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Die Tote am See

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Der Spätherbst zeigt sich an diesem Sonntagmorgen von seiner goldenen Seite. Vereinzelt ziehen weiße Wolken am tiefblauen Himmel vorüber. Nichts erinnert mehr an das neblig trübe Novemberwetter der vergangenen Tage. Das bunte Herbstlaub weist die für die Jahreszeit typische gelbe Farbe auf. Die Abgrenzungen zwischen den Wiesen und Äckern links und rechts der Bundesstraße vermitteln den Eindruck, als hätte ein Landschaftsarchitekt mit einem Lineal die scharfen Konturen der Feldraine akkurat eingezeichnet. Die reizvolle Landschaft des Naturparks Sandahlener Heide wird durch wenige Ortschaften beeinträchtigt. Selbst diese passen sich mit ihren malerischen Fachwerkhäusern der Natur an. Der weiße Rauch aus vereinzelten Schornsteinen steigt kerzengerade in die Luft. Er steht in einem reizvollen Kontrast zu dem azurblauen Himmel.

Die Bundesstraße scheint um diese Jahreszeit nahezu verwaist zu sein. Ebenda, wo sich in den Urlaubsmonaten permanent Caravans und Personenkraftwagen Stoßstange an Stoßstange aneinanderreihen, ist heute dagegen kaum ein Fahrzeug unterwegs. Das Blaulicht auf dem Dach der Dienstlimousine des Kriminalkommissariates von Ballenhainischen erweist sich als vollkommen überflüssig. Mit hoher Geschwindigkeit nähern sie sich dem Ort Akazienaue. Die Insassen interessieren sich weder für die reizvolle Landschaft noch für das um diese Jahreszeit recht ungewöhnliche sonnige Herbstwetter. Kriminalhauptkommissarin Veronika Sommercamp und Kommissar Jens Knobloch erhielten vor wenigen Minuten die Nachricht über den Fund einer Wasserleiche im Akaziensee. Aus ihrer langjährigen Berufserfahrung wissen sie, dass damit das dienstfreie Wochenende beendet ist. Bei der Ankunft auf dem Parkplatz des Hotels ‚Haus am Akaziensee' sehen sie den Menschenauflauf. In dem zweihundert Einwohner zählenden idyllischen Ferienort sprach sich der Fund einer Toten in Windeseile herum. Beim Aussteigen sagt Jens Knobloch: »Wo kommen nur die vielen Leute her. Außerhalb der Urlaubszeit ist Akazienaue eher ein überschaubares kleines Dörfchen mitten im Naturpark. Nach meinem Wissen erwacht es erst zu Beginn der Hochsaison. Dann beherbergen der Campingplatz, die privaten Pensionen im Ort und das Hotel im Vergleich zur Einwohnerzahl die doppelte Anzahl von Gästen.«

»Das ist im Moment wahrlich nicht mein Problem. Vielmehr beschäftigt mich, wie wir schnellstmöglich zu der Stelle gelangen, an der man die Leiche fand«, äußert Veronika Sommercamp ungeduldig.

Die Blinklichter der Polizeieinsatzwagen und der beiden Fahrzeuge des Rettungsdienstes signalisieren den Kommissaren unmissverständlich den Brennpunkt des Geschehens. Polizeiwachtmeister Fritz Bauerstolz hat trotz der Absperrung mit rotweißen Flatterbändern sichtliche Mühe, den Fundort der Toten vor übertrieben Neugierigen abzuschirmen. Mühsam bahnen sie sich einen Weg nach vorn. Keiner der Schaulustigen ist gewillt, auch nur einen Zentimeter von seinem erkämpften Beobachtungsplatz freizugeben. »Benehmt euch nicht derartig starrköpfig. Bildet eine Gasse, damit die Hauptkommissarin recht rasch nach vorn gelangt. Sie ist genauer gesagt zum Arbeiten hier. Nicht wie ihr, die nur Maulaffen feilhaltet«, hören sie die sonore Stimme ihres Kollegen. Wie gewohnt spricht er ruhig und sachlich auf die allzu Aufdringlichen in den vorderen Reihen ein.

Schließlich kommen die beiden Kriminalkommissare am Seeufer an. Es ist ein reizvoller Anblick, wie sich die Laubbäume mit ihrem herbstlichen Blätterkleid im glasklaren Wasser des Akaziensees spiegeln. Wie auf der Fahrt hierher steht ihnen für die Beachtung der Natur im Moment absolut nicht der Sinn. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehört den Begebenheiten am Ufer des Sees.

»Hallo Monika«, begrüßt Veronika Sommercamp die neben der Leiche kniende Pathologin Dr. Bieberstein. Beide kennen sich seit vielen Jahren der Zusammenarbeit und haben zahlreiche Fälle gemeinsam gelöst.

»Kommt unbesorgt näher Die Spurensicherung hat den Strand sowie die daran angrenzende Rasenfläche bereits untersucht. Die Ergebnisse sind auf dem Weg in das Kriminaltechnische Institut. Soweit ich es mitbekommen habe, wurden zahlreiche Fußabdrücke genommen. Das Tatwerkzeug fanden unsere Kollegen bisher nicht. Auch sonstige Gegenstände, die mit dem Verbrechen in Zusammenhang stehen könnten, wurden nicht gesichtet.«

»Ist dir bekannt, um wen es sich bei der Leiche handelt?«, fragt Veronika Sommercamp..

»Ja, die Tote hat eine Handtasche bei sich. Den Inhalt habe ich sichergestellt.«

Dr. Monika Bieberstein übergibt der Kriminalhauptkommissarin eine Plastiktüte. Dabei führt sie weiter aus: »Es scheint nichts zu fehlen. Ausweis, Führerschein und Kreditkarte sind hier drin. Der ganze Inhalt wird im Labor untersucht. Einschließlich der Analyseergebnisse erhaltet ihr sie in Kürze zugestellt.«

»Ist es dir möglich, eine erste Aussage zum Todeszeitpunkt zu treffen?«, will Veronika Sommercamp weiter wissen.

»Ja, unter allem Vorbehalt einer Erstuntersuchung schätze ich ein, dass die Leiche nicht länger als zwölf Stunden im Wasser lag. Natürlich präzisiere ich die Uhrzeit. Freilich erst dann, nachdem die Tote von mir auf dem Obduktionstisch in der Pathologie untersucht wurde.«

Jens Knobloch mischt sich in das Gespräch ein und fragt: »Steht fest, dass sie ertrunken ist, oder sind Spuren von äußerer Gewalt erkennbar? Sie erwähnten bei unserer Ankunft ein Tatwerkzeug, welches nicht gefunden wurde.«

»Die Todesursache ist von mir im Augenblick nicht mit hundertprozentiger Sicherheit zu bestimmen. Die Strieme um den Hals ist ein eindeutiges Strangulierungsmerkmal. Ob diese Gewalteinwirkung zum Tod führte oder ihr Kopf gewaltsam unter Wasser gedrückt wurde, ist bei der ersten Inaugenscheinnahme nicht mit Gewissheit zu sagen. Die Untersuchung der Lunge der Toten müsst ihr abwarten. Also, übt euch ein wenig in Geduld.«

Veronika Sommercamp schaut sich den Inhalt der von Dr. Monika Bieberstein übergebenen Plastiktüte an. Die Angaben auf dem Personalausweis und der Kreditkarte sind deutlich lesbar. Es handelt sich bei der Leiche um Saskia Jungblut, einer fünfzigjährigen Frau, die in Sommerfeld geboren wurde. Der gegenwärtige Wohnort bleibt den Augen der Kommissare verborgen. Die Information steht auf der Rückseite des Ausweises, die durch andere Papiere aus der Handtasche der Toten verdeckt wird.

»Einen Raubmord können wir zumindest auszuschließen«, bemerkt Veronika Sommercamp, »ich gehe davon aus, dass der Täter bei einer vorsätzlichen Tötung aus materiellen Beweggründen, die Kreditkarte nicht außer Acht gelassen hätte.«

Jens Knobloch nickt zustimmend und begutachtet nochmals sorgfältig den Inhalt der Tüte. »Wow, was haben wir denn hier«, ruft er und stößt einen leisen Pfiff aus.

»Was hast du derart Interessantes entdeckt, um wie ein Straßenjunge zu pfeifen?«, fragt Veronika Sommercamp belustigt.

»Sieh hierher! Eine Visitenkarte vom Hotel ‚Haus am Akaziensee‘. Das ist ein erster Anhaltspunkt. Es besteht die Möglichkeit, dass es sich bei der Toten um einen Hotelgast handelt.«

Veronika Sommercamp schaut auf das Kärtchen und bemerkt: »Hoffentlich haben wir Glück. Dann verlieren wir zumindest keine Zeit, um Näheres zur Identität der Toten zu erfahren. An der Rezeption wird man uns sicher im Handumdrehen Auskunft geben.«

Beide begeben sich über die Uferpromenade hinauf zum Hotel. Nach der Hälfte der Wegstrecke tönt ihnen ein umgängliches ‚Hallo’ entgegen. Auf der Terrasse steht Armin Wenzel, Eigentümer des ‚Haus am Akaziensee'. Die beiden Kriminalkommissare sind für ihn keine Unbekannten. Erst vor acht Wochen hat er mit ihnen an einem Tisch in der Gaststätte zusammengesessen. Der Grund war die Aufklärung des Mordes an dem ärztlichen Direktor des Klinikums in Ballenhainischen. Armin Wenzel gab ihnen den ausschlaggebenden Hinweis für die Lösung des Gewaltverbrechens. Ebenfalls spielte der Hotelbesitzer vor annähernd sechzehn Jahren eine maßgebliche Rolle in einem Mordfall. Er fand damals die durch einen Giftmord ums Leben gekommene Tierärztin Paula Pattberg unweit vom Ort unter einem Schlehendorn. Aufgrund dessen ist es nicht verwunderlich, dass er die Kommissare wie alte Bekannte begrüßt. »Ich habe Sie erwartet. Wenn es eine Tote gibt, dann dauert es nicht lange, und die Kripo steht auf der Matte. Kommen sie herein. Auf uns wartet ein frisch gebrühter Kaffee.«

Sein legerer Umgangston ist ihnen geläufig und sie stoßen sich in keinerlei Hinsicht daran. Das Gegenteil ist der Fall. Jens Knobloch geht auf die zwanglose Begrüßung ein und sagt mit einem verschmitzten Lächeln: »Wenn es sich in dieser Art weiter entwickelt, dann wird Akazienaue zu einem Knotenpunkt des kriminellen Geschehens im Landkreis. Sie müssen aufpassen, dass unter solchen Bedingungen überhaupt noch Gäste zu Ihnen kommen. Zumindest hätte ich als Hotelgast eine höllische Angst, dass mir ebenfalls irgendetwas zustößt.«

»In dieser Hinsicht widerspreche ich Ihnen energisch. Bei unserem letzten Zusammentreffen handelte es um eine Person aus der Hauptstadt und nicht um einen hier ansässigen Dorfbewohner. Ich lebe seit dreißig Jahren hier. Es war immer geruhsam und beschaulich in unserer Gemeinde. Zugegeben, bis auf die Ausnahme mit der Giftmörderin. Doch lassen wir die alten Geschichten. Wie kann ich Ihnen diesmal behilflich sein?«

»Bei der Toten unten am Strand ist nicht ausgeschlossen, dass sie zu Ihren Gästen gehörte. Zumindest fanden wir in ihrer Handtasche ein Kärtchen von dem Hotel«, sagt Veronika Sommercamp.

»Wie lautet denn ihr Name? Gegenwärtig sind nicht mehr als fünf Zimmer belegt. Ich denke, die Anzahl ist überschaubar.«

»Er handelt sich um Saskia Jungblut. Mehr wissen wir im Moment nicht.«

»Der Name kommt mir bekannt vor. Schauen wir ohne größeren Aufwand in meinen schlauen Aktenordner. Dort sind die Anmeldeformulare abgeheftet. Faktisch betreibe ich den Papierkram hauptsächlich wegen der Steuer.«

Triumphierend hält er ein Formular in der Hand und bemerkt: »Sehen Sie, bei mir herrscht preußische Ordnung. Ein Griff genügt und sie haben die gewünschten Angaben. Die Dame stammt aus Rudolstadt. Das liegt im Thüringischen. Sie ist vor zwei Tagen angereist. Es hängt sicher mit der Beerdigung zusammen. Das ist keine Spekulation von mir. Gestern waren alle Gäste in schwarz gekleidet. Zu ihnen gehörte Saskia Jungblut.«

»Um wem handelt es sich bei dem Verstorbenen?«, fragt Jens Knobloch.

»Friedbert Voß wurde beigesetzt. Er kaufte vor zwei Jahren die prächtige Stadtvilla oberhalb vom Akaziensee. Das Grundstück umfasst mehr als viertausend Quadratmeter. Obendrein hatte er sich eine Luxusyacht angeschafft. Es wird gemunkelt, dass er verdammt reich sei und sein Vermögen im Ausland erlangt habe. Genauere Angaben sind mir nicht bekannt. Meine Aussagen beziehen sich auf das, was einem mehr oder weniger erzählt wird.«

»Erstaunlich, dass sich ein Millionär in Ihrem bescheidenen Ort niedergelassen hat. Das hört man nicht alle Tage. Wie alt ist er geworden?«

»Er feierte erst vor kurzem seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag. Na ja, wahrhaft kein Alter, um sich von der Welt zu verabschieden. Dem Tod entkommt niemand. Ich vermag in dem Zusammenhang nur den bekannten Spruch zu strapazieren, dass keiner, auch wenn er noch so viel Geld besitzt, davon verschont bleibt.«

»Woran ist er denn gestorben?«, fragt Jens Knobloch weiter.

»Also, verbürgen möchte ich mich nicht dafür. Sein Gärtner erzählt überall im Dorf, dass Friedbert Voß absolut friedlich und für immer eingeschlafen sei. Wie man nicht müde wird zu betonen, war er ein regelrechter Gesundheitsfanatiker. Außerdem trieb er regelmäßig Sport. Kein Wunder, bei einer dreißig Jahre jüngeren Haushälterin war sicher eine gehörige Portion Kondition erforderlich«, äußert Armin Wenzel und lächelt bei dieser Bemerkung vieldeutig.

Jens Knobloch befriedigt die Auskunft nicht vollständig. Der Tod eines bemerkenswert vermögenden Einwohners in diesem kleinen Ort gibt ihm zu denken. »Eine letzte Frage: Sie sind über alles, was in Akazienaue passiert, recht gut informiert. Dann ist Ihnen sicher bekannt, wer den Totenschein ausstellte?«

»Aber gewiss. Es war Dr. Frank Ringhof, der Hausarzt des Verstorbenen. Er wurde von der Haushälterin Solveig Lilienthal in die Villa gerufen. Ich nehme an, dass sie an eine Rettung oder Wiederbelebung glaubte. Zumindest erzählte es der Gärtner am Stammtisch in meiner Gaststätte. Bei solchen Schilderungen höre ich voller Interesse zu. Man muss schließlich Bescheid wissen, was in unserer Gemeinde geschieht«, fügt er schmunzelnd hinzu.

Veronika Sommercamp hat das Gespräch anfangs aufmerksam verfolgt. Im Moment scheint ihr die Beschäftigung mit einer Person, die eines natürlichen Todes gestorben ist, ausreichend zu sein. Sie unterbricht das Gespräch der beiden Männer und äußert: »Kehren wir bei allem Respekt vor dem Verstorbenen zu unserem aktuellen Fall zurück. Saskia Jungblut wurde hinterrücks ermordet. Das steht zumindest nach den ersten Untersuchungen durch Dr. Monika Bieberstein fest. Wir durchsuchen zunächst das Hotelzimmer. Es ist denkbar, dort einen ersten Hinweis auf den Täter oder die Täterin zu finden.«

Armin Wenzel schaut auf das Schlüsselbrett an der Rezeption und runzelt seine Stirn. Ein wenig ratlos sieht er die Kommissare an und sagt: »Es ist eigenartig. Wenn meine Gäste die Unterkunft verlassen, dann hinterlegen sie ihren Zimmerschlüssel am Tresen. Der Schlüssel von Zimmer zwei fehlt. In ihm war Saskia Jungblut untergebracht.«

»Was ist daran außergewöhnlich? Sicher wurde von ihr das Hotel nur zu einem kurzen Spaziergang verlassen. Sie hielt die Hinterlegung nicht für erforderlich oder vergaß es schlicht und einfach«, äußert Veronika Sommercamp.

»Das wäre das erste Mal, dass einem Gast so etwas passiert. Damit nicht laufend Schlüssel verloren werden oder bei der Abreise aus Unachtsamkeit im Reisegepäck verschwinden, hängt an jedem ein recht schweres Akazienblatt aus Messing. Es ist sperrig und auf alle Fälle nicht für die Aufbewahrung in einer Damenhandtasche geeignet.«

»Damit könnten Sie recht haben. In der Handtasche ist er mit Sicherheit nicht gewesen. Sonst hätte man ihn uns mit den Ausweispapieren übergeben«, bemerkt Jens Knobloch.

»Möglicherweise lässt sich das Problem ganz einfach lösen, indem wir nachschauen, ob sie ihn beim Weggehen heute Nacht stecken ließ. Zuvor gebe ich den Kollegen der Spurensicherung Bescheid. Sie erhalten den Auftrag, sich das Zimmer von Saskia Jungblut gründlich anzuschauen. Es könnte durchaus sein, dass sie vor dem Verlassen des Hotels Besuch bekommen hatte«, äußert Veronika Sommercamp.

Vor der Zimmertür ziehen die Kommissare die Füßlinge an und streifen sich die Latexhandschuhe über. Nachdem sie den Raum betreten haben, wendet sich Jens Knobloch an Armin Wenzel: »Wie sie sehen, steckt der Schlüssel von innen. Saskia Jungblut hatte offenbar keine längere Abwesenheit aus dem Zimmer geplant. Bitte warten sie in der Gaststätte auf uns. Wir kommen in Kürze wieder zu Ihnen.«

Enttäuscht, dass er bei der Durchsuchung ausgeschlossen wird, begibt sich Armin Wenzel nach unten. Die Kommissare schauen sich im Zimmer der Ermordeten um. Veronika Sommercamp stellt fest: »Es sieht danach aus, als wurde Saskia Jungblut durch irgendetwas gestört. Auf dem Tisch steht der Handspiegel, daneben liegen die Haarbürste, die Utensilien für die Pflege der Fingernägel sowie die Nachtcreme.«

»Woran erkennst du, dass sie abgelenkt wurde?«, fragt Jens Knobloch interessiert.

»Eine Frau hat dafür einen Blick. Alle Dinge liegen griffbereit an ihrem Platz. Wogegen ein Wattebällchen, welches man zum Entfernen von Fingernagellack benutzt, weder auf dem Tisch noch im Papierkorb zu sehen ist.«

Jens Knobloch öffnet das Schmuckkästchen. Es ist bis an den Rand gefüllt mit Halsketten und Ringen. Er zeigt es der Hauptkommissarin und sagt: »Auf den ersten Blick scheint nichts zu fehlen.«

Veronika Sommercamp schaut sich den Inhalt an. Sie nimmt einen mit Edelsteinen besetzten Armreifen in die Hand. Verwundert ruft sie aus: »Oh! Das scheint echter Schmuck zu sein. Ohne genauere Prüfung würde ich sagen, dass er einen hohen Wert besitzt. Das ist kein Billigkram aus der Modeschmuckabteilung eines Warenhauses. Dieser hier stammt von einem begnadeten Juwelier. Es ist eine, selbst von einem Laien erkennbare, ausgesprochen filigrane Arbeit.«

Jens Knobloch nimmt die Ausführungen seiner Vorgesetzten zur Kenntnis und kommentiert gelassen: »Der Täter hat es keinesfalls auf den Schmuck abgesehen. In dem Fall hätte man die Tote eher hier im Hotelzimmer gefunden. Ich schaue im Reisegepäck nach. Möglicherweise entdecke ich irgendetwas Interessantes.«

Er nimmt den Koffer aus dem Schrank. Entgegen seinen Vorstellungen beinhaltet er nichts weiter als Kleidung, die man für ein paar Tage Abwesenheit von zu Hause benötigt.

»Ich finde nichts Bemerkenswertes und stelle ihn wieder zurück«, bemerkt Jens Knobloch.

Als er im Begriff ist, das Gepäckstück zu verstauen, ruft Veronika Sommercamp: »Moment, halte bitte inne! Da ragt ein Briefumschlag zu einem Drittel aus der Seitentasche des Koffers heraus.«

Jens Knobloch stutzt: »In der Tat. Den habe ich übersehen.«

Er nimmt ihn zur Hand und faltet den Brief auseinander. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, liest er den Text vor: »Liebe Saskia, du bist die Einzige, die sich in den letzten zwei Jahren um mich gekümmert hat. Deshalb gehört dir die Hälfte des Vermögens. So habe ich es in meinem Testament festgelegt. Ich hoffe, dass du damit glücklich wirst und das Geld Dir ein unbeschwertes Leben ermöglicht. Pass auf dich auf! Deine Geschwister werden es dir neiden.«

»Das ist knallhart formuliert. Ich vermute, wir haben damit ein recht eindeutiges Motiv für den Mord«, ruft Veronika Sommercamp erstaunt aus, »es passiert selten, dass wir zu Beginn der Ermittlung den Beweggrund für ein Verbrechen präsentiert bekommen.«

»Damit erklärt sich, warum dem Täter oder der Täterin weder die Kreditkarte noch der Schmuck interessierten. In dem Fall scheint es sich nicht allein um ein paar tausend Euro zu handeln. Mir kommen sofort die Worte von Armin Wenzel in Erinnerung, als er uns über die gestrige Beerdigung berichtete. Er äußerte unter anderem, dass der Dahingeschiedene sehr vermögend gewesen sei. Es scheint so, dass dieser Herr zukünftig recht bedeutend für unsere Ermittlung sein könnte«, führt Jens Knobloch aus.

»Wie war gleich der Name des Verstorbenen, der gestern beerdigt wurde?«, fragt die Hauptkommissarin.

Jens Knobloch schaut in sein Notizblock und antwortet: »Er heißt Friedbert Voß. Es empfiehlt sich, dass wir uns rasch einen Überblick über seine Vermögensverhältnisse verschaffen. Darüber hinaus sind die Familienangehörigen aufzufordern, vorläufig im Haus zu bleiben und sich für eine Befragung bereitzuhalten.«

»Zumindest für die nächsten vierundzwanzig Stunden. Wenn wir bis dahin keine Beweise haben, dann haben wir keinerlei Berechtigung, sie länger hierzubehalten«, merkt Veronika Sommercamp einschränkend an.

»Ich denke, dass in dem Fall die Ermittlungen ausgesprochen einfach sind. Die gesetzlich vorgeschriebenen Fristen reichen für die Befragung der verdächtigen Personen völlig aus. Schließlich halten sie sich alle unter einem Dach auf.«

Im Gastraum wartet Armin Wenzel ungeduldig auf die beiden Kommissare. Er sieht sich zum wiederholten Mal berufen, eine überaus bedeutsame Rolle bei der Aufklärung eines Mordes zu spielen. Voller Neugier fragt er: »Haben Sie bereits einen Anhaltspunkt, wer Saskia Jungblut ermordete? Wenn nicht, biete ich Ihnen selbstverständlich meine Hilfe an.«

Veronika Sommercamp muss über die Diensteifrigkeit des Hotelbesitzers kurz lächeln. Allerdings wird sie sogleich wieder ernst und antwortet: »Wenn wir irgendetwas finden, wird es beim jetzigen Stand der Ermittlung mit Sicherheit von uns nicht publiziert. Dessen ungeachtet beantworte ich Ihnen gerne den zweiten Teil Ihrer Äußerung. Nach Lage der Dinge benötigen wir Ihre Hilfe. Setzen wir uns gemeinsam an einen Tisch, um darüber zu sprechen.«

Jens Knobloch nimmt sein Notizbuch zur Hand und sagt: »Schildern Sie uns bitte einmal den Ablauf des gestrigen Tages. Wir hätten gerne gewusst, wie sich die Familienmitglieder verhielten. Es ist denkbar, dass es eine Abweichung vom normalen Verhalten gab. Möglicherweise ist Ihnen eine Besonderheit aufgefallen.«

Armin Wenzel schildert bis ins Detail den Tagesablauf. Bei der ausführlichen Beschreibung seines Fünf-Gänge-Menüs unterdrückt Veronika Sommercamp mit Mühe ein Gähnen. Mit einem Male wird sie hellhörig, als er sagt: »Die Trauergemeinde kam vom Friedhof und begab sich ohne Verzug in den Salon. Dort wurden die Familienmitglieder von Dr. Bert Salomon erwartet.«

An dieser Stelle unterbricht die Hauptkommissarin den Redeschwall von Armin Wenzel: »Wer ist Herr Salomon und welchen Raum bezeichnen sie mit ‚Salon’?«

»Es handelt sich um einen Empfangsraum für spezielle Anlässe. Dort wird man nicht vom üblichen Hotel- und Gaststättenbetrieb gestört. Dahin hatte der Rechtsanwalt des Verstorbenen die Kinder und die Haushälterin von Friedbert Voß zur Eröffnung des Testamentes eingeladen. Einen solchen Raum mit einer gewissen intimen Atmosphäre findet man sonst nirgendwo in der ganzen Umgebung«, fügt Armin Wenzel selbstbewusst hinzu.

»Um wie viele Personen hat es sich dabei gehandelt?«, will Jens Knobloch wissen.

»Hm, ja, also, es war Solveig Lilienthal anwesend. Sie führte den Haushalt des Dahingeschiedenen. Die anderen Anwesenden kannte ich nicht. Sie wohnen alle hier im Hotel. Das Beste wird es sein, dass ich den Aktenordner mit den Anmeldescheinen hole. Dann ist ausgeschlossen, dass mir ein Fehler unterläuft.«

Jens Knobloch bemerkt: »Saskia Jungblut ist uns bekannt. Es handelt sich dabei um die Ermordete. Den Anmeldeschein zeigten Sie uns bereits.«

»Ja, dann waren weiterhin anwesend Freya Damaschke mit ihrem Ehepartner Norbert, Alida und Tassilo Morgenroth sowie Dagmar und Falko Rosenkranz.«

»Dementsprechend sind sieben Personen zur Testamentseröffnung erschienen«, wirft Jens Knobloch ein.

»Nein, es waren acht. Ich war mit meinen Ausführungen nicht zu Ende, als sie mich unterbrachen. Zu den Anwesenden gehörte außerdem Malte Baader. Es handelt sich um den Sohn von Friedbert Voß.«

»Wieso heißt der Sohn Baader und nicht Voß. Ist er verheiratet und hat den Namen seiner Frau angenommen?«, fragt Veronika Sommercamp.

»Malte Baader ist ein uneheliches Kind, in gewissem Sinne der Halbbruder der vier Töchter. Er erschien erst kurz vor Beginn der Trauerfeier. Alle anderen wohnen seit zwei Tagen im Hotel.«

»Eine Sache verstehe ich nicht«, wendet sich Jens Knobloch an die Hauptkommissarin, »wenn Friedbert Voß eine geräumige Villa besitzt, warum sind seine Kinder dann im Hotel untergebracht?«

Armin Wenzel meldet sich beflissen zu Wort und erklärt: »Die Frage kann ich Ihnen sofort beantworten. Der Verstorbene verfügte es ausdrücklich in seinem letzten Willen. Das teilte mir der Rechtsanwalt Dr. Bert Salomon mit. Ich habe ihm die gleiche Frage gestellt, die Sie soeben an die Hauptkommissarin richteten.«

»Sie wissen ja eine ganze Menge«, sagt Veronika Sommercamp anerkennend, »woher stammen die Detailkenntnisse? Selbst die Konstellationen innerhalb der Familie sind Ihnen bekannt, obwohl die Familienangehörigen erstmals in ihrem Hotel übernachten.«

Voller Stolz auf das soeben gehörte Lob sagt Armin Wenzel: »Ich unterhalte mich gerne mit meinen Gästen. Viele von ihnen erkundigen sich nach den besten Wanderwegen. Andere hingegen planen eine Bootsfahrt und benötigen dafür Tipps von mir. Die gebe ich sehr gerne. Man glaubt kaum, wie mitteilungsfreudig Menschen sind, wenn man ihnen genügend Aufmerksamkeit schenkt.«

»Dann ist Ihnen sicher ebenfalls bekannt, was in dem Testament verfügt wurde?«, fragt Veronika Sommercamp.

»Um Gottes willen! Ich lausche doch nicht an den Türen. Nachdem der Rechtsanwalt das Hotel verlassen hat, haben sich die Gäste mit keinem Wort mehr mit mir unterhalten. Allein Saskia Jungblut und Solveig Lilienthal zeigten ein recht freundliches Gesicht. Für die anderen schienen die Verfügungen von Friedbert Voß offenkundig nicht ihren Vorstellungen zu entsprechen. Sie zogen sich sofort in ihre Zimmer zurück. Zugegebenermaßen sind das alles lediglich Vermutungen von mir. Genaueres kann ich Ihnen zu den Vorgängen nicht sagen.«

Veronika Sommercamp entgegnet: »Ich finde es absolut nicht ungewöhnlich, dass man nach Kenntnis einer Erbschaft das Bedürfnis verspürt, erst einmal allein und unter sich zu sein. Es betrifft schließlich ein größeres Vermögen. Auf diese Weise hatten Sie sich bei ihren Bemerkungen zu den Verstorbenen geäußert.«

»Ja, das stimmt. Bevor die Töchter Kenntnis von dem Testament erhielten, haben alle vier stundenlang zusammengesessen und sich lebhaft unterhalten. Es fällt einem auf, wenn die Stimmung mit einem Mal umschlägt.«

»Demzufolge sind alle Gäste auf ihren Zimmern geblieben und verzichteten auf ein gemeinsames Abendessen«, stellt Jens Knobloch fest.

»Das wiederum auch nicht. Gegen zwanzig Uhr saßen alle erneut in der Gaststätte und haben zusammen das Abendbrot eingenommen. Ich hatte den Eindruck, dass eine gedrückte Stimmung herrschte. Die Töchter wechselten kaum ein Wort miteinander. Einzig und allein Malte Baader und Saskia Jungblut unterhielten sich ab und zu. Die vier Frauen sind nach einer halben Stunde wieder auf ihre Zimmer gegangen. Die Männer dagegen hielten sich noch längere Zeit an der Bar auf. Es hatte den Anschein, dass sie, im Gegensatz zu ihren Ehefrauen, mit der Erbschaft recht zufrieden waren.«

»Wissen Sie, zu welcher Uhrzeit die Ehemänner und Malte Baader die Hotelbar verließen?«, fragt Veronika Sommercamp.

»Das kann ich Ihnen auf die Minute genau sagen. An diesem Abend hatte ich mir vorgenommen, die Übertragung eines Fußballspiels anzuschauen. Wegen der vier Trinkbrüder wurde nichts daraus.«

»Nun sagen Sie uns schon die Uhrzeit«, äußert sich Veronika Sommercamp ungeduldig. Die Hauptkommissarin befürchtet, dass Armin Wenzel entsprechend seiner ausschweifenden Erzählweise, augenblicklich anfängt, ausführlich über ein verpasstes Fußballspiel zu berichten.

»Es war gegen Mitternacht, als sie schließlich gingen. Aber von gehen konnte keine Rede sein. Die waren alle sternhagelvoll und mussten sich gegenseitig stützen. Zudem redeten sie wirren Zeugs. Immerzu handelte es sich ums Geld und was sie damit anfangen werden. In ihrem alkoholisierten Zustand konnte man das nicht wirklich ernst nehmen.«

»Wie erfolgte denn das Bezahlen der Rechnung? Hat einer von den Herren die ganze Zeche beglichen?«

»Nein, nein, die Kosten für die Getränke habe ich auf die Hotelrechnung gesetzt. Da kommt erst bei der Bezahlung am Abreisetag die richtige Katerstimmung auf. Mir war es an diesem Abend recht. Der Umsatz hat mich auf alle Fälle für das entgangene Fußballspiel entschädigt. Ich möchte nicht wissen, was deren Frauen sagen, wenn sie die Rechnung von der Herrenrunde zu Gesicht bekommen. An diesem Abend wurde nur das Teuerste getrunken, was ich anzubieten habe. Doch das ist nicht mein Problem.«

»Eine letzte Frage. Trauen Sie einem der Männer zu, dass er nach dem Verlassen der Bar aus dem Haus ging und sich mit dem Opfer getroffen hat?«, fragt Veronika Sommercamp.

»Auf keinen Fall. Die hatten noch heute Morgen glasige Augen und deren Alkoholfahne überlagerte den aromatischen Kaffeeduft im Frühstücksraum bis in den letzten Winkel. Von denen war niemand in der Lage, um Mitternacht auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen.«

Die Kommissare fordern die Familienmitglieder auf, vorläufig Akazienaue nicht zu verlassen und sich für eine Vernehmung bereitzuhalten. Veronika Sommercamp äußert gegenüber ihren Kollegen: »Ich fahre sofort in die Pathologie und du sprichst mit Solveig Lilienthal. Lasse dir vor allem die Kopie des Testamentes zeigen. Der Rechtsanwalt übergab sicher den Begünstigten ein solches Papier. Noch besser wird sein, du bringst es gleich mit. Denke bitte daran, dir einen Überblick über die Vermögensverhältnisse zu verschaffen. Ebenso interessiert mich der Wert der Villa. In zwei Stunden bin ich wieder hier. Dann fangen wir mit den Befragungen an. Die Mitarbeiter von der Spurensicherung werden inzwischen die Fingerabdrücke und die DNA von den Familienmitgliedern abnehmen.«

Das Geheimnis der Haushälterin

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