Читать книгу Kreuzberger Leichen - Dieter Hombach - Страница 8
4. Kapitel
ОглавлениеMeister sitzt mit seinem Hund im Polizeifahrzeug und sieht aus dem Fenster, ohne seine Umgebung wahrzunehmen, so versunken ist er in seine Gedanken. Er geht Optionen durch. Für Hartenfels. Wie lange wird er überleben? Wann bringt er ihn um? Meister macht das oft, wenn er jemand kennenlernt. Als Schriftsteller hat er Macht über seine Figuren. Es kann aber auch vorkommen, dass eine Figur ein Eigenleben entwickelt und Forderungen stellt. Meister überlegt, ob Hartenfels so eine Figur sein könnte. Hat Hartenfels das Zeug zum Helden?
Meister schüttelt den Kopf und blinzelt. Dazu ist er viel zu dick. Außerdem hat Hartenfels etwas Somnambules, schien gar nicht gemerkt zu haben, dass es schneit. Meister denkt an die aufgeweichten Halbschuhe und die durchnässte Lederjacke. Dann lächelt er, weil ihm Peter Falk einfällt. Bei Peter Falk war alles Tarnung. Er tat nur so, als wäre er zerstreut. In Wahrheit arbeitete Falks Verstand wie ein Uhrwerk. So gut kennt er Hartenfels nicht, kann sich jedoch vorstellen, ihm etwas ähnlich Doppelbödiges zu geben. In Meisters neuem Romanzyklus fehlt ein überzeugender Schurke.
Schurken sind schwieriger als Helden, findet er.
Noch einmal denkt er an Hartenfels’ kahl rasierten Schädel, seine riesigen Hände und die fleischige Nase. Meister fragt sich, ob Hartenfels bloß fett ist oder ob mehr dahintersteckt. Auf jeden Fall hat sich Hartenfels markante Züge bewahrt, was eindeutig gegen Adipositas spricht. Er hat kein zweites Kinn, seine Gesichtskontur ist scharf gezeichnet. Außerdem haben Dicke oft Augen, die wie Rosinen im Fleisch stecken, findet Meister, so eingesunken und klein wie sie sind. Hartenfels’ Augen sind groß und leuchtend Blau. Wahrscheinlich ist er ein ernst zu nehmender Gegner. Meister stellt sich einen Sumoringer vor, der statt des üblichen Ballonschädels Hartenfels’ Züge trägt, und pfeift durch die Zähne.
Nicht schlecht, denkt er.
Meister stützt seinen Kopf in die rechte Hand und legt ihn schräg, unter dem Tisch gähnt Zerberus geräuschvoll. Weil Meister Fantasy schreibt, stattet er Hartenfels mit Schwert und Dolch aus, auch eine Kopfbedeckung könnte Wunder wirken. Meister legt die Stirn in Falten. Was soll er tun, um den Fiesling aus Hartenfels hervorzukitzeln? Steckt überhaupt ein Fiesling in ihm? Meister versucht, sich Hartenfels’ Gesicht vorzustellen, wenn es sich vor Wut und Ärger verzerrt. Irgendwie will es ihm nicht gelingen. Hartenfels scheint eher der Typ »Buddha« zu sein, von unerschütterlicher Ruhe. Aber das kann täuschen.
Meister reibt sich das Kinn. Der Mann ist wirklich schwierig einzuschätzen.
Ganz anders als der kleine Gerichtsmediziner, mit dem er weggegangen ist, denkt Meister.
Petersen ist der aalglatte Typ, akkurat, penibel und eingebildet. Für so eine Figur gibt es immer eine Nische. Spion, Zuträger, Intrigant sind die passenden Oberbegriffe. Und obwohl Petersen schmal und schlank ist, hat er genau die Augen, die eigentlich zu Hartenfels gehören: tief in ihren Höhlen liegende kleine schwarze Murmeln.
Vielleicht sollte ich beide Figuren vermischen, überlegt Meister. Doch dann kommt ihm eine andere Idee. Was wäre, wenn er den Kommissar und den Rechtsmediziner als Paar konzipierte? Zusammen könnten sie wirklich diabolisch sein, denkt er, allein eher nicht.
Hartenfels fehlt die nötige Verschlagenheit und Petersen ist für sich genommen ein Witz. Aber als Duo infernale? Meister sieht einen zwergenhaften Mann, der seinem Herrn Pläne einflüstert, die so schwarz sind wie die Nacht.
Das könnte gehen, denkt er.
Es ist überhaupt ein netter Einfall, die Rolle des Bösewichts durch zwei zu teilen. Das eröffnet eine Menge Spielraum, besonders wenn Meister seine Leser erst im Laufe des Romans darüber ins Bild setzt. Zwei Täter haben ein enormes Potenzial, weil jeder für sich so lange unverdächtig bleibt, bis man seinen Partner kennt.
Meister verzieht seine Lippen zu einem Lächeln, schließt die Augen, lehnt sich zurück und tastet mit der Hand nach seinem Hund. Zerberus schnellt hoch und leckt sie ab. Meister tätschelt Zerberus den Kopf, bückt sich und fährt ihm über seinen Rücken, klopft seine Rippen.
»Das hast du gut gemacht«, lobt er den Rüden.
Zerberus versucht, sich umzudrehen, am liebsten würde er Meister seinen Bauch hinhalten, doch der Platz reicht nicht.
Meister schaut auf die Uhr und gibt Hartenfels noch fünf Minuten. Wenn er in fünf Minuten nicht wieder da wäre, würde er sich mit Zerberus auf den Weg nach Hause machen. Nach zwei Minuten öffnet sich die Schiebetür des Bullis, magisches Denken hilft immer.
Hartenfels blickt sich einmal im Wagen um und meint dann, dass er Meister gern einen Besuch in seiner Wohnung abstatten würde.
»Vielleicht findet sich dort ja irgendein Anhaltspunkt bezüglich Ihrer Freundin«, schließt er, »die Suche hier dauert nämlich noch.«
Meister nickt. Das trifft sich gut. Zerberus ist schon aus dem Fahrzeug gesprungen.
Sie gehen nicht zu Fuß, sondern fahren mit einem Zivilwagen der Polizei, der direkt vor dem Viktoriapark steht. Meister und Hartenfels vorn, Zerberus hinten.
Eine schöne Sauerei, denkt Meister, der Hund ist klatschnass vom vielen Schnee. Aber es ist ja nicht weit, nach wenigen Augenblicken ist die Fahrt zu Ende. Hartenfels stellt den Wagen reichlich unkonventionell direkt vor einem der großen Portale ab, die in den Innenhof des Hofgartens führen, und Meister geht voraus. So verschneit wie alles ist, wirkt das alte Gebäudeensemble wie aus einer anderen Welt. Bloß der moderne Kubus, in dem sich ein Kino befindet, ragt fremd und reichlich unpassend in die ausladende Freifläche, die auch deshalb so groß ist, weil ein Seitenflügel im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder aufgebaut worden ist. Es gibt Raum für einen Spielplatz und sogar Bäume. Übrig geblieben ist trotzdem genug. Auf drei Seiten ragen Häuser mit aufwendiger Stuckverzierung in die Höhe, der einheitlich sandfarbene Ton, in dem sie gehalten sind, verleiht ihnen zusätzlich Atmosphäre.
Seit Zerberus aus dem Auto gesprungen ist, gebärdet er sich wie wild, und Meister hat Mühe, angesichts des herumtollenden Hundes zu dem Treppenhaus zu kommen, das zu seiner Wohnung gehört. Der Polizeibeamte, der sich davor postiert hat, geht vorsichtshalber in Deckung.
»Haben Sie keine Leine für Ihren Hund dabei?«, fragt Hartenfels.
»Die hat Evelyn«, antwortet Meister, »aber keine Sorge, ich habe ein paar Ersatzleinen.«
Meisters Penthouse verfügt über einen eigenen Aufzug, der direkt zu ihm führt. Nur er hat den Schlüssel und es gibt nur einen Knopf, den er drückt, wie immer zufrieden mit so viel Exklusivität. Es hat ihn eine hübsche Stange Geld gekostet, die er auf den Kaufpreis für Wohnung und Aufzug legen musste, um das Rennen zu machen. Doch es hat sich gelohnt.
Meister öffnet seine Wohnungstür und Licht flutet ihnen entgegen. Statt Mauern besitzt sein Domizil fast ausschließlich bodentiefe Fenster und es erstreckt sich über zwei Geschosse, wovon das untere wie ein Loft gestaltet, also gänzlich ohne störende Wände ist. Noch im Eingang stehend, wählt Meister die Nummer seiner Freundin, aber alles bleibt still, nirgendwo klingelt ein Telefon.
»Vielleicht ist der Akku leer«, versucht Hartenfels ihn zu beruhigen.
»Das würde überhaupt nicht zu ihr passen«, sagt Meister und fügt hinzu, dass Evelyn eine Perfektionistin sei.
»Perfektionisten können für alle sehr belastend sein«, sagt Hartenfels leise und mehr zu sich selbst.
Meister achtet darauf, dass Zerberus im Eingangsbereich bleibt, denn der ist gefliest. Sonst gibt es in der Wohnung ausschließlich Parkett, inzwischen zerfurcht von seinen Krallen. Es muss ja nicht sein, dass das Holz auch noch nass wird.
Hartenfels fragt tatsächlich, ob er seine Schuhe ausziehen soll.
Warum nicht, denkt Meister. Auf Socken wirkt der riesige Mensch vielleicht weniger bedrohlich.
Meister lässt seine an, bloß den Mantel hängt er weg. Hartenfels fingert kurz an den Knöpfen seiner aufgeweichten Lederjacke, entscheidet sich dann anders.
»Wo ist das Zimmer Ihrer Freundin?«, fragt der Kommissar, nachdem er seine vom Schnee dunkel verfärbten Schuhe weggestellt hat.
»Wir haben keine eigenen Zimmer«, antwortet Meister.
Hartenfels bleibt einfach stehen, betrachtet die großen Panoramafenster und dreht sich langsam um seine eigene Achse.
»Schön ist das«, sagt er.
Meister folgt seinem Blick. Ringsum verglast, wie der Raum ist, hat man das Gefühl, über der Stadt zu schweben. Weil die ganze Wohnung mit Fußbodenheizung ausgestattet ist, verstellen nicht einmal Heizkörper die Sicht, die spärliche Möblierung tut ihr Übriges. Eine Sitzgruppe und ein gewaltiger Sessel, das wars. Einmal abgesehen von einem offenen Kamin, der allerdings nicht brennt.
Das gemeinsame Schlafzimmer ist oben. Oben befindet sich außerdem Meisters Arbeitszimmer, in dem er sich jedoch nie aufhält, außer er inszeniert seine Fotos. Meister schreibt im Loft, er braucht zum Schreiben so viel Raum wie möglich. Wenn es das Wetter zulässt, schreibt er auch auf der Dachterrasse, die nur von den Türmen der Kirche überragt wird, die sich gleich neben Riehmers Hofgarten befindet.
Hartenfels steht inzwischen an einem der Fenster, von wo man sie ebenfalls sieht.
»Können Sie mal nachschauen, ob etwas fehlt, das Ihrer Freundin gehört?«, fragt er. Seine Stimme ist leise und freundlich. Zu seinem ungeheuren Körper passt sie nicht.
Meister überlegt, geht dann nach oben zum Kleiderschrank. Rechts hängen ihre Sachen, links seine. Der Parka fehlt, das ist alles. Er dreht sich im Schlafzimmer um, sein Blick fällt auf die kleine Kommode mit dem Schmuck. Nichts scheint abhandengekommen zu sein. Er öffnet ein paar andere Schubladen und lässt seine Finger über Evelyns Unterwäsche gleiten, Strümpfe, Socken, Pullover, es gibt keine Lücken, die ihm auffallen würden. Anschließend geht Meister ins Bad. Evelyns Toilettenartikel stehen an ihrem gewohnten Platz. Er schiebt Parfümfläschchen hin und her, tippt gegen die Zahnbürste, unten bellt Zerberus, der weiß, dass er ohne Aufforderung nicht die Treppe hinaufgehen darf.
Meister dreht sich um und prallt fast gegen Hartenfels, der ihm gefolgt ist, ganz leise und auf Socken. Meister ahnt, dass etwas Ungeheuerliches vorfallen wird. Er kennt solche Ahnungen. In der Regel beziehen sie sich auf das, was er schreibt. Er muss ihnen nur folgen, um den Plot seiner Fantasyromane zu finden. Jetzt ist es so, als beträfe eine dieser Ahnungen auf unheimliche Weise die Realität.
»Ich weiß nicht weiter«, sagt er und stützt sich an der begehbaren Dusche ab.
Hartenfels macht einen Schritt auf ihn zu und umfasst ihn.
»Das ist alles zu viel«, flüstert Meister und hält sich an Hartenfels fest, Zerberus bellt weiter.
Nach einer Weile spürt Meister, dass Hartenfels ihn aus dem Badezimmer schiebt. Er macht sich vorsichtig los und geht die Treppe nach unten. Zerberus hat aufgehört zu bellen, kratzt stattdessen an der untersten Treppenstufe. Meister gibt ihm ein Zeichen und der Hund schießt zurück ins Loft, um mit einem Satz in seinem Körbchen zu landen, in das er sich hineinfallen lässt.
Meister blinzelt. Draußen ist es noch heller geworden, fast ahnt man die Sonne hinter den Wolken. Trotzdem schneit es nach wie vor, aber die Flocken wirken feiner, nicht mehr ganz so feucht.
»Kommen Sie zurecht?«, fragt Hartenfels.
Meister nickt und setzt sich aufs Sofa. Seine Hände steckt er zwischen die Beine, weil sie angefangen haben zu zittern. Ihm ist selber bewusst, dass sein rechtes Auge verrücktspielt. Hartenfels zuckt die Achseln und lässt sich auf das zweite Sofa sinken.
»Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Freundin, wenn ich fragen darf?«
Meister sieht Hartenfels an. Der große Mann hat sich ausgestreckt und wirkt entspannt.
»Wie ich schon sagte«, Meisters Hände haben endlich aufgehört zu zittern, »ohne sie käme ich nicht klar.«
»Beruflich oder privat?«
»Beides.«
»So einfach?«
»Was soll daran einfach sein?«
»Ich überlege nur laut«, sagt Hartenfels, »blöde Angewohnheit von mir.«
»Auch wenn Sie es vielleicht lächerlich finden, kann ich mir ein Leben ohne Evelyn nicht vorstellen.«
»Warum sollte ich das lächerlich finden?«
»Wegen des Altersunterschieds?«
»Wenn Sie damit kein Problem haben.«
»Warum sollte ich? Für mich ist es eine Art Wunder, dass eine so junge, attraktive Frau etwas von mir will.«
»Wo haben Sie sich kennengelernt?«
»Hier im Viktoriapark. Ich war dort immer schon gern spazieren, und da haben wir uns direkt am Wasserfall getroffen, genauer gesagt an dem Bassin, das ganz unten ist. Ich werde es nie vergessen. Die Sonne ging gerade auf und sie stand da, als hätte ein Künstler für sie den Platz ausgesucht. Für mich war es wie ein Blitzschlag.«
»Und für sie?«
»Da kann ich nur spekulieren.«
»Spekulieren Sie ruhig.«
Meister beugt sich vor und sieht Hartenfels an. Der Kommissar hat die Augen halb geschlossen und es ist nicht auszumachen, ob er wie ein Schießhund aufpasst oder gleich einschläft. »Ich denke, dass es mit meinem Beruf zu tun hat«, sagt Meister.
»Sie meinen die Schriftstellerei?«
Meister nickt.
»Können Sie das genauer erklären?«, hakt Hartenfels nach.
»Wir Schriftsteller sind ein bisschen so wie Rockstars«, sagt Meister und betrachtet seine Hände, weil er weiß, wie unbescheiden sich das anhört.
»Frauen wie Evelyn sind also Groupies?«, fragt Hartenfels.
»In gewisser Weise schon«, stimmt Meister zu.
»Ist sie mit Ihnen auf Tournee gegangen?«
»Was wollen Sie hören«, Meister wird langsam ärgerlich, »dass ich ein eingebildeter Idiot bin, der nicht merkt, wenn eine Frau ihn verarscht?«
»Ist Ihnen die Idee nie gekommen?«
Meister hat es unglaublich satt. All die Spießer, die nie begreifen werden, dass manche Frauen nicht nur Film- und Popstars toll finden, sondern auch andere Künstler, Schriftsteller inklusive. Er versucht, sich zu beruhigen. Wie soll ein Polizeibeamter das verstehen? Eigentlich müsste er Mitleid mit Hartenfels haben.
»Gab es Spannungen zwischen Ihnen und Frau Köhler?«, fragt Hartenfels weiter.
Also daher weht der Wind, denkt Meister und muss sich ein Grinsen verkneifen. »Da muss ich Sie enttäuschen«, sagt er und sieht wieder hoch, »zwischen Evelyn und mir ist alles in Ordnung. Kein Streit, kein Drama, keine Eifersucht.«
»Warum ist sie dann verschwunden?«
»Ich weiß es nicht«, Meister lehnt sich zurück, »vielleicht ist ihr etwas passiert, wer weiß, wem sie begegnet ist.«
»Ziehen Sie das ernsthaft in Betracht?«
»Sie etwa nicht?«
Hartenfels rutscht nach vorn und setzt sich aufrecht hin, sucht Blickkontakt zu Meister. »Natürlich«, sagt er beschwichtigend, »wir stehen ja ganz am Anfang unserer Ermittlungen und können nichts ausschließen. Es kommt mir nur unwahrscheinlich vor, dass da draußen im Viktoriapark jemand herumlungert und darauf wartet, dass Ihre Freundin auftaucht.«
»Auf jeden Fall gehen wir regelmäßig dort spazieren«, sagt Meister mit Betonung auf »regelmäßig«.
»Haben Sie denn einen Anlass für einen solchen Verdacht?«
»Ich verdiene eine Menge mit meinen Büchern.«
»Das ist unverkennbar«, sagt Hartenfels und blickt sich ostentativ um, »aber irgendwelche Forderungen gibt es nicht, oder?«
»Bis jetzt nicht«, räumt Meister ein und wischt sich mit den Händen durchs Gesicht. »Und wenn der Mörder sich noch in der Nähe herumgetrieben hat, als ich auf die Leiche gestoßen bin?«, fragt er.
»Sie meinen auf dem Kreuzberg?«
»Genau.«
»Das wäre eine Möglichkeit«, stimmt Hartenfels zu und legt seine Stirn in Falten.
»Vielleicht hat Evelyn ihn erkannt. Und wenn nicht erkannt, dann hätte sie ihn vielleicht beschreiben können«, spinnt Meister den Faden weiter.
»Haben Sie den Mann vorher schon einmal gesehen?«, fragt Hartenfels.
»Welchen Mann?«, fragt Meister und weiß überhaupt nicht, von wem der Kommissar spricht.
»Den Toten.«
Meister schweigt. Er denkt an ein Gesicht, das voller Schnee ist. Er blickt in blaue Augen, kalt und wie gefroren. Ein tiefer Atemzug quält sich aus Meisters Lunge, und er stößt einen Ton aus, der Zerberus alarmiert. Der schwarze Hund verlässt sein Körbchen und legt seinen großen Kopf auf Meisters Knie.
»Also ja?«, hakt Hartenfels nach.
»Nein«, sagt Meister und seine Stimme klingt rau, »ganz bestimmt nicht.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich bin sicher.«
»Ich würde Sie trotzdem bitten, mich in die Gerichtsmedizin zu begleiten, um alle Eventualitäten auszuschließen.«
»Muss das sein?«
»Freiwillig natürlich.«
»Und wann?«
»Am besten gleich.« Hartenfels wuchtet sich aus dem Sofa, Zerberus dreht sich zu ihm um.
Auf Meisters Hose ist ein nasser Fleck, entweder Schnee oder Speichel. Ihm fällt ein, dass er Zerberus noch nicht gefüttert hat. Also steht er auf und geht in die Küche. Entkernt wie der Raum ist, hat er keine Tür, alles ist offen. Meister kramt den Sack mit dem Trockenfutter hervor und füllt Zerberus’ Napf. Das Ding ist von Alessi, knallrot und mit einem Hund auf dem Deckel. Zerberus sabbert jetzt eindeutig, er sabbert immer, wenn er etwas zu fressen vor der Nase hat.
Meister stellt den Napf auf den Boden und Zerberus legt sich davor. Das hat er seinem Hund beigebracht. Meister klickert Zerberus, wie die Trainingsmethode heißt. Eigentlich kann man mit ihr jedem Tier so gut wie alles beibringen. Es ist auf jeden Fall praktisch, nicht gleich von seinem Hund bedrängt zu werden, wenn man ihn füttern möchte.
»Ja«, kommandiert er und Zerberus springt auf, um sein Fressen herunterzuschlingen.
»Können wir?«, fragt Hartenfels.
»Soll ich nicht lieber hier warten, vielleicht kommt Evelyn ja bald zurück?«
»Ich lasse den Beamten unten im Hof auf seinem Posten«, sagt Hartenfels und geht zur Wohnungstür, bückt sich nach seinen Schuhen.
»Darf Zerberus mit?«, fragte Meister.
»Wenn er allein im Auto bleibt.«
»Das kann er.«
Meister nimmt seinen Mantel vom Haken, zieht ihn an und greift sich eine Hundeleine.
Draußen hat es aufgehört zu schneien, die Sonne scheint. Der Schnee glitzert, und im Riehmers Hofgarten werden mit großen Holzschaufeln die Gehwege freigeräumt.
Besser spät als nie, denkt Meister.