Читать книгу Zauberhafte Urlaubsgeschichten aus dem Chiemsee Alpenland - Die Rosenheimer Autoren - Страница 9

Оглавление

Endlich Feierabend

Annette Bahr

(Kampenwand, Aschau, Prien)

Ich hatte einen sonnigen Urlaubstag am Wasser des Chiemsees verbracht. Meine Haut war leicht gebräunt, und ich roch den unverwechselbaren Kokosduft der Sonnenmilch, die mich sofort in Ferienlaune brachte. Das glänzende Wasser und die gleichmäßig plätschernden Wellen, auf denen die Segelboote und Stand-Up-Paddler ihr Bestes gaben, haben mich schläfrig und glücklich gemacht. Ich dachte an den gestrigen Tag, als ich eine Mutprobe, die eigentlich eine Wette mit meiner besten Freundin war, eingelöst hatte. Ich, die sonst nicht mal auf eine normale Haushaltsleiter stieg, ohne dass mir schwindlig wurde, flog mit einem Gleitschirm von der Kampenwand!

»Damit du den Überblick von ganz oben über dein Leben zurückgewinnst«, hatte Steffi gesagt und gelacht, als sie mir meinen Geburtstagsgeschenk-Gutschein von Chiemsee Flying übergab. Zunächst fing der Tag sehr windig an und ich hoffte bereits, dass die Verabredung mit dem Fluglehrer ausfallen würde. Aber fröhlich, wie die Bergler hier im Rosenheimer Land sind, begrüßte er mich mit einem herzhaften Händedruck. Ich hatte sofort Vertrauen in diese kräftigen Hände und war mir sicher, dass er mich gut in den Seilen halten würde. Mit zittrigen Knien beobachtete ich, wie ich das Geschirr umgelegt bekam, und bevor ich noch NEIN rufen konnte, rannte er los und stieß uns von der Bergkante ab. Ich schrie wie wild in sein Ohr, und die Angst löste sich dabei mit einem Ruck aus meinem Bauch und strömte in alle Winde. Wir schwebten über Aschau und segelten 45 Minuten in der Luft, unten das Grün der Wälder, das durch den frischen Morgentau bis zu uns herauf nach einem gesunden neuen Tag roch. Das Schloss Hohenaschau glänzte, wie sauber herausgeputzt für einen Touristenansturm. In der Ferne glitzerte der Chiemsee, und die ersten Segler steuerten ihre weißen Boote im Sonnenaufgang über das Bayerische Meer.

Als Michael, so hieß mein Fluglehrer, fragte, wie mutig ich sei, sagte ich tapfer: »Mach nur«, aber als er zu schaukeln begann und wir wie das Pendel eines alten Regulators zur Erde segelten, war mir doch sehr flau im Magen.

Ich war stolz auf mich und meinen Mut, und auch Michael fand den Flug überaus gelungen. Als er lachte und seine weißen Zähne zeigte, fühlte ich eine lang vermisste Geborgenheit bei diesem urigen Mann.

Nun saß ich nach dem Abendessen auf der Terrasse meines gemütlichen Hotels in Prien im wunderschönen Chiemgau und dachte über meine Zukunft nach. Ich hatte einige grundlegende Entscheidungen zu treffen, die, jede für sich, ungeahnte Konsequenzen nach sich ziehen würden und Mut kosteten. Der Nebel der kommenden Zeit schien dichter als in einem Roman von Edgar Allen Poe.

Ich war 49 Jahre alt und stand vor der wichtigsten Wende der letzten Jahrzehnte. Mein Name ist Annegret und ich hatte mir diese Auszeit beruflich und privat genommen, um nachzudenken.

Meine Freunde lachten und taten meine Überlegungen bereits als typische Midlife-Crisis ab. Die Frage, ob das schon alles im Leben gewesen sei, spukte auch bei ihnen im Kopf herum, aber keiner traute sich wirklich Schritte in eine andere, ungewohnte und vielleicht auch zunächst unbequeme Richtung zu gehen. »Die übliche, langweilige Alltagsroutine ist leichter zu ertragen, als den Regenbogen am Horizont anzupeilen«, hatte meine Ärztin einmal gesagt.

War das Leben früher leichter oder kam mir das in der Erinnerung nur so vor? Warum konnte man damals schneller Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen? Immer darauf vertrauend, dass es schon weitergehen würde, selbst wenn es nicht wie geplant lief.

Ich träumte mich zurück auf der Spur meines Lebens. Da gab es meine Ehe und die Geburt meiner geliebten Tochter. Auf sie bin ich besonders stolz! Davor eine Zeit des Reisens in weite Ferne. Alle Kontinente hatte ich bereist und damit meinen Kindheitstraum erfüllt. Eine Jugend der Einsamkeit folgte nach einer wunderbaren Kindheit, die ich dank meiner herzensguten Oma erleben durfte.

Der Kellner kam müde angeschlurft, und ich bestellte ein Bier bei ihm. Ich schaute das weite Panorama der Berge vor mir an und sah die Kampenwand im Abendrot, saftig grüne Wiesen und das glänzende Wasser des Sees, in dem ich heute Nachmittag gebadet hatte. Zwei wunderbare Tage der Erholung und Einkehr lagen hinter mir.

Wohin würde das Zeitmobil mit mir reisen, wenn ich die Wahl hätte zwischen 1969 und 2018? Ich nahm die Gedankenfäden wieder auf …

Plötzlich verschwammen die Menschen um mich herum. Die Stimmen klangen nur noch wie ein Rauschen. Irrte ich mich oder vibrierte der Boden unter mir?

Wie aus dem Nichts saß mein Vater mir gegenüber – sehr jung und gutaussehend. Er hatte sich heute schick gemacht. Er trug ein weißes Hemd mit Binder und dunkler Hose. Seine Schuhe hatten eine dicke weiße Kreppsohle.

Gab es etwas zu feiern? Ich sah mich um, auch die anderen Gäste waren alle sehr elegant gekleidet. Jeder Mann mit weißem Hemd und passendem Schlips, auf dem Nebenstuhl lagen ihre Hüte. Die Frauen hatten bunte, enganliegende Kleider an und waren gut frisiert.

Jetzt bemerkte ich meine Mutter. Auch sie war jung und wunderschön. Schwarzes Haar, aufwändige Hochsteck-Frisur und ein Kleid mit einer ganz schmalen Taille – der Stoff mit großen gelben Blumen bedruckt. Ich sah stolz zu ihr hinüber. Eine liebevolle, vertraute Stimme sagte: »Soll ich mal nachsehen, wo Anni ist?«

Hier bin ich doch! Meine geliebte Oma Magda drehte sich um, und mein Herz machte einen Hopser. Es war so schön, sie zu sehen!

Sie lachte fröhlich und ja, sie hatte mich entdeckt. Ich winkte ihr zu, aber sie schaute durch mich hindurch.

Da kam ein kleines Mädchen mit dunklen Haaren und hübschem rot-karierten Kleidchen auf sie zugelaufen. Die Kleine trug helle Schuhe, deren Spitzen abgestoßene Lederflecken hatten. Es sah so aus, als sei die junge Dame gern unterwegs und gebe sich viel Mühe, ihre Welt zu entdecken.

Die Sonne strahlte um die Wette mit diesem süßen Fratz. Die Locken hüpften bei jedem Schritt. Sie schnatterte bereits von Weitem irgendetwas Wichtiges, das sie sofort mitteilen wollte.

Sie brachte den Erwachsenen einen Apfel mit, den sie anscheinend geschenkt bekommen hatte. Schon erzählte sie aufgeregt und mit viel zu schneller Stimme, dass sie an alle Zimmertüren des Hotels geklopft und nachgesehen hatte, ob jemand da war. Hinter einer Tür hatte eine Frau aufgemacht und das Kind angelacht. »Ja, woher kommst du denn? Besuchst du mich? Möchtest du einen Apfel haben?«

Stolz über ihre Neugier und ihren Mut war die kleine Abenteuerin zurück zu ihren Eltern und ihrer Oma gelaufen. Diese rief nun lachend: »Anni, wir hatten uns schon Sorgen gemacht. Du wolltest doch nur kurz schaukeln gehen.«

Das Kind hüpfte auf den Schoß der Oma und legte den Apfel auf die blau-karierte Tischdecke. Schon war sie wieder abgelenkt und vergaß, was sie sagen wollte. Sie verglich die Karos der Tischdecke mit denen ihres neuen Kleidchens. Das Mädchen zappelte vor Aufregung mit den Beinchen und redete nun wieder ohne Punkt und Komma weiter.

Der Vater wurde nervös und beschwerte sich, dass das kleine Energiebündel ständig mit den Füßen gegen seine Hose kam. Die Mutter verteidigte die Tochter, aber keiner bemerkte, dass Anni zusehends trauriger wurde.

Sie löffelte brav das leckere Vanille-Eis, das ihr in einer silbernen Schale mit silbernem Eislöffel gebracht wurde. Dieses cremige Süß liebte sie und fand, dass es aus einer so schönen Schale noch viel besser schmeckte. So wie in der Markthalle, in der sie mit Oma immer einkaufen ging und wo sie ab und zu eine kleine Auszeit im Café zusammen genossen.

Anni träumte und leerte den Becher still.

Die Einzige, die das bemerkte, war ihre Oma. »Komm, wir gehen zum Spielplatz«, sagte sie, »nun wollen wir aber doch endlich schaukeln. Und diesmal komme ich sicherheitshalber mit.« Sie lachten beide und gingen Hand in Hand davon.

Die Stimmung bei den Eltern war angespannt. Vater erzählte von einigen Freunden, die er noch treffen wollte. Mutter wurde wütend und war wohl auch enttäuscht. Sie stritten mit leisen, scharfen Worten.

Zum Glück bekam die Dreijährige davon nichts mit, denn die Oma hatte mal wieder die Welt des fröhlichen Kindes ein wenig schöner gemacht …

Irgendjemand sagte etwas zu mir, ich hörte es wie aus weiter Ferne. Stimmengemurmel und der Boden unter meinen Füßen vibrierten erneut.

»Mogst dei Bier jetzt nimmer?«, brüllte jemand sehr laut.

Ich schreckte hoch und zuckte zusammen. Beinahe hätte ich das Glas umgeworfen. Der Kellner stand vor mir und sah mich fragend und ungeduldig an: »Na, in welcherne Welt host di denn grad dramt?«

Ich lächelte den Ober unsicher an und war verwirrt. Wie aus weiter Ferne sagte ich benommen: »Danke!«

Was war geschehen? War ich tatsächlich …? Nein, das gab es doch gar nicht …

Eine kleine Entdeckerin war ich also früher gewesen, eine Abenteuerin mit Mut und Neugier.

Jetzt glaubte ich fest daran, dass diese Reise in die Kindheit ein großes Glück war, denn ich werde wohl demnächst wieder einen neuen Lebensschritt wagen, bei dem die Spitzen meiner Schuhe etwas abbekommen könnten.

Ich beschloss, den Neuanfang zu wagen. Jetzt war Feierabend mit den Zugeständnissen! Auf ins nächste Abenteuer!

Ich musste sofort einige Mails schreiben. Schmetterlinge flatterten in meinem Bauch vor Aufregung. Jetzt sah ich alles ganz genau vor mir!

Das Bier ließ ich stehen und stürmte ins Lokal. Auf dem Weg zu meinem Zimmer rief ich außer Atem:

»Herr Ober, zahlen bitte!«

Er murmelte grantelnd vor sich hin: »Leit gibt’s, hoff ma, dass bald Feierabend is.«

Ich lachte ihn übermütig an und rief über meine Schulter: »EINE FRAGE: HABEN SIE HIER IM GARTEN EIGENTLICH AUCH EINE SCHAUKEL?«

Zauberhafte Urlaubsgeschichten aus dem Chiemsee Alpenland

Подняться наверх