Читать книгу Kreuzberger Leichen - Dieter Hombach - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеHartenfels tritt aus der Haustür und wird fast überfahren. Der Mann am Lenkrad des Schneeräumfahrzeugs scheint an einer Rallye teilzunehmen, Hartenfels sieht ihm voller Bewunderung nach.
Der driftet doch, denkt er, anders ist eine solche Kurventechnik nicht zu erklären.
Das kleine Ding mit der großen Bürste schlingert um Laternen und Bäume, vollzieht 180-Grad-Wendungen, stößt vor und zurück, ganz wie ein Spielzeug, das bis zum Anschlag aufgezogen wurde.
In den letzten Wintern konnte man sich mit Schneebeseitigung eine goldene Nase verdienen, so wenig hat es geschneit. Ob die Glückssträhne dieses Jahr reißt, ist noch nicht abzusehen, immerhin ist es erst Januar, wenn auch der erste Schnee. Wie Fitnessstudios, denkt Hartenfels. Sobald alle trainieren würden, die ein Abo haben, bräche die Bude zusammen.
Der Wagen, der Hartenfels fast erwischt hätte, rumpelt vom Bürgersteig auf die Straße und beschleunigt, Hartenfels hätte nie gedacht, dass das möglich wäre. Wahrscheinlich ist das Teil frisiert.
Hartenfels läuft ein paar Schritte und stellt fest, dass sich der Schnee da, wo er geräumt wurde, in eine feste Masse verwandelt hat, die spiegelglatt ist, woran die halbe Tonne Split nichts ändert, die auf ihr liegt. Er schliddert dem U-Bahnhof entgegen.
Hartenfels fährt nur mit dem Auto, wenn es sich nicht vermeiden lässt, bei Schnee erst recht nicht. Fünf Flocken und auf den Straßen Berlins herrscht Krieg. Am Hohenzollerndamm gibt es ein Hupkonzert, weil an der Ampel, die Hartenfels benutzt, ein Mercedes nicht von der Stelle kommt, dabei ist es ein SUV.
Wahrscheinlich mit Sommerreifen, denkt Hartenfels und umgeht das Ungeheuer, immer darauf bedacht, sich von seinem Heck fernzuhalten, das bereits mehrfach ausgebrochen ist. Bei glatter Fahrbahn Vollgas zu geben, ist keine gute Idee.
Hartenfels läuft die Treppe nach unten, während ihm der Geruch von nasser Kleidung entgegenweht. Er ist nicht der Einzige, der heute auf das Auto verzichtet, was dazu führt, dass im öffentlichen Nahverkehr das blanke Chaos herrscht. So voll wie der Bahnsteig ist, ist schon mehr als ein Zug ausgefallen. Hartenfels wird von hinten geschoben und quetscht sich Meter um Meter voran. Weil er groß und massig ist, kann er einfach irgendwo stehen bleiben, Personen mit kleinerer Statur haben weniger Glück. Er kommt sich wie ein Fels in der Brandung vor. Er teilt den Menschenstrom, der sich auf den Bahnsteig ergießt.
Hartenfels sehnt sich nach einem Zug und hat gleichzeitig Angst vor ihm, noch mehr Gedränge ist kaum zu ertragen. Über Lautsprecher ertönt die Ansage, dass der einfahrende Zug überfüllt sei, aber gleich nach ihm eine weitere U-Bahn käme, die leer sei, was niemand glaubt. Hartenfels, der sich in Deeskalationstechniken auskennt, fällt auch nicht darauf herein.
Er wirft sich mit der schieren Kraft seines gewaltigen Leibes vorwärts, um eine der geöffneten Türen zu erreichen, und zieht sich in einen Waggon. Vor Hartenfels’ Augen blitzt kurz eine Verladerampe auf, von der aus Menschen in fadenscheiniger Kleidung in bereitstehende Züge geprügelt werden, und ihm bleibt die Luft weg. Er reißt die Augen auf, um sein Hirn davon zu überzeugen, dass er lediglich im morgendlichen Berufsverkehr steckt und nicht auf dem Weg in ein Vernichtungslager.
Die Tür geht zu, und die U-Bahn setzt sich in Bewegung, was dazu führt, dass die Passagiere wie Berliner Klöße in einer Suppenschüssel hin und her schwappen. Hartenfels hält sich an einer Stange fest und spürt, dass sich andere an ihn klammern, was er gewohnt ist.
Für die Fahrt, die sonst zehn Minuten dauert, braucht er über eine halbe Stunde, am Wittenbergplatz steigt er aus und rennt nach oben. Am liebsten würde Hartenfels den Rest des Tages im Freien verbringen, um sich zu erholen. Egal, wie viel Feinstaub in der Luft liegt, er genießt jeden Atemzug.
Es schneit weiter, der Schnee ist inzwischen pappig und feucht. Hartenfels fährt sich mit der Hand über die Glatze und spürt, wie nass sie ist. Sein Handy vibriert. Er mag Handys nicht und muss sich überwinden, den Anruf anzunehmen. Er weiß selbst, dass er Rufbereitschaft hat und längst im LKA sein sollte.
»Ja?« Hartenfels hat in einem Hauseingang Schutz gesucht und hält sich das Handy ans Ohr.
»Wir haben einen Notruf aus Kreuzberg«, sagt der Beamte am anderen Ende der Leitung, »ein Mann meldet seine Frau als vermisst.«
Hartenfels zögert. Für verschwundene Personen ist er nicht zuständig, darum kümmert sich das LKA 12, er ist beim LKA 11. Es ist ungewöhnlich, dass man wegen eines Falls anruft, der nicht in seinen Bereich fällt. Hartenfels’ Rufbereitschaft ist zwar sehr ruhig verlaufen, aber das ist kein Grund für ihn, bei den Kollegen zu wildern.
»Wieso rufst du mich an?«, will er wissen.
»Weil es nicht nur um eine Person geht, die abgängig ist.«
»Um was geht es denn sonst?«
»Der Hund des Mannes, dessen Frau nicht mehr da ist, hat eine Leiche aus dem Schnee gebuddelt.«
Hartenfels reibt sich die Augen. Erst geschieht nichts, dann alles auf einmal.
»Wo in Kreuzberg?«, hakt er nach.
»Im Viktoriapark«, antwortet der Beamte.
Hartenfels sieht den kleinen Berg vor sich, dessen Wiesen im Sommer voller Menschen sind. Wenn er sich richtig erinnert, gibt es sogar einen Wasserfall, den man an- und ausschalten kann.
Je nach Wetterlage, denkt er, im Augenblick ist das Ding bestimmt außer Betrieb.
Ein Blick in den Himmel reicht, um sich da sicher zu sein. Fette Flocken treiben auf ihn zu, er muss blinzeln, um überhaupt etwas zu sehen.
»Und wie passt das zusammen?«, fragt Hartenfels weiter.
»Was?«
»Die vermisste Person und die Leiche.«
»Ich verstehe nicht.«
»Hat der Mann, der angerufen hat, gesagt, in welcher Reihenfolge das passiert ist?«
»Das weiß ich nicht.« Sein Kollege scheint mit Papieren zu rascheln, Hartenfels hört ihn kaum mehr, vielleicht ist auch die Verbindung gestört.
»Hat er zuerst seine Frau vermisst und dann die Leiche gefunden?«
»Du kannst Fragen stellen.«
»Oder haben er und seine Frau die Leiche gemeinsam entdeckt und danach ist sie weg?«
»Also die Leiche ist noch da.«
»Ich meine die Frau.«
»Hm«, ist alles, was Hartenfels als Antwort erhält.
»Vielleicht hat der Typ die Leiche ja nur gefunden, weil er seine Frau gesucht hat«, unternimmt er einen letzten Versuch.
»Sein Hund ist auf die Leiche gestoßen«, lautet die Antwort.
O Gott, denkt Hartenfels, so kommt er nicht weiter.
Es hilft nichts, er muss selber zum Tatort. Es ist schließlich Hartenfels’ Job, Mordfälle aufzuklären. Natürlich steht bislang nicht fest, ob es sich bei der Leiche um ein Mordopfer handelt, aber das wird er herausfinden.
Hartenfels beendet das Gespräch und überlegt, wer aus seinem Team frei ist, um mit ihm zu fahren. Hoffentlich sind wenigstens die Hauptstraßen geräumt, Schneefall kommt jedes Mal völlig überraschend.
Wie Weihnachten, denkt er.