Verena ihrem Julius das süße Geheimnis: »Es ist ein kleines Mädl unterwegs zum Tannenhof, was sagst du dazu?« Verena war im dritten Monat schwanger. Julius konnte sein Glück kaum fassen: »Ich möchte, dass unsere Tochter Betty heißt. Was meinst du?« »Ich kann mir keinen besseren Namen vorstellen«, erwiderte Verena. »Aber nur unter der Bedingung, dass unser nächstes Kind, sollte es ein Junge werden, Wacław heißt.« Zu ihrer Überraschung brauchten Verena und Julius darauf gar nicht lange warten. Nach Betty kündigte sich gleich ihr Bruder Wacław an. Verena hatte ein gesundes Zwillingspärchen zur Welt gebracht. Der kleine Wacław spielte den Schutzengel für seine Zwillingsschwester Betty mit besonderer Freude. Jetzt gibt es wieder ein nettes Pumucklchen im Dirndlkleid, das es nur so im Priental geben kann.

Zauberhafte Urlaubsgeschichten aus dem Chiemsee Alpenland

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