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1. Baikonur
ОглавлениеBaikonur, Kasachstan, 28.12.2005 03.45 Ortszeit
Juri Wassiljewitsch legte den Kopf in den Nacken und gönnte sich einen Blick in den kalten Nachthimmel.
Ihm war klar, dass dies für die nächsten Stunden seine letzte Gelegenheit auf eine Zigarette und einen Besuch an der frischen Luft sein würde.
In den fast zwanzig Jahren, die er jetzt als Raketentechniker auf dem größten Weltraumbahnhof der Welt im kasachischen Baikonur arbeitete, hatte er genügend Möglichkeit sich an die unregelmäßigen Arbeitszeiten zu gewöhnen.
Raketenstarts und ihre Vorbereitung ließen sich eben nur selten in einen normalen Achtstundentag quetschen.
Aber das hatte ihn nie gestört, im Gegenteil.
Er war durch und durch Techniker und arbeitete noch immer mit der gleichen Faszination und Ehrfurcht, die er empfunden hatte, als er zum ersten Mal die riesigen Montagehallen in Samara betrat.
In ihnen wurden die legendären Sojus-Raketen montiert.
Jene donnergrollenden Triebwerke, die der russischen Raumfahrttechnik so viel Achtung und Weltruhm eingebracht hatten.
In den ersten Nachkriegsjahren ab Oktober 1946 waren es etwa 600 deutsche Techniker, die mit ihrem Wissen den Grundstein für die Fabrik legten.
Sie stammten aus den ehemaligen Nazi-Rüstungsfabriken Askania, BMW und Junkers, und waren bei Kriegsende von den sowjetischen Besatzern gefangen genommen und nach Russland gebracht worden.
Das Potsdamer Abkommen vom August 1945 zwang sie für sieben Jahre in den russischen Ort Uprawlentscheski nahe Samara.
Ihre Kenntnisse aus Flugzeug- und Raketenbau und ihre Aufbauarbeit waren eine der wichtigsten deutschen Reparationsleistungen an die sowjetische Siegermacht.
Und sie ermöglichte ihr, den Anschluss an die bis dahin überlegene Technik des Westens zu finden.
Als Juri im Oktober 1982 als frisch gebackener Ingenieur zum ersten Mal die Fabrik betrat, war sie schon einer der wichtigsten Arbeitgeber der Stadt und das Herzstück und der Stolz der Raumfahrtnation Russland.
Und vom ersten Moment an hatte er gefühlt, dass diese Aufgabe seine Bestimmung war und ihn mit Ehrfurcht erfüllte.
Als Jahrgangsbester hatte er nach seinem Studium in Moskau in der ZSKB Progress, wie die Raketenfabrik offiziell hieß, eine Anstellung als Ingenieur bekommen.
Und damit die Möglichkeit, an der modernsten und gleichzeitig faszinierendsten Technik zu arbeiten, die es zu dieser Zeit gab.
Und mit seinen 21 Jahren war er jung, ehrgeizig und entschlossen genug um diese Chance zu nutzen.
Denn gerade jetzt brauchte die Sowjetunion ihre Raketentechnologie dringender als je zuvor. Deswegen stellte Moskau für den Rüstungswettlauf mit dem Westen fast unbegrenzte Mittel zur Verfügung.
Man selbst war vor drei Jahren in Afghanistan einmarschiert und nebenan in Teheran entwickelte sich die sogenannte islamische Revolution zu einem unkalkulierbaren Flächenbrand.
Aufgrund der zwischen den Supermächten gescheiterten SALT-2-Gesprächen, war im Westen der umstrittene Nato-Doppelbeschluss gefallen.
Und nach einem langweiligen Erdnussfarmer aus Georgia, polterte im Weißen Haus in Washington jetzt ein Kommunisten hassender Schauspieler aus Hollywood.
Das versprach goldene Zeiten für die Rüstungsindustrie.
Aber es war weniger sein Interesse für Weltpolitik als vielmehr seine jugendliche Begeisterung, die ihn antrieb.
Juri Wassiljewitsch nutzte die folgenden fünf Jahren und arbeitete sich hartnäckig vom schlichten Hilfskonstrukteur auf der Karriereleiter nach oben.
Dabei war es seine rasche Auffassungsgabe und die Fähigkeit sich in komplexe technische Zusammenhänge hinein zu denken, die ihm half, Vorgesetzten und Kollegen zu beeindrucken.
Er verstand es oft schneller als andere, zum Kern der Problematik vorzudringen und Lösungsansätze zu entwickeln.
Und dank der sowjetischen Planwirtschaft und ihrer verbohrten Ideologie gab es mehr als genug Probleme, die auf Lösungen warteten.
Anfangs hatten ihm diese Ideen dabei geholfen, die Montagevorgänge in seiner Abteilung sicherer und effizienter zu gestalten.
Damit hatte er es geschaffte, die hohen Fehlerquoten zu senken und die komplizierten Montagen verlässlicher und in kürzeren Fristen zu bewältigen.
Und Planerfüllung war in diesen angespannten Zeiten oberste Priorität.
Später führten seine Vorschläge dann zu Vereinfachungen der Konstruktionen und halfen mit, den bei der ZSKB-Progress gebauten Sojustriebwerken ihre sprichwörtliche Robustheit und Zuverlässigkeit zu verleihen.
Jene Qualitäten, die sie bis heute zu den Arbeitspferden der russischen und internationalen Raumfahrt machten, und die weltweite Anerkennung und wichtige Devisen brachten.
In Samara war es auch, wo er Alina kennen lernte.
Als jüngster Nachwuchsingenieur war es eine seiner Hauptaufgaben dafür zu sorgen, dass immer die aktuellsten Stücklisten und Montagezeichnungen zur Verfügung standen.
Deshalb war er fast täglich in den Planungsbüros und dem großen Zeichensaal unterwegs, um die Unterlagen zu besorgen und auf dem neuesten Stand zu halten.
Dabei hatte sie eines Tages plötzlich vor ihm gestanden.
Er war mit großen und sorgfältig zusammengerollten Zeichnungen unter beiden Armen auf die Ausgangstür des riesigen Büros zugesteuert.
Und während er noch danach grübelte, wie er dermaßen bepackt die Tür öffnen würde, schwang sie plötzlich von alleine auf und sie stand vor ihm.
Als sie seine hilflose Miene bemerkte, trat sie einen Schritt zur Seite und hielt ihm mit einem Lächeln die Tür auf.
Später erzählte er oft augenzwinkernd, er hätte bei dem Blick in ihre lachenden Augen am liebsten gleich alle Zeichnungen fallen gelassen, um auf der Stelle niederzuknien und um ihre Hand anzuhalten. Und er war sich sicher, dass sie ja gesagt hätte.
Aber sie lachte ihn dann jedes Mal aus und behauptete als anständiges Mädchen hätte sie ihn natürlich sofort aus dem Büro gejagt und ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Wie dem auch sei, in den folgenden Wochen schaffte er es auf jeden Fall, häufiger in ihrer Nähe zu sein und ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Ihre warmen, dunklen Augen und ihr kastanienbraunes Haar, das halblang über ihren Schultern wippte, lösten dieses seltsame Gefühl in ihm aus, dass sich im Bauch anfühlt wie zu viel Brausepulver und im Kopf so, wie genau richtet dosierter Wodka.
Und selbst wenn sich die Silhouette ihres Körpers unter der vorgegebenen Arbeitskleidung nur schemenhaft erahnen ließ, reichte das zusammen mit dem Wippen ihres Hinterns doch aus, ihn einige Male am Schreibtisch in angenehme Träume zu entführen.
Zum Ausgleich lag er dann nachts oft wach, schaute an die Decke seines spartanisch eingerichteten Zimmers, und versuchte vergeblich, die Gedanken von ihr abzulenken.
Für einen normalerweise nüchtern rechnenden Techniker wie ihn war diese Situation gewöhnungsbedürftig. Und die Heftigkeit, mit der sie sein Gefühlsleben ins Wanken brachte, gefiel im überhaupt nicht.
Aber wie jeder andere junge Mann hatte auch er oft Gedanken darüber angestellt, wie seine Traumfrau aussehen würde und welche Eigenschaften ihm wichtig schienen.
Und seit diesem ersten Blick in ihre Augen waren alle diesbezüglichen Fragen schlagartig beantwortet.
Und er spürte ohne den geringsten Zweifel, dass er der Frau begegnet war, mit der er den Rest seines Lebens verbringen würde.
Er hatte keine Ahnung, wie er sie für sich gewinnen sollte, oder wohin sie dieses gemeinsame Leben führen würde.
Aber er war sich vollkommen sicher, dass er es mit ihr und keiner Anderen verbringen wollte.
Nach einigen weiteren Begegnungen im Zeichenbüro und wenigen belanglosen Sätzen hatte er sich ein Herz gefasst und sie zu einem Besuch in eines der örtlichen Kinos eingeladen.
Welcher Film gezeigt wurde, konnten sie später beide nicht mehr sagen. Aber daran, dass er während der gesamten Vorstellung ihre Hand gehalten hatte und an seinen ersten schüchternen Abschiedskuss vor dem Haus ihrer Eltern, erinnerten sie sich oft.
Schon als sie sich kennen lernten, war die Gouvernementshaupstadt Samara die sechstgrößte Stadt Russlands und hatte mehr als eine Million Einwohner.
Flugzeugbau, Weltraumtechnik und die schnell wachsende Ölindustrie begünstigten ihre Entwicklung zu einer wichtigen Industriestadt.
Und ihre Lage direkt am Ufer des imposanten Wolgastroms und ihre langen warmen Sommer hatten schon immer Kulturschaffenden wie Tolstoi, Gorki oder Schostakowitsch angelockt.
Und so verbrachten sie die Freizeit ihres ersten kalten Winters gemeinsam in den Kinos und den vielen gemütlichen Lokalen der Stadt.
Und ihren ersten gemeinsamen Sommer bei langen Spaziergängen am Ufer der Wolga oder mit einem heimischen Schiguli-Bier in einem der zahlreichen Biergärten der Umgebung.
Als junger Ingenieur wohnte er in einem Wohnheim der Fabrik mit vier Kollegen in einer winzigen Behausung mit Gemeinschaftsbad.
Und sie als frisch ausgebildete technische Zeichnerin noch in einem bescheidenen Zimmer bei ihren Eltern, die nur wenig entfernt von der Fabrik ein kleines Lebensmittelgeschäft betrieben.
Eine eigene Wohnung war für Berufsanfänger in ihrem Alter ein unerfüllbarer Traum.
Und das änderte sich erst, als Juri im Frühling 1983 vor ihr auf die Knie sank und sie bat seine Frau zu werden.
Ihre Eltern kannten ihn schon lange, und waren froh, dass ihre Tochter mit dem jungen aufstrebenden Ingenieur eine ausgezeichnete Wahl getroffen hatte.
Mit ihrem kleinen Lebensmittelladen schafften sie es, selber gerade so sich über Wasser zu halten, und waren kaum in der Lage ihrer Alina die Ausbildung zu ermöglichen.
Viel mehr konnten sie ihr leider nicht mit auf den Weg geben.
Aber gemeinsam verdienten die beiden genug, um sich nach ihrer Hochzeit im Oktober eine bescheidene Zweiraumwohnung in der Nähe der Fabrik zu suchen.
Und als er dann im Herbst 1986 das Angebot bekam, den Posten des leitenden Montageingenieurs in Baikonur zu übernehmen, brauchten sie beide nicht lange überlegen.
Seinem Vorgänger war die Angewohnheit aus Sparsamkeit lieber den billigen und illegal gebrannten einheimischen Wodka, statt den russischen zu kaufen, zum Verhängnis geworden.
Zusammen mit der Überschätzung seiner eigenen Fahrkünste, und dem Umstand, dass man Sicherheitsgurte in sowjetischen Militärfahrzeugen zu dieser Zeit noch für unnötigen Ballast hielt, führte das dazu, dass eine standhafte kasachische Fichte sein Dienstverhältnis vorzeitig beendete.
Und Familie Wassiljewitsch war mittlerweile durch die Zwillinge Marija und Michail komplettiert worden. Deshalb war die Aussicht auf eine größere Dienstwohnung und eine erhebliche Erhöhung seines kargen Ingenieursgehaltes extrem verlockend.
Also hatten sie im Oktober 1986 ihre wenigen Habseligkeiten, als Zuladung auf einen LKW geladen der Ersatzteile nach Baikonur brachte, und waren selbst fast drei Tage in der russischen Staatsbahn unterwegs, um die 1500 km zurückzulegen.
Zu jenem legendären Ort von dem zwei Wochen vor Juris Geburt, im April 1961, sein Namensgeber Juri Gagarin an Bord der Wostock 1 als erster Mensch in der Geschichte in den Weltraum gestartet war.
Und jetzt, fast 45 Jahre später, schaute er in anbrechenden kasachischen Morgen und verspürte noch immer die gleiche Anspannung wie vor den unzähligen vorherigen Starts, die er mit seiner Mannschaft vorbereitet hatte.
Gemeinsam hatten sie fast drei Monate auf diesen einen Moment hingearbeitet und in wenigen Minuten würde sich entscheiden, ob ihre Arbeit erfolgreich war oder nicht.
Ab dem Augenblick, in dem der Startcomputer die Kontrolle über alle Systeme übernahm und Zündung der gigantischen Triebwerke auslöste, war es für jede Korrektur zu spät.
Das richtige Funktionieren von tausenden Einzelkomponenten entschied in Bruchteilen von Sekunden über Erfolg oder Misserfolg ihrer Anstrengungen und damit über die komplette Mission.
Gestern war er zum letzten Mal zur Startrampe gefahren und hatte zusammen mit anderen die Betankung und die finalen Checks an den Triebwerken überwacht.
Bevor sie abfuhren, hatten sie gemeinsam einen Blick zurückgeworfen.
Dort stand, wie ein Raubtier zum Sprung geduckt, die Sojus-Fregat mit ihrer 600 kg schweren Nutzlast an der Spitze. Die Abendsonne tauchte sie in sanftes Licht, aber jeder von ihnen wusste genau, dass es kaum etwas Explosiveres auf dem Planeten gab als eine Sojusrakete, die vollbetankt auf ihren Start wartete.
Mit ihren randvollen Tanks und der kostbaren Fracht auf ihrer Spitze wog sie jetzt über 300 Tonnen und ragte fast 44 Meter in den Himmel.
Und ein einziger Funke oder eine achtlos weggeworfene Zigarettenkippe könnten ausreichen, um sie und alles andere im Umkreis von einem Kilometer innerhalb von Sekunden in Schutt und Asche zu verwandeln.
Juri schaute noch einmal in den Nachthimmel und dachte daran, dass er Alina von dem Anruf erzählen musste. Und dem Angebot, das er vor drei Tagen erhalten hatte.
Der Leiter der Raketenfabrik in Samara hatte ihn angerufen.
Es war ein offenes Geheimnis, dass die guten alten Sojus-Triebwerke trotz ihrer Robustheit ihre Lebenserwartung längst überschritten hatten, und einem neuen und moderneren Triebwerkstyp weichen sollten.
Aber bei der Entwicklung und Konstruktion eines Nachfolgemodells kam es immer wieder zu Rückschlägen, und der ehrgeizige Zeitplan, den Moskau vorgab, war schon lange nicht mehr zu halten.
Deshalb hatte man Juri den Vorschlag unterbreitet, mit seiner Erfahrung und Kompetenz nach Samara zurückzukommen und den Posten des leitenden Entwicklungsingenieurs zu übernehmen.
Ein Angebot dass ihn im ersten Moment mit Stolz erfüllte. Und dass jeder Hinsicht eine deutliche Verbesserung für ihn bedeutete.
Aber es würde für ihn gleichzeitig bedeuten, auf dieses geliebte Fieber zu verzichten, dass die Startvorbereitungen mit sich brachten.
Diese langsam steigende Anspannung, die sich zuerst täglich, und mit näher kommendem Starttermin stündlich und minütlich erhöhte.
Diese kribbelnde Unruhe, die dafür sorgte, dass sein Körper das Adrenalin freisetzte, dass er nach all der Zeit mehr brauchte als seine Zigaretten.
Und das war der Grund, warum er gezögert hatte Alina von dem Telefonat zu erzählen.
Er spürte genau, wie sie sich manchmal im Stillen aus der kasachischen Einsamkeit zurück in ihr geliebtes Samara wünschte.
In diese pulsierende und faszinierende Stadt an der majestätischen Wolga.
Mit ihrer kulturellen Vielfalt und all den vielen Möglichkeiten, die sie hier so vermisste. Sie würde keine Sekunde zögern die Koffer zu packen um, wie sie es ausdrückte, wieder zurück in die Zivilisation zu kommen.
Und er wusste genau, dass sobald er ihr von dem Angebot berichtete, die Entscheidung gefallen war.
Und dass das Kommende unausweichlich kommen würde, ohne auf seine Befindlichkeiten oder Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen.
Der kalte Südwind in seinem Gesicht riss ihn aus den Gedanken und ließ in kurz frösteln. Gierig nahm er einen letzten Zug aus der filterlosen Prima.
Mit Daumen und Mittelfinger schnippte er sie von sich und machte sich auf den Rückweg.
Ein Blick auf die Uhr am Handgelenk sagte ihm, dass es höchste Zeit war, seinen Platz im Kontrollraum wieder einzunehmen.
Mit schnellen Schritten legte er die letzten Meter zurück und öffnete die schwere Seitentür zu ihrem Allerheiligsten.
Als er den halb abgedunkelten Raum betrat, vermochte er nur mit einem akrobatischen Ausfallschritt zu verhindern über seinen am Boden liegenden Kollegen Wassili zu stolpern.
»Hey Wassili«, raunzte er den halb unter einem Kontrollpult Verschwundenen an. »Schlechter Zeitpunkt für ein Nickerchen, oder«?
»Jajaja«, kam es keuchend zurück. »Toller Witz ….. aber ein noch beschissenerer Zeitpunkt für diesen Scheiß Monitor gerade 40 Minuten vor dem Start den Geist aufzugeben«.
»Und, habt ihr schon Ersatz?«
»Klar ..., steht doch da. Hab ich gerade bei den Jungs von der Sicherheitsabteilung ausgeliehen. Erst wollten sie mich erschießen, aber ich hab ihnen gesagt, dass die Zukunft des Vaterlandes davon abhängt«.
»Sehr gut«, lobte Juri und bemühte sich ein Grinsen zu verkneifen. »Und jetzt?«
»Jetzt muss ich nur noch diesen gottverdammten Scheißstecker davon überzeugen in diese gottverdammte Scheißsteckdose zu gehen ….«
Nach zwei weiteren gekeuchten russischen Flüchen folgte ein hoffnungsvolles: »Läuft jetzt was?«
Juri warf einen Blick auf den Ersatzmonitor, auf dem eine kurze Bootsequenz flackerte. Dann erschienen Zahlenkolonnen und Grafiken, die die Zustände der Triebwerke darstellten.
»Ja, ich glaube, wir sind wieder online. Gute Arbeit«
Weiter leise vor sich hin fluchend richtete Wassili sich hinter dem Kontrollpult auf und klopfte sich demonstrativ den Staub von Hemd und Hose. Erschöpft umrundete er das Pult und ließ sich neben seinem Kollegen in seinen Sessel fallen.
»Das muss ich aber auch nicht jeden Tag haben.«
Juri verkniff sich eine Anspielung auf Wassilis etwas rundliche Figur und warf einen Blick auf die große Digitaluhr, die in der Mitte der Hauptkontrolltafel an der Stirnwand des Saals angebracht war.
»31 Punkt 30« stellte er nüchtern fest. »In einer Minute dreißig fangen sie an, den Versorgungsturm zurückzufahren.
Sind wir bereit für die Umschaltung auf Eigenstrom?«
»Ja«, kam die Bestätigung von Wassili. »Alles klar für Eigenstromversorgung.«
»Was machen die Temperaturschwankungen in Brennkammer 2?«
»Ist immer noch so wie vorher,« antwortete sein Assistent mit einem Blick auf einen Seitenmonitor.
»Aber wenn ich die Toleranz der Brennkammertemperatur und die Toleranz der Sensoren addiere, sind wir noch im grünen Bereich.«
Juri warf ihm einen besorgten Blick zu. »Seit wann werden Toleranzen denn addiert?«
»Ach«, winkte der Angesprochene grinsend ab. »Früher haben wir sie, wenn es nötig war, sogar multipliziert.«
Weil er den strafenden Blick in seinem Nacken spüren konnte, beeilte er sich zu ergänzen: »Die Kammer liegt im Schatten und in der Windseite. Ich denke, die Schwankung ist ok. Oder meinst du, wir sollten das nochmal überprüfen?«
»Nein, im Moment nicht. Aber behalte sie im Auge und gib sofort Bescheid, wenn sich was ändert.«
Juri wusste natürlich genau so sicher wie sein Kollege dass es unmöglich war in dieser Startphase eine Überprüfung zu veranlassen ohne eine Startverzögerung oder sogar einen Abbruch zu riskieren.
»Wir dürfen doch unsere Gäste nicht enttäuschen,« ergänzte er mit einem Kopfnicken zur gegenüber liegenden Seite des Raums. Dort saßen in zwei Reihen die Nutzlastspezialisten und einige offizielle Beobachter der ESA.
Sie und ihr GIOVE-A-Satellit an der Spitze der Rakete waren Auftraggeber und damit gleichzeitig Kostenträger der heutigen Mission. Er hatte gehört, dass die Europäer für den Start rund 60 Millionen Euro bezahlten.
Offiziell gab es diese Zahl zwar nicht, aber alle Beteiligten wussten, dass man sich von der Zusammenarbeit mit der ESA wichtige Einnahmen versprach.
Und vermutlich hatte Wassili Recht, die betroffene Brennkammer lag in der Wind- und Schattenseite der Rakete und eine etwas zu niedrige Temperaturanzeige war kein Grund zur Besorgnis.
Eine Verzögerung oder sogar ein Abbruch des Starts war in dieser Phase das Letzte, was sich alle der im Kontrollraum Versammelten wünschten.
Und noch viel weniger hatten wohl jemand der Anwesenden Lust darauf, selbst der Grund für einen Startabbruch zu sein. Wenn man dafür auch nicht mehr so wie früher direkt erschossen wurde, so würde es aber mindestens einen ziemlichen Karriereknick verursachen.
Das ganze Unternehmen war auch so schon zwei Tage hinter dem engen Zeitplan.
Wegen eines Heliumlecks, dass die Nutzlastspezialisten der ESA bei der Montage des Satelliten auf der Fregat Oberstufe entdeckt hatten, war man gezwungen Ersatzteile einzufliegen und zu tauschen.
Das hatte den Starttermin um zwei Tage verschoben. Eine weitere Verzögerung würde unter Umständen die ganze Mission gefährden.
Gemeinsam beobachteten sie, wie sich der Versorgungsturm exakt dreißig Minuten vor dem Start in Bewegung setzte und nach sechshundert langen Sekunden Schleichfahrt seine Parkposition erreichte.
Jetzt stand der Flugkörper alleine und nur durch Haltestreben gestützt auf der Startrampe und die meisten Systeme waren auf die Versorgung durch eigenen Batteriestrom angewiesen.
Die nächsten Minuten verbrachten die beiden damit, in einem genau festgelegten Ablauf, die verschiedenen Systeme der gigantischen Sojustriebwerke zu überprüfen und die Startbereitschaft festzustellen.
Alle Anzeigen auf ihren Monitoren blieben grün, und Juri warf Wassili einen letzten fragenden Blick zu.
»OK?«
Der Angesprochene hob den Daumen seiner rechten Hand.
»Alle Werte im grünen Bereich, wie im Lehrbuch« attestierte er und lehnte sich demonstrativ zurück.
Exakt wie im Zeitplan der Startprozedur vorgeschrieben bestätigten sie 360 Sekunden vor dem geplanten Start das OK ihrer Systeme mit einem Knopfdruck an die Hauptkontrolle.
Beiden war klar, dass sie damit ihre Arbeit der letzten Monate für beendet erklärten, und dass sie die nächsten Minuten zur Untätigkeit verdammt auf ihre Monitore starren würden.
In der Mitte des Raums, direkt vor der überdimensionalen Anzeigewand, auf der für alle sichtbar die Startprozedur ablief, saß der Startleiter mit seinen drei Chefingenieuren und erwartete die einlaufenden Fertigmeldungen der verschiedenen technischen Sektionen.
Innerhalb der folgenden sechzig Sekunden wurden dort in festgelegter Reihenfolge alle Bereitschaftsmeldungen gesammelt und dann wie vorgeschrieben die ultimative Startbereitschaft festgestellt.
Jeder im Raum beobachtete die grünen Meldungen der einzelnen Sektionen auf der Anzeigetafel, und alle Anwesenden kannten den nächsten Schritt, der jetzt zwangsläufig folgte. Die Spannung war mit Händen zu greifen und steigerte sich mit jeder Sekunde, die die Startuhr herunter zählte.
Die Anweisung, die der Startleiter seinem neben ihm sitzenden 1. Ingenieur erteilte, war für alle anderen nicht zu hören.
Aber jeder im Raum registrierte die orangene Anzeige die kurz darauf auf der Monitorwand erschien. Sie zeigte an, dass der kleine unscheinbare Schlüsselschalter in der Mitte des Startpultes auf »START« gedreht worden war.
Mit der Betätigung dieses Schalters ging die Kontrolle aller weiteren Abläufe ausschließlich und unwiderruflich auf den Startcomputer über.
Die letzten 320 Sekunden bis zum Start liefen nach einem festen Programm ab.
Und um die größte Quelle für Fehler und Missverständnisse zu eliminieren, war menschliches Eingreifen bei diesen komplexen Vorgängen nicht mehr vorgesehen.
Auf der Startrampe wurden jetzt vollautomatisch die letzten Versorgungsleitungen und Verbindungskabel getrennt. Alle Systeme des Flugkörpers arbeiteten ab sofort autark und ohne Versorgung von außen.
Das dort beschäftigte technische Personal hatte den Gefahrenbereich rund um die Rakete längst verlassen und in Bunkern hinter dicken Betonwänden Schutz gesucht.
Und selbst die umgebende Natur schien den Atem anzuhalten.
Nur ab und zu störte ein leises Zischen aus Überdruckventilen oder ein schaltendes Relais die morgendliche Ruhe vor dem nahenden Inferno.
Exakt 125 Sekunden vor dem Start veränderte sich die Aktivitätsanzeige des Startcomputers von Orange auf Rot. In diesem Moment hatte das Programm selbstständig und genau nach Zeitplan den ultimativen Startbefehl an alle Systeme erteilt.
Juri wusste, dass seine englischsprachigen Kollegen diesen Zeitpunkt den »Point of no return« nannten, und eine bessere Bezeichnung war ihm auch noch nicht eingefallen.
Ab sofort war es für niemanden mehr möglich den Startvorgang manuell zu stoppen, und das rote Licht der Anzeigetafel degradierte alle Beteiligten im Raum für die nächsten zwei Minuten endgültig zu hilflosen Zuschauern.
Unbewusst rieb er sich die feuchten Hände an der Hose trocken. Was würde er jetzt für einen kleinen Schluck Wodka zur Beruhigung seiner Nerven geben.
Und obwohl er sich mittlerweile selbst zu den alten Hasen im Raum zählte, wusste er nur zu genau, dass es den meisten Anderen ähnlich erging.
Seine Nerven waren wie bei allen Starts, die er vorbereitet hatte, bis zum Zerreißen angespannt und er empfand jedes Umspringen der Sekundenanzeige körperlich.
Er selbst, sein Team und die gemeinsame Arbeit von Monaten waren jetzt vom fehlerfreien Funktionieren von Schaltkreisen und Software abhängig.
Und wie bei allen Countdowns schien sich jede einzelne Sekunde etwas länger zu dehnen als die vorherige.
In Baikonur verzichtete man darauf, die verbleibende Restzeit für alle vernehmlich herunter zu zählen. Diese Theatralik überließ man den Amerikanern in Houston, das lag eindeutig näher an Hollywood.
Deswegen hing jeder Anwesende mit mindestens einem Auge an der erbarmungslos langsam herunterzählenden Zentraluhr und versuchte, dabei selbst möglichst gelassen zu wirken.
Wassili hob demonstrativ den Daumen und nickte ihm zu. Laut Startuhr waren die letzten 25 Sekunden angebrochen, und den beiden war klar, dass der Computer ihre Lieblinge in fünf weiteren zünden musste.
Kurz darauf würde die erste Stufe ihrer vierstufigen Sojus-FG exakt einhundertachzehn endlose Sekunden lang einen Schub von fast 1000 Kilonewton entwickeln und in der kurzen Zeit ihrer Brenndauer über 40 Tonnen hochexplosiven Treibstoff in brachiale Energie umwandeln.
Und nichts würde sie aufhalten, bis die Fregat-Oberstufe den GIOVE-A-Satelliten, nach circa drei Stunden Flugzeit, in seine vorbestimmte Umlaufbahn in gut 23.000 Kilometer Höhe entlassen hätte. Da waren sie sich sicher.
Kurz darauf ließ die Zündung der Triebwerke auf der acht Kilometer entfernten Startrampe die Anzeigen auf ihren Monitoren verrückt spielen.
Und die Vibrationen des Bodens, die sich wenige Augenblicke später selbst in dieser Entfernung deutlich spüren ließen, verursachten auf Juris Armen eine Gänsehaut.
Für ihn waren sie jedes Mal wie ein letzter brutaler Abschiedsgruß. Und wie bei allen Starts schwankte er zwischen Stolz auf ihre geleistete Arbeit und Wehmut über den Abschied seines Babys.
Aber ebenso war dies genau der Moment, für den er so begeistert arbeitete, und die unvergleichbare Belohnung für seine monatelangen Mühen.
Ihre Ballerina hatte ihren vorbestimmten Weg aufgenommen, und sie selbst waren ihrem verdienten Feierabendwodka einen entscheidenden Schritt näher gekommen.
Und Juri war klar, dass er keine andere Wahl hatte, als heute Abend mit Alina zu reden.
Sie muste ihm helfen von dieser Adrenalinsucht loszukommen und sich auf ein hoffentlich ruhigeres Leben mit neuen Prioritäten zu freuen.