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6. Kapitel
ОглавлениеZur erkennungsdienstlichen Behandlung fährt Hartenfels Meister von der Turm- in die Keithstraße zum LKA und nutzt die Zeit selbst, um einen Besprechungstermin mit seinen Mitarbeitern für den Nachmittag anzusetzen, wobei er davon ausgeht, dass bis dahin erste Ergebnisse der Spurensicherung vorliegen. Er nimmt Kontakt zu dem Suchtrupp auf, der den Viktoriapark durchkämmt hat, und erfährt, dass die Männer nichts gefunden haben. Dann wartet er, bis Meister fertig ist, um ihn nach Hause zu bringen.
Weil es nicht mehr schneit, hat sich der Verkehr auf den Berliner Straßen beruhigt. Hartenfels betrachtet Meister aus den Augenwinkeln, während er am Landwehrkanal entlangfährt. Der Besuch in der Rechtsmedizin hat ihn nicht weitergebracht, Meister wirkt gedankenverloren. Er sagt nichts, starrt nur nach vorn. Hartenfels selbst will nicht darüber reden, dass an dem Mann, den Meister ausgegraben hat, Spuren des Parfüms seiner Freundin nachweisbar sind. Das ist ihm viel zu verwickelt. Hat sie den Toten gekannt? Was hat es für einen Sinn, darüber zu spekulieren, solange niemand weiß, wo sie ist und um wen es sich bei der Leiche handelt. Und weil Meister dabei bleibt, den Mann noch nie gesehen zu haben, braucht er das auch nicht wiederzukäuen.
»Der Suchtrupp hat keine Spur von Frau Köhler gefunden«, sucht sich Hartenfels ein Thema, mit dem er vielleicht zu Meister vordringen kann.
Tatsächlich blinzelt Meister und dreht seinen Kopf, aber er schweigt weiter.
»Wo könnte Ihre Freundin sich aufhalten?«, fragt Hartenfels. »Vielleicht bei Verwandten, in einem Wochenendhaus?«
»Warum sollte sie da hinwollen?«, fragt Meister zurück.
»Vielleicht gibt es Dinge im Leben Ihrer Lebensgefährtin, von denen Sie nichts wissen.«
»Was für Dinge?« Meister zieht die Brauen hoch, klingt ehrlich erstaunt.
»Ein anderer Mann?« Hartenfels lässt es bewusst wie eine Frage klingen.
»Das hätte ich gemerkt«, meint Meister, »und Verwandte hat sie keine.«
Hartenfels staunt über die unerschütterliche Ruhe, die von Meister ausgeht. Von diesem Tick mit den Augen einmal abgesehen.
»Machen Sie sich denn gar keine Sorgen?«, platzt es aus ihm heraus.
»Natürlich mache ich mir Sorgen«, antwortet Meister, »aber davon kommt sie auch nicht zurück.«
»Jedenfalls glaube ich nicht, dass Ihre Freundin dem mutmaßlichen Mörder begegnet ist«, sagt Hartenfels.
»Und wieso nicht?«
»Der Tote lag seit circa 24 Uhr im Viktoriapark. Das würde bedeuten, dass er stundenlang auf sie gewartet hat, was mehr als unwahrscheinlich ist.«
Meister wendet sich ab und schaut wieder nach vorn.
»Sind Sie sicher, was den Todeszeitpunkt angeht?«, fragt er so leise, dass Hartenfels ihn kaum versteht.
»Petersen ist sich sicher.«
Meister nickt mehrmals, was Hartenfels nicht einzuordnen weiß. Weil er gerade auf den Mehringdamm einbiegt und sofort im Stau steht, ist er abgelenkt.
»Evelyn hat mich inspiriert«, sagt Meister, ohne seine Blickrichtung zu ändern.
Hartenfels wartet erst einmal ab. Worauf will Meister hinaus?
»Es wäre eine Katastrophe, wenn sie weg wäre.«
Hartenfels schweigt.
»Warum sollte sie so etwas tun?« Meister ist lauter geworden. »Wir hatten keinen Streit, das müssen Sie mir glauben.«
»Manchmal braucht es keinen Streit«, sagt Hartenfels.
»Wollen Sie wissen, ob wir noch Sex haben?« Meister sieht Hartenfels direkt an, seine Augen haben einen stechenden Ausdruck angenommen.
Nein, das wollte Hartenfels nicht wissen, aber wenn Meister es schon anbot.
»Haben Sie?«, fragt er.
»Erst heute Morgen.« Wie Meister das sagt, die Hände zu Fäusten geballt, sodass die Fingerknöchel weiß hervortreten, scheint es für ihn sehr wichtig zu sein.
Wahrscheinlich ist Meister einer dieser Männer, die sich ihre Selbstbestätigung im Bett holen, überlegt Hartenfels, aber wie bringt ihn das weiter? Vielleicht bekommt Meisters Panzer langsam Risse, denkt er dann.
»Und damit ist die Welt für Sie in Ordnung?«, fragt er bewusst provokativ.
»Mein Gott«, Meister dreht Hartenfels den ganzen Oberkörper zu, schreit fast, so laut spricht er, »geben Sie endlich Ruhe. Ich habe doch auch keine Antwort.«
Immerhin ein Lebenszeichen, findet Hartenfels und sagt nichts mehr.
Er will Meister ja nicht quälen, er will nur wissen, was in ihm vorgeht.
Der Mann ist verletzt, denkt er, und will es sich nicht eingestehen. Noch glaubt er, alles unter Kontrolle zu haben. Noch glaubt er, dass es für das Verschwinden seiner Freundin eine Erklärung geben muss, die nichts mit ihm zu tun hat.
Also liebt er sie, folgert Hartenfels und lächelt zufrieden, weil er genau das herausfinden wollte.
Inzwischen kommen sie überhaupt nicht mehr voran, wahrscheinlich wird die Kreuzung, die vor ihnen liegt, bei jeder Ampelphase zugestellt. Obwohl sie über hundert Meter entfernt sind, hört Hartenfels das Hupkonzert. Er denkt an Zerberus, der auf der Rückbank liegt und sich nicht regt. Der Hund scheint fix und fertig zu sein.
Erst als Hartenfels endlich am Riehmers Hofgarten anhält und die Hintertür des Wagens aufgeht, ist Zerberus wieder da, rast in den Innenhof und tobt im Schnee, offensichtlich will er spielen. Meister scheucht ihn ins Treppenhaus, und sie fahren zu seinem Penthouse. Hartenfels erinnert den Schriftsteller, dass er ihm alle Parfümfläschchen seiner Freundin bringen soll. Nachdem er das getan hat, verschwindet Meister wie vorher sein Hund.
Hartenfels tütet die Fläschchen ein. Meister hat sie am Morgen angefasst, das hat er selbst gesehen. Interessant wird die Sache also erst, wenn sich Fingerabdrücke einer dritten Person finden lassen. Unten angekommen, reicht Hartenfels den Beutel an den Beamten weiter, der noch immer Posten steht.
»Bring das mal ins KTI«, meint er und geht zurück zu seinem Fahrzeug.
Hier braucht niemand mehr auf Meisters Freundin zu warten. Das kann Meister von jetzt an selbst übernehmen. Im Auto gibt Hartenfels im Navi unter Sonderziele »Buchhandlung« ein und erhält zwei Treffer ganz in der Nähe.
»Anagramm und Otherland«, liest er, »Science Fiction und Fantasybuchhandlung.«
Das passt doch wie die Faust aufs Auge, denkt er, bestätigt und fährt los. Doch bevor sein Wagen Schwung aufnehmen kann, was bei den Straßenverhältnissen sowieso nicht richtig klappt, hält er wieder an. Er befindet sich gerade mal eine Häuserecke weit entfernt, obwohl er schon auf den wenigen Metern das Gefühl hatte, weder Raum- noch Zeitgefühl zu haben.
Hartenfels kennt das und weiß, was es bedeutet. Er hat Witterung aufgenommen. Von jetzt an muss er höllisch aufpassen, nicht in irgendwelchen Schwarzen Löchern zu verschwinden, weil er mit seinen Gedanken überall ist, bloß nicht bei dem, was er tut.
Hartenfels steigt aus und blickt zurück. Er kann sogar noch das große Portal erkennen, das zu Riehmers Hofgarten führt. Also bin ich keine zehn Sekunden gefahren, denkt er, daran ändert auch der ganze Schnee nichts. Wo war er? Hat er irgendetwas mitbekommen?
Klar, denkt Hartenfels und betrachtet das Schild, unter dem er steht.
»Antiquariat«, liest er, groß und deutlich, darunter etwas kleiner der Hinweis, dass jedes lieferbare Buch besorgt werden kann. Und gleich gegenüber ist sogar ein Parkplatz.
Wenn Hartenfels eins von Petersen eingebläut wurde, dann, dass es keine Zufälle gibt. Mag er sich sonst auch sehr dagegen wehren, heute scheint er für die Weisheiten des Gerichtsmediziners empfänglich zu sein.
Dabei hat Hartenfels längst gelernt, seiner Intuition zu vertrauen. Er mag nur die Begleitumstände nicht. So blind wie er für seine Umgebung werden kann, wenn etwas in ihm arbeitet und rumort, ist das schon lebensgefährlich. Also betritt er nicht gleich das Geschäft, das sich ihm wie ein weiterer betörender Duft aufgedrängt hat, sondern macht ein paar Schritte. Er will ganz bewusst wahrnehmen, wo er sich befindet. So wertvoll seine Intuition auch sein mag, muss er sie daran hindern, ihn schneeblind zu machen.
Um beim Wetter zu bleiben, denkt er.
Weshalb er bis zur nächsten Straßenecke geht und nach links und rechts schaut. Weil es sich wieder um die Großbeerenstraße handelt, über die er bereits am Vormittag mit Reschke gefahren ist, sieht er auf der einen Seite die Yorckstraße, wo sie fast einen Unfall gehabt hätten und über die auch jetzt Fahrzeug um Fahrzeug rollt, und auf der anderen den Kreuzberg. Im Gegensatz zu heute Morgen schneit es allerdings nicht und er kann das Denkmal auf seiner Spitze erkennen, das wie eine Fata Morgana in den Himmel ragt.
Als läge hinter dem Berg ein gewaltiger Dom, schießt es ihm durch den Kopf. Etwas wird vorgetäuscht, was gar nicht da ist.
Hartenfels hält inne. Was ist das denn für ein komischer Gedanke? Und wo führt er hin? Er hat keine Ahnung. Weiß ja noch nicht einmal, was ihn dazu gebracht hat, so zu denken. Weil er spürt, dass seine Aufmerksamkeit schon wieder in Beschlag genommen wird, reißt er sich von dem Anblick los.
Er kann nichts daran ändern, dass er sich in einer Art Tunnel befindet, seit er am frühen Morgen den Anruf erhalten hat. Was ihm nach vielen Dienstjahren wenigstens bewusst ist. Als Hartenfels noch neu im Beruf war, hat er diesen Tunnel nur an seinen Wirkungen erkannt. Er konnte sich an Fernsehsendungen nicht erinnern, die er ganz bestimmt gesehen hatte. Er aß, ohne behalten zu haben, was und wo. Sein Hirn glich einem Sieb. Es ist mehrfach passiert, dass er von A über B nach C gefahren ist und dabei B vollkommen ausgeklammert hat. Hartenfels hat nicht allein Sorge, dass er einen Unfall riskiert, er will auch nichts Wichtiges verpassen. Oft findet er die Lösung eines Falls sozusagen im Vorübergehen.
Hartenfels muss präsent sein, und er braucht den Tunnelblick. Einmal in die Ermittlungen eingetaucht, verwandelt er sich in einen Terrier, der seine Beute verfolgt. Nichts lenkt ihn ab, alles führt nur noch in eine Richtung. Wer sich ihm jetzt in den Weg stellt, ist selber schuld. Hartenfels’ Rituale gleichen so gesehen der Quadratur eines Kreises. Trotzdem oder gerade deswegen hält er an ihnen fest.
Hartenfels macht sich langsam auf den Weg zurück, sein Blick schweift hierhin und dorthin, er spürt regelrecht, wie seine Aufmerksamkeit versiegt. Dann erreicht er die Buchhandlung und seine Aufmerksamkeit kehrt schlagartig wieder. Hartenfels streckt die Hand aus, um die Tür zu öffnen, als er bemerkt, dass alles Mögliche draußen vor dem Laden steht. Er entdeckt Postkarten und Lesezeichen, notdürftig durch einen großen Sonnenschirm von Schnee freigehalten. Direkt vor der Fensterfront des Geschäfts befinden sich kleine Tische, auf denen Bücher liegen. Hartenfels zwingt sich, sie zu betrachten.
Wahrscheinlich Lockvögel, denkt er, obwohl nichts von Meister dabei ist.
Hartenfels tritt endlich ein, eine Glocke ertönt. Er braucht einen Augenblick, um sich nach all den weiß verschneiten Wegen und Auslagen an das spärliche Licht zu gewöhnen, erkennt aber schnell, dass der Raum komplett vollgestopft ist. Hartenfels verharrt auf der Stelle, weil direkt vor ihm ein riesiger Tisch steht, auf dem sich Bildbände in gefährlich hohen Türmen stapeln, manche so krumm und schief, dass sie jederzeit einzustürzen drohen. An der Wand ein gewaltiges Regal aus dunklem Holz, verziert und alt, in dem sich noch mehr Bücher befinden, von denen man nur die Rücken sehen kann.
Das müssen ja Tonnen sein, denkt Hartenfels und fragt sich, welches Marketingkonzept hier wohl umgesetzt wird. Er schaut und schaut, will auf keinen Fall schon jetzt in seinem Tunnel verschwinden.
Und so kommt es, dass er der Frau hinter dem Tresen an der gegenüberliegenden Wand vielleicht größere Aufmerksamkeit schenkt, als er es normalerweise getan hätte. Hartenfels sieht ihr schwarzes Haar, das zu einem Knoten zusammengenommen ist, und einen gleichfalls schwarzen Pullover, der lose um die Schultern hängt. Er sieht rot geschminkte Lippen und dunkelbraune Augen, die ihn hinter einer schwarzen Brille mustern. Laufkundschaft ist man in dieser Buchhandlung wohl nicht gewohnt. Verstohlen lässt Hartenfels seinen Blick weiterwandern, wobei er nicht länger seinem Ritual folgt, sondern einfach neugierig ist. Hartenfels schätzt die Buchhändlerin auf Mitte 40 und registriert, dass sie ziemlich füllig ist.
Wie ich, denkt er.
Die Frau begrüßt ihn und fragt, was sie für ihn tun könne. Alles ganz geschäftsmäßig natürlich und dennoch wird Hartenfels das Gefühl nicht los, dass da ein wenig mehr ist. Vielleicht wünscht er es sich auch bloß.
»Ich hätte gern ein Buch von Johannes Meister«, sagt Hartenfels, nachdem er seinerseits gegrüßt hat und sich um den Tisch bis zu ihr geschlängelt hat, darauf bedacht, keinen der Büchertürme aus Versehen einzureißen.
»Johannes Meister«, wiederholt die Buchhändlerin und widmet sich dem Computer, der vor ihr steht.
Das irritiert Hartenfels, der einen schnellen Griff in ein besonders prominent platziertes Regal erwartet hat, stattdessen Schweigen.
»Hätten Sie vielleicht einen Titel?«, fragt die Frau.
»Leider nein.«
»Bei den lieferbaren Büchern finde ich nichts«, sagt sie.
»Aber dieser Meister wohnt doch gleich hier um die Ecke«, meint Hartenfels.
»Tatsächlich?« Die Überraschung wirkt echt.
»Finden Sie wirklich nichts?«
»Vielleicht gebraucht«, bekommt er zur Antwort.
»Na also«, entfährt es Hartenfels, schließlich ist er doch in einem Antiquariat.
»Wie bitte?«, fragt die Buchhändlerin.
»Sie müssen einfach etwas von ihm haben«, erklärt er und sieht sich ostentativ um.
»Nicht dass ich wüsste.«
Hartenstein kann sich nicht vorstellen, dass irgendjemand weiß, was sich in dieser vollgestopften Höhle alles versteckt, hat allerdings schon gehört, dass Buchhändler ihre Regale in- und auswendig kennen, weshalb er beschließt, der Frau zu glauben. Wahrscheinlich besitzt sie ein eigenes System.
»Schade«, sagt Hartenfels, »ich dachte, ich könnte gleich ein Buch mitnehmen.«
»Ich schau mal bei meinen Kollegen nach«, sagt die Buchhändlerin und klappert auf ihrer Tastatur. »Na, da wäre doch was«, erklärt sie nach ein oder zwei Minuten, »Zustand gut und aus einem Nichtraucherhaushalt, das könnte ich Ihnen besorgen.«
»Wie heißt das Buch denn?«
»Es scheint der Beginn einer mehrteiligen Reihe zu sein. Mir sagt es leider nichts, ist von 2005 und heißt ›Feuer und Drache‹, für 5,80 Euro plus Verpackung und Porto.«
»Ein neueres finden Sie nicht?«
Die Buchhändlerin taucht ein weiteres Mal ab und schüttelt dann den Kopf. »Es gibt noch mehr, alles aus dieser Reihe offensichtlich. Das Neueste, was ich finde, ist von 2007. Aber das ist irgendein mittlerer Band, nicht der erste.«
»Und wie lange würde es dauern, mir eins dieser Bücher zu besorgen?«
»Das kommt auf den Lieferanten an. Manche Antiquariate sind fix«, sie zwinkert und Hartenfels ahnt, dass sie sich selber meint, »manche nicht. In fünf bis sechs Tagen sollte es spätestens hier sein.«
Inzwischen zweifelt Hartenfels daran, dass er eines von Meisters Werken lesen muss. Die Information, die er gerade bekommen hat, ist viel wichtiger als alles, was der Mann schreibt.
»Ich glaube, ich verzichte«, sagt er, verabschiedet sich und verlässt den Laden.
Draußen überlegt Hartenfels, ob er Meister gleich mit der Tatsache konfrontieren sollte, dass er seit über zehn Jahren nichts veröffentlicht hat, oder erst später.
Dinge aufzuschieben liegt Hartenfels nicht. Außerdem kann er einfach zu Fuß gehen.