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Mein Start ins Leben

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Am 1. April 1954 erblickte ich um 2.40 Uhr in der Nacht im Offenbacher Stadtkrankenhaus das Licht der Welt. Aber es war ganz schön knapp. Bei der Geburt wickelte sich die Nabelschnur um meinen Hals, eine lebensbedrohliche Situation, zumal in den 1950er-Jahren, in denen Totgeburten keine Seltenheit waren. Die erste Herausforderung, noch bevor ich selbstständig atmen konnte. Glücklicherweise brachte ich meinen Kopf rechtzeitig nach draußen, die Schnur konnte entwirrt werden, bevor die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten war. Der Zwischenfall hinterließ keine Spuren, aber er stellte die Weichen für mein weiteres Leben, in dem ich mich immer wieder herausfordernden Situationen würde stellen müssen.

Was meine Mutter in diesem Moment im Krankenhaus wohl fühlte und dachte? Sie war damals gerade mal 21 Jahre alt, ich war ihr erstes Kind. Ihr Geburtsname lautete Renate Weller. Sie hatte nach der Schule eine Weile bei der Stadt Offenbach als Telefonistin gearbeitet, bis sie meinen Vater, Heinz Kaster, kennenlernte, den sie mit 20 Jahren recht unspektakulär in sehr kleinem Kreis heiratete. Beide wohnten in einer winzigen Wohnung in Offenbach-Bürgel. Ich war nicht gerade ein Wunschkind; wenige Tage nach der Geburt gaben meine Eltern mich zu meinen Großeltern mütterlicherseits und schon im Sommer darauf verließen beide Offenbach und zogen nach Herne. Ich blieb in Offenbach. Mein Vater verschwand danach völlig aus meinem Leben. Ich sah ihn 42 Jahre lang nicht mehr.

Es gibt bessere Starts ins Leben.

Mein abwesender Vater

Ich habe mich immer gefragt, was mein Vater für ein Mensch war, wie er es mit sich vereinbarte, dass er zu seinem eigenen Kind den Kontakt abreißen ließ. Dabei lebte er viele Jahre räumlich nur wenige Kilometer von mir entfernt. Die Erklärungen, die er mir sehr viel später, als wir uns endlich kennenlernten, anbot, konnten mich nicht zufriedenstellen. Es gab in meiner Kindheit zwar den einen oder anderen Annäherungsversuch, doch meine Mutter wollte auch nicht, dass es zu einer intensiveren Beziehung kam. Sie hielt meinen Vater für einen Trinker, sah in ihm keinen guten Umgang für mich, wie sie mir später erzählte. Immerhin trug ich beinahe 19 Jahre lang seinen Namen. Bis 1973 hieß ich Dieter Kaster, dann erst nahm ich den Nachnamen meines neuen Stiefvaters Alfred Müller an.

Kurioserweise erfuhr ich erst vier Jahrzehnte später, dass mein leiblicher Vater ebenfalls Fußballspieler gewesen war. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war er 25 Jahre alt und spielte für Eintracht Frankfurt als rechter Außenverteidiger. Man nannte ihn „Knorze“, was wohl seinem strammen Schuss geschuldet war. Er schaffte es sogar einmal zu einem Nationalmannschaftslehrgang unter Sepp Herberger. Der kicker schrieb damals, dass er sich „außerhalb des Spielfeldes nicht der strengen Mannschaftsräson unterwerfen“ wollte. Meinem Vater fehlte es offensichtlich an Disziplin, nicht nur in Bezug auf seine väterlichen Pflichten.

Nach dem Krieg hatte er zunächst zwei Jahre für die Offenbacher Kickers gespielt, war dann für eine Saison zum FC St. Pauli gewechselt, um sich 1949 der Frankfurter Eintracht als Vertragsspieler anzuschließen. Keine Frage also, woher ich mein fußballerisches Talent hatte. Dafür war mein Vater verantwortlich. Mehr konnte und wollte er mir nicht mit auf den Weg geben.

In seiner letzten Saison in Frankfurt spielte Heinz Kaster keine große Rolle mehr. In der Spielzeit 1953/54 kam er lediglich auf einen Einsatz. Auch bei der Endrunde um die Deutsche Fußballmeisterschaft, für die sich Frankfurt als Oberliga-Zweiter der Gruppe Süd qualifiziert hatte – die Oberliga war damals die höchste Liga –, spielte er nicht. Die Eintracht verlor dort unglücklich gegen Köln und Kaiserslautern. Ohne meinen Vater. Aufgrund der schlechten sportlichen Perspektive in Frankfurt entschloss er sich, zur neuen Saison zu Westfalia Herne, Aufsteiger in die Oberliga West, zu wechseln. Meine Mutter begleitete ihn und ließ mich, wie gesagt, bei meinen Großeltern Heinrich und Else zurück. Direkt nach meiner Geburt im April 1954. Dabei startete die neue Saison doch erst im September …

Im ersten Spiel am 22. September 1954 gab es gleich eine 1:7-Niederlage bei Preußen Münster. Mein Vater stand in der Startelf. Es sollte sein erstes und letztes Spiel für Herne sein. Bereits 1955 kam er wieder zurück ins Rhein-Main-Gebiet. Auch meine Mutter kehrte zurück, doch beide waren kein Paar mehr. Sie hatten sich nach nur einem Jahr getrennt, die Ehe hatte nur zwei Jahre gehalten.

Seltsamerweise fragte ich nie bei meiner Mutter nach, jedenfalls nicht beharrlich genug, wie das alles war in den ersten Jahren nach meiner Geburt, warum mein Vater mich nie besuchen kam, wer er eigentlich war, weshalb sie beide mich nicht nach Herne mitnahmen, warum sie sich so schnell trennten. Allzu leicht gab ich mich mit ihren Ausflüchten und Ausweichmanövern zufrieden. Sie wollte diese Episode ihres Lebens wohl unter allen Umständen vergessen, verdrängen. Fragen dazu wehrte sie rigoros ab. Vermutlich scheute auch ich mich davor, die wahren Beweggründe zu hören, weil ich fürchtete, dadurch erneut verletzt zu werden.

Bei Oma und Opa in Offenbach

Fakt war, dass ich wenige Tage nach meiner Geburt ohne meine Eltern in die Wohnung meiner Großeltern kam und dort die ersten zehn Jahre meines Lebens verbrachte. Wir wohnten in einem Wohnblock im Stadtzentrum von Offenbach, direkt an den Bahngleisen, genau gegenüber der Station Offenbach-Ost. Annastraße 18, so lautete die Adresse. Die Bieberer Straße, die schnurgerade hoch zum Stadion führte, lag um die Ecke. Von unserer Wohnung aus konnten wir hinter den Gleisen das riesige grüne Areal des Alten Friedhofs erahnen. Der Block, 1950 gebaut, war einer dieser typischen kleinbürgerlichen Mietshäuser, die nach dem Krieg überall hochgezogen wurden, um den vielen Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu geben. Zusammen mit drei weiteren Blocks bildeten die Häuser eine Kolonie, eine kleine Welt für sich. Auf den Rasenflächen zwischen den Gebäuden trockneten die Bewohner im Sommer ihre Wäsche.

In unserem Block gab es vier Hauseingänge. Wir wohnten ganz vorne, direkt gegenüber den Bahnschienen. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock links. Insgesamt hatte die Wohnung 50 Quadratmeter. Das reichte für eine ganze Familie. Wenn man eintrat, befand sich links ein kleines Duschbad mit Toilette. Geradeaus ging es in den wichtigsten Raum der Wohnung, die Küche. Dort spielte sich das Familienleben ab. In der Küche gab es eine kleine Nische, in der eine kleine Couch stand. Diese Nische war durch einen Vorhang vom Rest der Küche abgetrennt. Das hatte einen Grund, denn die Couch wurde abends ausgeklappt. Dort verbrachte die kleine Schwester meiner Mutter, meine Tante Annemarie, die nur sieben Jahre älter war als ich, ihre Nächte. Tante Annemarie wurde für mich zur wichtigsten Bezugsperson, wir entwickelten ein sehr enges Verhältnis, das sich bis heute wie ein Bruder-Schwester-Verhältnis anfühlt. Von Eifersucht war bei ihr keine Spur, sie liebte mich abgöttisch. Und das tat mir gut. Sie brachte mich zum Kindergarten, sie schaute nach mir, wenn es mal wieder zu spät wurde, weil ich mit den anderen Kindern bolzte, oder ging dazwischen, wenn es zu Streitigkeiten kam. Als Baby schlief ich mit Opa und Oma im kleinen Schlafzimmer, das, wie das Wohnzimmer, vom Flur abging. Ich hatte kein eigenes Bett, dafür gab es keinen Platz, ich lag also die ersten Jahre sozusagen in der „Besucherritze“. Später kam es auch vor, dass ich auf der Couch im Wohnzimmer schlief. Tagsüber hielt ich mich meist in der Küche auf. Es gab dort einen Ofen, den Herd, Tisch, Bank und Stühle sowie eine kleine Speisekammer. Ich liebte diesen Ort. Er roch immer lecker nach Essen und war auch im Winter den ganzen Tag über warm. Das kleine Wohnzimmer hingegen wurde in den kalten Monaten höchstens am Abend oder am Wochenende geheizt.

Meine Großeltern, die nie Aufhebens davon machten, dass sie mich großzogen, akzeptierten, dass ihre Tochter mich bei ihnen zurückgelassen hatte. Sie versuchten, das Beste aus unseren bescheidenen Verhältnissen zu machen. Nach heutigen Maßstäben waren es unzumutbare Zustände. Meine Großeltern hatten keinerlei Privatsphäre. Dabei waren sie nicht alt, bei meiner Geburt gerade mal 50 Jahre. Heute hat man mit 50 noch eine sehr aktive Paarbeziehung, damals war das kein Thema. Es gab andere Sorgen. Man musste für die Familie sorgen. Das Überleben sichern. Meine Großeltern widmeten sich dieser Aufgabe mit Hingabe, der Alltag nahm sie voll und ganz in Anspruch.

Oma Else sorgte für mich wie eine Mutter. Sie war klein, ein wenig korpulent, aber mit einer unglaublichen Energie. Sie war die gute Seele in der Wohnung, kümmerte sich um alle und alles. Zu Hause trug sie meist eine Küchenschürze, mal blau, mal grün. Oma war Hausfrau mit Leib und Seele. Sie machte sauber, kochte, wusch und kaufte ein.

Opa Heinrich hatte nach dem Krieg eine Anstellung als Sachbearbeiter beim Ausgleichsamt im Offenbacher Rathaus gefunden. Mit seinen kurz geschnittenen Haaren, die auch über den Ohren rasiert waren, seinem dünnen Schnauzer und dem grauen, abgetragenen Anzug sah er recht bieder und streng aus. Aber ich hatte zu ihm eine sehr enge Beziehung. Als ich später Fußballprofi wurde, sammelte Opa gewissenhaft alle Berichte und Fotos, die ihm in die Hände fielen, und bastelte Alben daraus. Er war unglaublich stolz auf mich.

So traurig es rückblickend für mich war, dass meine Eltern nach Herne gingen und mich zurückließen – für meine Großeltern war es ein Glücksfall. Ich war der Sonnenschein, der die dunklen Wolken aus ihrem Leben vertrieb. Meine Großeltern hatten schlimme Nachkriegsjahre hinter sich und das hatte vor allem mit der düsteren Vergangenheit meines Opas zu tun. Mit mir als ihrem neuen Lebensinhalt trat die Vergangenheit ein Stück weit zurück. Sie stürzten sich regelrecht auf mich.

Für mich ist es nach wie vor unvorstellbar, dass mein Opa anderen Menschen Schlimmes angetan hat. Aufgrund seiner Stellung und Arbeit während des Krieges ist das aber mehr als wahrscheinlich. Ich kriege das immer noch nicht zusammen. Wie kann ein liebevoller, bescheidener und freundlicher Mensch wie mein Großvater zu Gräueltaten fähig sein wie so viele andere während des Hitlerregimes auch? Eine Frage, die später eine ganze Generation beschäftigen sollte. Mein Opa war Nazi, das war leider so. Wenn ich als Kind seine eintätowierte Blutgruppenbezeichnung auf dem Oberarm sah, war das für mich nur eine Verzierung. Erst später lernte ich, dass Mitglieder der SS diese Tätowierung trugen.

Wie in vielen anderen Familien legte sich auch bei uns eine Glocke der Sprachlosigkeit über die Kriegszeit. Ich erfuhr nie von meinen Großeltern, was Opa tatsächlich im Krieg gemacht hatte. Vor dem Krieg war er bei der Offenbacher Kriminalpolizei gewesen. Schon sein Vater, also mein Urgroßvater, war Polizist gewesen. Sein Revier war die Mathildenstraße, Ecke Bieberer Straße, dort, wo es noch heute eine Polizeidienststelle gibt. Nach Hitlers Machtübernahme trat Opa Heinrich in die NSDAP ein und mit Ausbruch des Krieges wurde er immer häufiger nach Berlin zum Reichssicherheitshauptamt abkommandiert, dessen Leiter der brutale Reinhard Heydrich war, unter anderem einer der Hauptverantwortlichen des Holocaust. Das Amt war mit 3000 Beschäftigten die zentrale Behörde, die den größten Teil der deutschen Repressionsorgane unter Hitler leitete. Mein Opa war also regelmäßig an der Quelle des Bösen. Später reiste er auch öfter nach Prag, wo sein Chef Heydrich als stellvertretender Reichsprotektor Böhmen und Mähren Hof hielt. Vor allem in Gesprächen mit meiner Tante Annemarie wurde mir als Erwachsener nach und nach klar, wie sehr mein Großvater in das Hitlerregime verstrickt gewesen war. Nach dem Krieg, als die US-Amerikaner durch Hessen marschierten, floh Opa zusammen mit Oma, meiner damals zwölfjährigen Mutter und einem Halbbruder, den meine Oma aus einer ersten Ehe mitgebracht hatte, in Richtung Süden. In der Nähe von Rosenheim wurden sie jedoch gestellt. Opa kam in ein Entnazifizierungslager im Rhein-Main-Gebiet. Später wurde er von den Behörden als Mitläufer eingestuft und durfte zu seiner Familie zurückkehren.

Doch mit welcher Perspektive? Die Familie litt existenzielle Nöte und das war eine große Umstellung, denn ihr war es zuvor immer sehr gut gegangen. Meine Oma, so erfuhr ich später, kam als Fabrikantentochter aus gutem Hause und nicht zuletzt dank der Stellung meines Opas bei der Polizei lebte die Familie all die Jahre frei von materiellen Sorgen. Das war nun vorbei. Die Familie kam zunächst in einem Zimmer bei Verwandten am Offenbacher Waldpark, in der Nähe des Stadions, unter, bis man eine kleine Wohnung in der Nähe des Wilhelmplatzes im Stadtzentrum fand. 1947 kam meine Tante Annemarie zur Welt und vergrößerte die Familie. Das machte die Sorgen nicht kleiner. Mein Opa fing an, auf dem Bau zu arbeiten. Er war so eine Art Gelegenheitsarbeiter oder Tagelöhner. Die Rückkehr in den Polizeidienst war ihm versperrt. Nun verließ er früh das Haus, wartete auf Auftraggeber, die seine Dienste tageweise bezahlten, und kam am Abend müde nach Hause. Meine Mutter litt in dieser Zeit als Teenager wohl besonders. Sie kam mit den ärmlichen Verhältnissen gar nicht zurecht und sehnte sich nach den guten alten Zeiten zurück.

Ich stelle mir vor, wie meine Familie nach dem Krieg zusehen musste, wie sie mit den neuen Verhältnissen klarkam. Die belastende Vergangenheit meines Großvaters, das fehlende Geld, die beengten Wohnverhältnisse, das Schweigen, all das, so denke ich, sorgte dafür, dass auf dem Haushalt eine gewisse Schwere lag.

Mit meiner Ankunft sollte sich das ändern. Ich war für sie wie ein neues Lebenselixier.

Meine Mutter taucht wieder auf

1955, etwa ein Jahr nach meiner Geburt, kam meine Mutter zurück nach Offenbach.

Dort sah es damals wie überall in Deutschland aus. Alles war im Wiederaufbau begriffen. Offenbach war im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Luftangriffe zu 36 Prozent zerstört worden. Besonders in der Alt- und Weststadt war kein Stein auf dem anderen geblieben. Die öffentlichen Gebäude waren allesamt hinüber und mussten wiederaufgebaut werden. Genauso wie Wohnungshäuser, Straßen, Kanalisation, Versorgungsleitungen oder Krankenhäuser. Die Stadt erhielt ein völlig neues Bild. Aus den Trümmern der idyllischen Altstadtgassen wuchs keine sehr schöne, aber immerhin eine moderne Stadt. Die in Offenbach ansässige Lederindustrie zog viele Menschen an. 1954, wenige Monate nach meiner Geburt, hatte Offenbach erstmals 100 000 Einwohner. Auch auf dem Bieberer Berg, dort, wo 1921 ein Stadion gebaut worden war, legte man Hand an. Die alte Holztribüne hatte lediglich Platz für 1200 Zuschauer. So wurde 1952 auf der Gegenseite eine neue überdachte Stehtribüne gebaut, 1956 erhielt das Stadion seine erste Flutlichtanlage und 1960 entstand die Haupttribüne neu. Auf den Straßen Offenbachs startete in den 50er-Jahren wie überall in Deutschland der Siegeszug des Autos. 1957 bekam Offenbach seine erste Straßenampel, und zwar an der Kreuzung Kaiserstraße/Bernhardstraße am Büsingpark, keine zwei Kilometer von unserer damaligen Wohnung entfernt. Wir besaßen allerdings kein Auto. Das konnten sich meine Großeltern nicht leisten.

1955 war meine Mutter also plötzlich wieder in Offenbach. Ihre Ehe mit Heinz Kaster war in die Brüche gegangen und sie zog bei uns ein. Wohin? Gute Frage, wenn in einer 50-Quadratmeter-Wohnung bereits vier Personen leben. Aber es gab ja noch das Wohnzimmer. Das machte sie zu ihrem Reich. Mutter fing wieder an, als Telefonistin zu arbeiten, diesmal beim Fernmeldeamt in Frankfurt. Parallel dazu kümmerte sie sich um die Scheidung. Der Anwalt, den sie mit dieser Angelegenheit beauftragte, war ein wohlhabender unverheirateter Mann. Die beiden wurden ein Paar. Meine Mutter war eine attraktive Frau. Sie hatte hübsche schwarze Haare, eine schlanke Figur und legte sehr viel Wert auf ihre Kleidung. Die Männer drehten sich auf der Straße nach ihr um. Der Anwalt kam in dieser Zeit öfters zu uns nach Hause, was ich als Kleinkind noch nicht so mitbekam. Auch weil meine Mutter sich regelmäßig ins Wohnzimmer zurückzog. Sie schloss die Tür ab und keiner durfte hinein. Meine Großeltern akzeptierten das.

Für mich hatte sie nach ihrer Rückkehr nur wenig Zeit. Sie war mit ihrer Arbeit beschäftigt, dazu mit der Scheidung und nicht zuletzt mit ihrer neuen Beziehung. Für mich lief eigentlich alles so weiter wie bisher. Annemarie und Oma Else blieben meine zentralen Bezugspersonen. Vor allem von meiner Oma bekam ich die Sicherheit und Geborgenheit, die ich brauchte. Statt mit meiner Mutter schmuste und kuschelte ich mit ihr. Babys und Kinder benötigen vertraute und verlässliche Personen, die Bindungserfahrungen der ersten Jahre können durch nichts ersetzt werden. Deshalb bin ich sehr glücklich, dass ich meine Großeltern und Annemarie hatte. Aber die Rolle von Mutter und Vater konnten sie natürlich nicht zu 100 Prozent übernehmen.

Obwohl mein Vater nach seinem Intermezzo in Herne wieder in Offenbach lebte, tauchte er in meinem Leben nicht mehr auf. Laut Wikipedia spielte er noch für den KSV Urberach, einen kleinen Verein in der Nähe, und trainierte später Germania Bieber, einen Klub, der nicht weit vom Stadion der Kickers entfernt seine Heimstatt hatte. Tatsächlich gab es keinerlei Kontakt. Meiner Mutter war das nur recht. Sie wollte die Episode mit dem „Fußballer“ so schnell wie möglich vergessen und nicht mehr über ihn reden. Und wenn sie es doch tat, dann fiel ihr nur Schlechtes ein.

Sie hatte jetzt ihren Anwalt, mit dem sie sich in die nächste Ehe stürzte. Auch an diesem neuen Leben meiner Mutter durfte ich nicht teilnehmen. Der neue Mann wusste von mir, hatte mich ja des Öfteren bei uns in der Annastraße gesehen, wenn er meine Mutter besuchte. Aber vor seiner Familie wurde meine Existenz totgeschwiegen. Er lebte in Bad Nauheim zusammen mit seinen Eltern in einem herrschaftlichen Haus. Die Familie war angesehen und gut betucht. Nach der Heirat sollte meine Mutter dort einziehen. Ich habe das Haus nie gesehen. Auch bei der Hochzeit war ich nicht dabei. Meine Mutter entschied, dass ihr Kind aus erster Ehe hier nichts zu suchen hatte. Ich sah sie nur gelegentlich, wenn sie aus Bad Nauheim zu Besuch in Offenbach war.

Annemarie dagegen wurde des Öfteren nach Bad Nauheim eingeladen, wobei sie sich dort alles andere als wohl fühlte. Anders als bei uns in Offenbach ging es in Bad Nauheim sehr steif und förmlich zu. Jedes Mal, bevor sie dorthin fuhr, wurde sie ausführlich „gebrieft“. Sie durfte auf keinen Fall erzählen, dass es in Offenbach noch den kleinen Dieter gab, der auf seine Mutter wartete.

Fußball, Elvis, Eiscafé

Mittlerweile schrieben wir das Jahr 1957, ich kam in den Kindergarten.

Einmal in der Woche, immer am Samstag, war Badezeit für Annemarie und mich. Das Wasser wurde in Kochtöpfen erhitzt und in die Emaillebadewanne geschüttet. Und auch Oma und Opa sprangen manchmal hinein. Das Wasser wurde natürlich nicht gewechselt, es musste ja an Öl fürs Heizen gespart werden. Auch das, was Oma Else auf den Tisch brachte, war einfach und kostensparend. Es gab viel Gemüse – Kartoffeln, Kohlrabi oder Karotten –, auch mal Gulasch oder Eisbein mit Sauerkraut. Opa kam mittags immer von der Arbeit zum Essen nach Hause, um Geld zu sparen. Kurz vor dem Hauseingang pfiff er sehr laut zum Küchenfenster hoch, sodass Oma wusste, dass nun das Essen aufgetischt werden musste. Mein Lieblingsessen war Hackbraten. Ab und an gingen wir in eine Gaststätte in der Nähe. Da gab es für alle immer ein halbes Hähnchen. Dazu putzte sich mein Großvater stets fein raus, zog seinen zweiten Anzug an, den er nur für besondere Anlässe aus dem Schrank holte. Es war für mich das Schönste, wenn Oma, Opa, Annemarie und ich zusammen etwas unternahmen oder zu Hause vor dem Fernseher saßen. Anfang der 60er-Jahre konnten wir uns tatsächlich ein Loewe-Opta-Gerät leisten. Szenen von der WM 1962 aus Chile waren die ersten Fußballbilder im TV, an die ich mich noch erinnern kann.

Trotz der Abwesenheit meiner Eltern und der beengten und einfachen Verhältnisse war es eine glückliche Zeit für mich.

Ich war ein zurückhaltendes und braves Kind, meine Großeltern hatten es nicht schwer mit mir. Tante Annemarie war da schon anders. Opa Heinrich schimpfte oft mit ihr. Sie büxte als kleines Mädchen oft aus. Unsere Haustür hatte quadratische Glasscheiben und eine von den unteren konnte man aufklappen – durch die verschwand sie regelmäßig. Ich bewunderte sie dafür, denn ich traute mich so was nicht. Ich hatte sehr großen Respekt vor meinen Großeltern und machte nur selten Dummheiten. Ich spürte als Kind, dass ich auf beide angewiesen war, mehr als auf jeden anderen in der Welt. Ich wollte es mir mit ihnen nicht verscherzen.

Ich besaß kein eigenes Zimmer, meine Spielsachen waren überschaubar. Andere Kinder kamen nie zu mir, das war nicht vorgesehen. Vieles spielte sich deshalb draußen ab. Auf der anderen Straßenseite von unserem Haus gab es einen kleinen Park, eigentlich ein sandiger Platz zwischen Bäumen, um den einige Parkbänke standen. Wir nutzten ihn zum Fußballspielen. Noch heute gibt es diesen Bolzplatz, jetzt eingezäunt und mit richtigen Toren, aber Kinder kicken dort nur noch selten. Die Zeiten haben sich geändert. Für mich gab es damals, vor 60 Jahren, nur eines: raus und Fußballspielen. Ich hatte mich mit einem drei Jahre älteren Jungen angefreundet. Er hieß Rainer und wohnte in der 12, drei Eingänge weiter. Trotz des Altersunterschiedes verbrachten wir viele, viele Nachmittage vor dem Haus, streunten umher, spielten Nachlaufen, kickten auf dem Rasen oder schossen den Ball abwechselnd stundenlang gegen eine Mauer vor unserem Haus. Bis heute sind wir Freunde und treffen uns ab und zu, um über die alten Tage zu reden.

Ich war vier Jahre alt, als ich das Fußballspielen für mich entdeckte. Ab da war ich fast jeden Tag draußen. Aber zum Spielen brauchten wir einen Ball und das war ein Problem. Erst mit neun Jahren bekam ich von meinem Großvater einen Lederball geschenkt. Bis dahin waren wir auf Helmut angewiesen. Er war der einzige, der einen richtigen Ball hatte. Wenn Helmut nicht da war, wurde es schwierig. Oft klingelten wir bei ihm an der Haustür, einen Block weiter, um zu fragen, wann er endlich rauskomme. Manchmal gab er uns den Ball mit und wir brachten ihn später zurück. Mit Helmuts Lederball machte das Kicken gleich viel mehr Spaß. Es gab zwar den einen oder anderen Gummi- oder Plastikball in der Siedlung, aber das war natürlich nicht das Gleiche. Ich erinnere mich an endlose Augenblicke, die ich unten wartete, bis endlich andere Kinder kamen. Ich lief herum, allein oder mit Rainer, auf der Suche nach Spielkameraden. Wenn niemand da war, mussten wir uns was ausdenken, zum Beispiel Mauerschießen. Manchmal war ich ganz allein und dann wurde es richtig langweilig. Eine Langeweile, die die Kinder von heute gar nicht mehr kennen. Damals gehörte das dazu, wir hatten endlos Zeit. Es gab keine Nachhilfe, keine Events, ich wurde weder zum Klavier- oder Englischunterricht chauffiert noch zu meinen Freunden. Man musste sich mit sich selbst beschäftigen und sich die Zeit vertreiben. Und dann gab es noch den Faktor Wetter. Wie ich damals den Regen hasste! Wenn es schüttete, wollte Oma Else nämlich nicht, dass ich rausging. Ich saß dann stundenlang am Fenster und schaute hinaus, ob der Regen vielleicht etwas nachlassen würde. Ich war tatsächlich fußballverrückt. Ich erinnere mich gut daran, wie Opa Heinrich schimpfte, wenn ich mit meinen guten Schuhen, die ich für die Schule brauchte, Fußball spielte. Dann pfiff er mich hoch, die Schuhe zu wechseln, was ich immer ziemlich peinlich fand, denn die anderen mussten das Spiel unterbrechen und auf mich warten.

Unsere Tore waren zwei gegenüberliegende Bänke. Keine Chance für die Anwohner, sich dort auszuruhen, ein Buch oder die Zeitung zu lesen. Das war unser Revier. Ich liebte diese Welt. So lieb und brav ich zu Hause war, so wild und draufgängerisch war ich beim Fußball. Mal spielte ich mit Älteren, mal mit Jüngeren. Das Wichtigste war für mich jedes Mal, Tore zu schießen. Dieser Moment, wenn ich für meine Mannschaft etwas leistete und dafür Anerkennung bekam, brannte sich mir ein. Ich glaube, ich bin in jenen Tagen in der Annastraße richtig süchtig danach geworden. Es ging ab da immer nur darum, Tore zu erzielen. Mit sechs war ich so flink und dribbelstark, dass mich die anderen Jungs irgendwann „Didi“ tauften. Der brasilianische Star war zwei Jahre zuvor zum besten Fußballer des Weltmeisterschaftsturniers in Schweden gewählt worden, wo er unter anderem mit Pelé und Vavá den WM-Titel gewonnen hatte. 1959 wechselte er zu Europapokalsieger Real Madrid. Seine Technik war legendär. Didi perfektionierte den Schuss mit dem Außenrist, mit dem er ein ums andere Mal die Torhüter düpierte. Mir gefiel mein neuer Name, er spornte mich an und natürlich probierte ich wie die anderen auch, mit dem Außenrist zu schießen. Das war schwerer als gedacht.

In einen Verein einzutreten, stand damals nicht zur Debatte. Ich erinnere mich schwach, dass Opa Heinrich Anfang der 60er-Jahre bisweilen mit mir hoch ins Stadion am Bieberer Berg zu den Kickers ging. Aber die Erinnerungen daran sind verblasst. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis das Trainings- und Stadiongelände auf dem Bieberer Berg zu einem wichtigen Teil meines Lebens wurde.

In der Schule brillierte ich nicht gerade. Ich besuchte die Mathildenschule etwa 15 Gehminuten von uns entfernt. Aber der Unterricht interessierte mich nicht sehr. Statt Hausaufgaben zu machen oder für Mathe und Deutsch zu lernen, spielte ich lieber draußen mit den anderen Kindern. Ich mochte die Schule wirklich nicht und kann mich auch nicht besonders gut an diese Zeit erinnern. Ich weiß nur, dass später, als ich elf oder zwölf Jahre alt war, ein Lehrer namens Koch meine bescheidenen Leistungen mit den Worten kommentierte: „Na, Kaster, wieder mal zu viele Kopfbälle gemacht …?“

Anders als die Schule wurde das Kino zu meiner zweiten großen Leidenschaft. Tante Paula, eigentlich meine Großtante – sie war die Schwester meiner Oma – nahm mich regelmäßig mit. Der Saal bei uns in der Nähe hieß „Atlantik“ und gehörte einem gewissen Kurt Schreiner. Er sollte als einer meiner späteren Jugendtrainer bei Kickers Offenbach sehr wichtig für mich werden. Schreiner war nach dem Krieg einer der herausragenden Spieler des OFC gewesen. Er war Teil jener Mannschaft, die 1950 im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft dem VfB Stuttgart vor 100 000 Zuschauern in Berlin unterlag. Zwischen 1946 und 1948 spielte er sogar mit meinem Vater in Offenbach zusammen. Das wusste ich damals natürlich nicht, als ich ins Atlantik ging, um Filme wie Fuzzy, der Revolverheld oder Die Brücke am Kwai zu sehen.

Zu dieser Zeit, Ende der 50er-Jahre, war auch Elvis Presley sehr präsent. Das große Musikidol wohnte zwischen Oktober 1958 und Anfang 1960 in Bad Nauheim, um in Friedberg seinen Wehrdienst abzuleisten. Ich war zwar gerade mal fünf, sechs Jahre alt, aber ich bekam bereits mit, was für eine große Fangemeinde Elvis hatte. Die älteren Jungs aus unserer Straße fuhren zwei Stunden mit dem Fahrrad nach Bad Nauheim, wo er täglich Hof hielt und eine abendliche Autogrammstunde gab. Einmal zeigte uns ein Nachbarsjunge mit stolzer Brust sein Autogramm vom „King of Rock ’n’ Roll“. Das war Gesprächsthema für Tage! Als das Lied Muss i denn zum Städtele hinaus ein Hit wurde und aller Welt auf den Lippen lag, musste ich immer an diesen Jungen denken, der von Elvis persönlich ein Autogramm erhalten hatte. Ich beneidete ihn sehr und nahm mir vor, auch einmal nach Bad Nauheim zu fahren, falls der King noch einmal wiederkommen würde. Das tat er natürlich nicht.

Ein weiteres frühes Highlight, an das ich mich sehr gern zurückerinnere, waren unsere Ausflüge ins Café Wipra. Das war ein Eiscafé in der Frankfurter Innenstadt, das sich „Café der Tierfreunde“ nannte. Wenn man hineinging, wusste man, warum. Man war von Affen, Papageien, exotischen Fischen und Schlangen umgeben. Heute angesichts der hygienischen Auflagen und des Tierschutzes unvorstellbar, doch damals interessierte das niemanden und die Familien strömten scharenweise dorthin. Ich liebte es, zusammen mit Oma Else und Annemarie mit der Straßenbahnlinie 16 nach Frankfurt zu fahren, um dort ein Eis oder ein Stück Kuchen zu essen.

Neuer Wohlstand, neues Familienleben und der erste Verein

Mein Leben Anfang der 60er-Jahre spielte sich zwischen Schule, Bolzplatz und Wohnung ab. Bis zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter auf ihre große Liebe traf …

Bei einem ihrer Besuche bei uns in Offenbach lernte sie einen gewissen Alfred Müller kennen, einen erfolgreichen, stadtbekannten Bauunternehmer, ein stattlicher und eleganter Typ, immer im schnieken Anzug, meist kariert, und mit Einstecktuch. Er hatte aus den Nachkriegsverhältnissen seinen Profit geschlagen, überall musste ja gebaut werden, und in Offenbach besaß er beste Verbindungen, um an Aufträge zu kommen. Er fuhr einen glänzenden Mercedes 300 SE in Beige, was sich damals nur die wirklich Reichen leisten konnten, und wohnte in einer großen Villa in Königstein-Falkenstein, einem vornehmen Ort im Taunus. Sein Bauhof lag uns direkt gegenüber. Irgendwie müssen meine Mutter und er sich auf der Straße vor unserem Haus begegnet sein. Sie begannen jedenfalls eine Affäre, denn beide waren zu jenem Zeitpunkt noch verheiratet. Der Reichtum Müllers, der immerhin 24 Jahre älter war, hatte eine große Überzeugungskraft für meine Mutter, die Zeit ihres Lebens von materiellen Dingen angezogen war.

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion verließ sie 1962 ihren Anwalt und reichte die Scheidung ein. Nachdem sie Müller geheiratet hatte, durfte keiner erfahren, dass sie den Bund der Ehe glatte dreimal eingegangen war. Die Ehe mit dem Anwalt wurde unter den Teppich gekehrt.

Einmal nahm meine Mutter mich mit in Müllers Büro, das keine 50 Meter von zu Hause entfernt war. Ich war beeindruckt von seiner mächtigen Gestalt und brummigen Stimme. Und das Beste: Er hatte Schokoladenküsse für mich, was mich endgültig für ihn einnahm. Ich machte mich über sie her, als gebe es kein Morgen. Solche Leckereien gab es nicht eben oft.

Das Eheglück meiner Mutter mit Alfred Müller stand unter keinem guten Stern, denn als Müller sich von seiner Frau trennte, erhängte diese sich in ihrem gemeinsamen Haus in Falkenstein. Deshalb beschloss Müller, in Götzenhain, 15 Kilometer südlich von Offenbach, ein neues Haus zu bauen. 1964 war es endlich fertig, meine Mutter zog mit Müller nach Götzenhain – und diesmal nahm sie mich mit! Mein neuer Stiefvater hatte bereits einen Sohn aus erster Ehe, doch der hatte wegen des Selbstmords der Mutter jeglichen Kontakt zu seinem Vater abgebrochen. Müller enterbte ihn kurzerhand und schien froh zu sein, wieder einen Sohn im Haus zu haben.

Nach zehn Jahren erlebte ich also zum ersten Mal so etwas wie Familienleben: Vater, Mutter, Kind. Müller mochte mich und auch ich konnte ihn gut leiden, obwohl er sehr streng, fast brutal werden konnte. Als Zehnjähriger erlebte ich zum ersten Mal, was Alkoholkonsum für Folgen haben kann. Müller trank gern und viel. Ich registrierte sehr genau, wie er sich unter Alkoholeinfluss veränderte. Hatte er ein paar Bier intus, gingen die Emotionen mit ihm durch, dann wurde er sentimental, cholerisch, aggressiv. Einmal stützte ich unbedachtsamerweise meine Ellenbogen bei Tisch auf, da schlug er mir mit einer Bierflasche auf den Ellenbogenknochen, dass ich vor Schmerz nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Wenn er getrunken hatte, wurde er unberechenbar.

Für mich begann mit dem Umzug nach Götzenhain 1964 ein völlig neues Leben. Wir waren plötzlich reich und ich kam aus dem Staunen darüber, was es alles in der Welt gab, nicht mehr heraus. Die engen und bescheidenen Verhältnisse in Offenbach waren auf einen Schlag passé. Mussten wir bei meinen Großeltern sparen, wo es nur ging, konnten wir uns nun alles leisten. Das Haus in Götzenhain hatte über 250 Quadratmeter und acht Zimmer, war luxuriös ausgestattet mit allem, was man sich nur wünschen konnte, zum Beispiel einer Badewanne, dreimal so groß wie die in Offenbach. Es gab außerdem einen großen Garten, eine Garage und zu allem Überfluss ein eigenes Schwimmbad. Man muss sich das mal vorstellen: In Offenbach lebten wir zu viert, zeitweise zu fünft in einer 50-Quadratmeter-Wohnung und nun ein eigenes Schwimmbad! Kaum eingezogen, ging es auch schon in den Sommerurlaub. Sommerurlaub? Auch das hatte es für mich noch nie zuvor gegeben. Mein Stiefvater hatte 1964 in Altea, in der Nähe von Alicante, ein großes Ferienhaus gebaut. Im Luxus-Mercedes meines Stiefvaters brausten wir die 1900 Kilometer hinunter an die spanische Küste. Das erste Mal im Süden! Ich konnte es kaum glauben. Es war das erste von unzähligen Malen, dass ich dort meine Sommerferien verbrachte. Das Haus gibt es bis heute.

Die Fahrt im Auto dauerte damals zwei Tage. Eine Weltreise. In Lyon stiegen wir im Grandhotel ab, für meinen Stiefvater nur das Beste. Für mich zehnjährigen Buben, der bis dahin das Café Wipra in Frankfurt für den Nabel der Welt gehalten hatte, war das alles schwer fassbar. Im Hotel standen livrierte Pagen parat, die uns das Gepäck abnahmen; schwere Teppiche schluckten alle Geräusche. Fliesen, Kronleuchter, Sessel: Ich kam mir vor wie im Film. In unserem Zimmer stand das größte und schönste Bett, das ich jemals gesehen hatte. Jauchzend sprang ich in die kuscheligen Bezüge und versank in einer weichen, äußerst wohlriechenden Matratze. Mein Stiefvater kam auf mich zu und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. „Benimm dich. Man wirft sich nicht aufs Bett.“

Das war ein Schock für mich. Ich war noch nie geschlagen worden, geschweige denn ins Gesicht.

Manchmal sperrte Müller mich als erzieherische Maßnahme ins Zimmer ein. Meine Mutter duldete es stillschweigend. Mit den Jahren lernte ich, damit umzugehen; ich wusste, wann ich in seiner Gegenwart aufpassen musste. Müller hatte zwei Gesichter: Unter Alkoholeinfluss war er manchmal grob und gewalttätig, aber wenn er nicht getrunken hatte, war er ein fürsorglicher Stiefvater und brachte mir seine geballte Aufmerksamkeit entgegen. So meldete er mich 1964, direkt nach unserem Sommerurlaub, bei der SG Götzenhain in der D-Jugend an. Ich vermisste meine Freunde in der Annastraße, aber mein Stiefvater meinte: „Ein Junge, der so kicken kann wie du, gehört in einen Verein.“ Er kaufte mir richtige Fußballschuhe und fuhr mich zum Sportplatz des ansässigen Klubs draußen an den Schienen, mitten in der Feldmark. Das war ein kleiner Dorfverein, der nur über einen schlechten Rasenplatz verfügte. Es gab eine kleine Baracke, in der man sich umzog. Die Kabinen waren so klein, dass kaum eine Mannschaft reinpasste. Eine Tribüne gab es nicht. Wozu auch? Die erste Mannschaft spielte meist in den Niederungen der Kreisliga.

Ich fand es trotzdem großartig, in einem Trikot mit anderen Jungs auf dem Platz zu stehen. Mein Jugendtrainer wollte mich aufgrund meiner Statur in die Abwehr stecken, aber ich sagte nur: „Am allerbesten kann ich Tore schießen.“ Ich bekam meinen Willen und traf auch gleich zweimal, in meinem allerersten Spiel und dem ersten der Saison. Es sollte so weitergehen. Ich schlug ein. Von diesem ersten Spiel an traf ich regelmäßig. Nicht unter die Steinbänke wie ehedem in unserem Park in Offenbach, sondern in richtige Tore, für meine Mannschaft! Und das Schönste daran war: Mein Stiefvater war bei fast jedem Spiel dabei. Zu den Auswärtsfahrten, wenn es nach Langen, Egelsbach oder Dreieichenhain ging, fuhr er mich. Es machte ihm offensichtlich Spaß, mir zuzuschauen. Das fand ich großartig. Ich hatte plötzlich einen Vater, der sich für mich interessierte und meine Leidenschaft unterstützte. Ich entwickelte so etwas wie ehrliche Vatergefühle, etwas völlig Neues für mich. Wenn wir von einem Spiel kamen, lobte er mich vor meiner Mutter überschwänglich.

Und sie? Das, was ich machte, interessierte sie einfach nicht. Sie weigerte sich, meine Fußballsachen zu waschen. Das übernahm meine Oma in Offenbach, mein Stiefvater fuhr die Fußballklamotten hin und her. In dieser Zeit wurde meine Mutter auch wieder schwanger. 1966 kam meine Halbschwester Stefanie zur Welt. Ich fand es toll, eine Schwester zu haben, und war kein bisschen eifersüchtig. Meine Mutter kümmerte sich so gut es ging um das Baby. Sie war zwar recht schnell mit ihrer Geduld am Ende, aber ich erinnere mich, dass es auch viele Momente gab, in denen sie als Mama sehr glücklich wirkte, und das mochte ich. Zu Steffi hatte ich von Anfang an ein inniges Verhältnis, auch wenn Ende der 60er-Jahre der Fußball immer mehr in den Vordergrund rückte.

Ich wurde bei der SG Götzenhain besser und besser. Mal traf ich fünfmal, mal dreimal, gegen Langen – mein Rekordspiel – einmal sogar zwölfmal. Mein Torhunger war nicht zu stillen. Es ging nur darum, den Ball im Netz zappeln zu sehen. Wenn ich mal nicht traf, ärgerte ich mich zu Tode.

Bald war ich eine richtige Lokalgröße, die Trainer, die für die Auswahlteams zuständig waren, kannten mich alle. In der C-Jugend spielte ich meine ersten Spiele für die Offenbacher Kreisauswahl. Und nach einem dieser Spiele stand Uwe Peterson vor mir, der Jugendtrainer der Offenbacher Kickers, und wollte mich zum OFC lotsen. Ich strahlte über beide Ohren. Offenbach, das hieß Bieberer Berg und die Chance, mit den besten Spielern des Kreises in einer Mannschaft zu kicken. Ich schaute meinen Stiefvater an und der nickte stolz.

Der erste wichtige Schritt war getan. Mit 15 Jahren wechselte ich zum OFC und meine Fußballkarriere nahm an Fahrt auf. Das war 1969.

Meine zwei Leben

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