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3. Peking

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Peking, Volksrepublik China, 14.11.2013 10.15 Ortszeit

Der weitläufige Frühstücksraum des Beijing Garden Hotel war an diesem späten Vormittag nur noch spärlich besetzt.

Riesige Deckenventilatoren mühten sich lautlos, die abgestandene Luft im Raum in Bewegung zu halten.

Und die vier Jahreszeiten von Vivaldi, die als Hintergrundmusik in leiser Endlosschleife aus unsichtbaren Lautsprechern plätscherten, wurden nur hin und wieder durch das Klappern von Porzellan und Besteck unterbrochen.

Zwei uniformierte Hotelangestellte schoben einen Servierwagen durch die Gänge. Mit chinesischem Arbeitseifer bemüht, die letzten Spuren des vergangenen Frühstücks zu beseitigen.

Die meisten der quadratischen Vierertische waren längst abgeräumt und warteten, mit einer makellos gebügelten Tischdecke versehen, auf den Ansturm des nächsten Morgens.

Und dass der kommen würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Das Beijing Garden wurde wegen seiner zentralen Lage und der schnellen Erreichbarkeit vom Flughafen aus vor allem von Geschäftsreisenden geschätzt.

Außerdem nutzten es einige asiatische Airlines zur Unterbringung ihrer Aircrews und sorgten so dafür, dass 24 Stunden am Tag uniformierte Gäste ein- und auscheckten, um die kurzen Ruhepausen zwischen ihren Flügen im Hotel zu verschlafen.

Die 30 bis 40 Minuten Taxifahrt, die man je nach Tageszeit brauchte, waren für die chaotischen Pekinger Verkehrsverhältnisse akzeptabel.

Und in etwa der gleichen Zeit waren Geschäfts- und Bankenviertel der chinesischen Metropole erreichbar.

Mit seinen 180 Zimmern, die sich auf zwölf Stockwerke verteilten, bot es alle Annehmlichkeiten, die der internationale Gast in dieser Preisklasse suchte.

Und mit seiner grauen Glas- und Betonfassade zählte es zu den Gebäuden, die man im Vorbeifahren sah, aber nach spätestens 20 Sekunden wieder vergessen hatte.

Eine angenehme Eigenschaft, in einem Land, in dem Unauffälligkeit und Gleichförmigkeit zur Staatsräson erhoben waren.

Flugkapitän Mohamed Faizal gehörte zur zweiten Kategorie der Gäste.

Er hatte sich zum späten Frühstück an einem Tisch am Rande des Raums niedergelassen. Etwas abseits der hauptsächlich genutzten Gänge und mit Überblick auf das morgendliche Geschehen.

Die dunkelgraue Uniformjacke hatte er über die Lehne des Stuhls neben sich gehängt und die Ärmel seines Uniformhemdes waren bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt.

Trotz der mehr als zwölfstündigen Arbeitsschicht, die er hinter sich hatte, wirkte er relativ frisch und ausgeruht.

Aber als Berufspilot und Angestellter der Malaysia-Airlines war er es gewohnt mit ständig wechselnden Arbeitszeiten zu leben und Zeitumstellungen zu ignorieren.

Offizieller Arbeitsbeginn war für ihn am Vorabend gegen 22 Uhr gewesen.

Dem Zeitpunkt seines Eintreffens am 4345 Kilometer entfernten Kuala Lumpur International Airport.

Nach der üblichen Sicherheitskontrolle hatte er die folgenden eineinhalb Stunden mit Flugplan, Wetterbriefing, Crewbesprechung und Smalltalk verbracht.

Bevor er gegen 23 Uhr 50 zusammen mit seinem Copiloten Hassan Abdul Nassar die Boing 777-200 ER betrat, die sie gemeinsam mit 228 zahlenden Gästen und ihrer Kabinencrew nach Peking befördern würde.

Als routinierter Pilot hatte er gelernt, diese entspannten Nachtflüge zu genießen.

Die Passagiere waren zu müde um sich über jede Kleinigkeit aufzuregen. Die Stewards und Stewardessen erledigte lautlos und mit einstudierter Routine ihren Job und im Cockpit konzentrierte man sich auf das Wesentliche und versuchte hin und wieder mal ein Auge zumachen.

Auch ihr heutiger Flug von Kuala Lumpur zum Peking International Airport war routiniert und ohne jede nennenswerte Aufregung verlaufen.

Problemloser und fast pünktlicher Start in einen sternklaren Nachthimmel, beste Wetterbedingungen und 6 Stunden und 2 Minuten später eine Bilderbuchlandung in einer Stadt, die selbst zu dieser frühen Morgenstunde leuchtete und pulsierte wie kaum eine andere.

Nach dem Auschecken der Passagiere eine kurze Post-Flight-Besprechung, Übergabe der Maschine und des Papierkrams an die Bodencrew und die Fahrt mit dem Airline-Shuttle ins Hotel.

Tägliche und hundertfach erlebte Abläufe.

Aber trotz seiner mittlerweile 53 Jahre und der Erfahrung von über 18.000 Flugstunden, fiel es ihm auch nach solchen Routineflügen oft schwer, abzuschalten und sich direkt zum Schlafen in das Hotelbett zu legen.

Er liebte die Fliegerei und war mit Leib und Seele Berufspilot. Und selbst bei einem ereignislosen Flug wie heute benötigte er nach der Landung oft einige Stunden, um das ausgeschüttete Adrenalin wieder abzubauen.

Dann zog er es meistens vor, den Arbeitstag mit einer kleinen Mahlzeit und einem Schlummertrunk zu beenden, und seine Erfahrung sagte ihm, dass es der Mehrheit seiner Kollegen nicht anders erging.

Der Grund dafür, dass er die letzten zwei Minuten so offensichtlich lust- und appetitlos in dem vor ihm stehenden Rührei herumgestochert hatte, war ein Artikel im Star. Der größten Tageszeitung Kuala Lumpurs, die er am vorhergehenden Abend auf seinem Weg durch die Abflughalle gekauft hatte.

Die Schlagzeile über drei in Malaysia verhaftete Oppositionspolitiker prangte auf der aufgeschlagenen Seite vor ihm. Und mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn überflog er zum zweiten Mal den halbseitigen Bericht darunter.

Leise murmelnd und sichtlich erregt strich er sich mit der Linken über das kahlrasierte Haupt.

Er war weder ein politisch noch ein religiös engagierter Mensch, aber er gehörte zur informierten und gebildeten Mittelschicht seines Landes.

Und die verfolgte die gesellschaftliche Entwicklung in dem 30 Millionen Einwohnerstaat mit seinen vielen und teilweise bis aufs Blut verfeindeten Religionsgruppen und zunehmenden Rebellenangriffen mit wachsender Besorgnis.

Die Spannungen in seinem Heimatland entluden sich in immer kürzeren Abständen in Gewalt. Und wie leider meist in solchen Situationen waren die Entscheidungsträger längst mehr mit Machterhalt und Selbstbereicherung beschäftigt, als mit den notwendigen politischen oder sozialen Reformen.

Eine brisante Mischung, die die Jugend seines Landes auf die Straße brachte und die früher oder später zu Pflastersteinen und Molotowcocktails auf der einen und zu Tränengas und Massenverhaftungen auf der anderen Seite führen würde.

Und die viele die es sich leisten konnten dazu trieb resignierend das Land zu verlassen und ruhigere Orte für sich und ihre Familien zu suchen.

Erst am letzten Wochenende war er mit einem jungen Copiloten geflogen, der ihm von Stellenangeboten und Umzugsplänen nach Europa erzählt hatte.

Der ihm vorgerechnet hatte wie viel Zeit und Geld er selbst in die Ausbildung zum Berufspiloten investiert hatte, und der nicht bereit war, dass alles für eine Regierung zu riskieren die ihrerseits nichts für ihr Volk unternahm.

Und Faizal wusste, dass viele der jüngeren und erstklassig ausgebildeten Menschen in seinem Land ähnliche Pläne hatten.

Warum auch nicht?

Und vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren hätte er mit Sicherheit genauso gedacht. Und möglicherweise auch sein Glück in Europa oder Nordamerika gesucht.

Aber heute?

Mit zwei mittlerweile erwachsenen Kindern, die längst ihr eigenes Leben führten.

Ein Leben zu dem er den Kontakt verloren hatte und in dem er, wenn überhaupt, nur als Randfigur vorkam.

Mit einer Ehe, die in Wirklichkeit nur noch auf dem Papier existierte und sich seit Jahren anfühlte wie eine lästige Pflichtveranstaltung.

Mit einem Freundes- und Bekanntenkreis, der den Namen schon längst nicht mehr verdiente und mit ständig wechselnden Beziehungen die maximal kurzzeitige Befriedigung aber nie langfristige Perspektive boten.

Zum letzten verlässlichen Anker in seinem Leben war für ihn die Fliegerei geworden.

Sein Job als Berufspilot, für den er so viel geopfert hatte und der es ihm ermöglichte, mit modernsten Maschinen kreuz und quer über den Globus zu fliegen und dieser immer verrückteren Welt unter sich ein paar Stunden zu entfliehen.

Und die Qualifikation zum Ausbildungspiloten, für die er lange und hart gearbeitet hatte. Er liebte es, mit jungen Menschen zu arbeiten und sein Wissen und seine Erfahrung weiter zu geben.

Und im Gegenzug dafür die Begeisterung zu teilen, die sie mitbrachten. Die er in ihren Augen sehen und die er so wohltuend nachvollziehen konnte.

Das war das Eigentliche, was ihn davon abhielt auch für sich nach einer anderen Orientierung und neuen Perspektiven zu suchen.

Es war nicht so, dass er selbst nie darüber nachgedacht hatte eine sich bietende Chance zu ergreifen und vieles hinter sich zu lassen.

Ballast abzuwerfen und etwas Neues zu probieren.

Meist hatte er solche Gedanken, wenn er zu Hause an seinem Simulator saß. Vor dem Flugcomputer, in den er viel Geld investiert hatte und der es ihm ermöglichte, auf Routen zu fliegen, die er als Pilot der Malaysia-Airlines nie erreichen würde.

Weil sie im Flugplan seiner Gesellschaft einfach nicht vorkamen.

Und mit dessen Hilfe er auf Flughäfen landete, die er im richtigen Pilotenleben nie zu sehen bekommen würde.

Entweder weil seine Airline sie nicht anflog, oder weil sie für große Passagiermaschinen nicht geeignet und nicht zugelassen waren.

So oft es seine Zeit zuließ, saß er bei abgedunkeltem Licht vor den Bildschirmen des Simulators und ignorierte solche kleingeistigen Vorschriften mit dem Grinsen eines Zwölfjährigen.

Und dass er dabei Turnschuhe und T-Shirt trug und die Landschaft vor sich nur auf der Oberfläche eines LED-Monitors sah, war nach ein paar Minuten vergessen.

Dann kam sie manchmal wieder, diese kindliche Begeisterung fürs Fliegen, die im Alltag eines Berufspiloten leider schon lange keinen Platz mehr hatte.

Und sie erlaubte ihm, Manöver zu probieren, die ihn im richtigen Leben augenblicklich den Job gekostet hätten.

Auf Flugplätzen zu landen, auf denen das normalerweise mit einer Boing 777 unmöglich war. Und im Tiefflug über Städte und Landschaften zu fliegen, nur um die Sicht zu genießen und die Flugkontrolleure vor ihren Bildschirmen in die Verzweiflung zu treiben.

Manchmal landete er nach solchen Flügen auf dem schmalen Privatflughafen neben seiner Stadt. Die Landebahn war laut Zulassungsvorschrift 700 Meter zu kurz für die Boing 777. Aber wenn er die Aufsetzgeschwindigkeit bis in den kritischen Bereich reduzierte und den Touchdown optimal traf, brauchte er oft nur ein kleines Stück der Wiese hinter der Bahn.

Und er stellte sich vor, wie er nach dem Abstellen der Triebwerke aus der Maschine stieg, sich unter den leicht verstörten Blicken seiner Passagiere und der Crew auf sein Fahrrad setzte und in zehn Minuten lächelnd nach Hause radelte.

Eine Aktion die, wie er fand, zu seinem Letztflug als Berufspilot passen könnte.

Und die, falls er sie schon vorher in die Tat umsetzte, den vorhergehenden Flug automatisch zu seinem Letztflug machen würde.

Die ihn schlagartig auf die Titelseiten aller Tageszeitungen brachte, und die die Autobiografie von Kapitän Mohamed Faizal todsicher an die Spitze der internationalen Bestsellerlisten katapultieren würde.

Die der Flugkapitän Faizal den er kannte, aber sicher nie in die Tat umsetzte.

Weil sie trotz der Abenteuerlust, die er selbst nach mehr als zwanzig Routinejahren noch immer spürte und trotz der Aufmerksamkeit, die sie ihm einbrachte, gleichzeitig seinen Traum vom Fliegen und die Suche nach neuen Herausforderungen schlagartig beenden würde.

Und diese Suche beschäftigte ihn in letzter Zeit immer häufiger.

Mit seinen mittlerweile 53 Jahren war ihm klar, dass neuen Chancen und Perspektiven für ihn dünn gesät waren.

Das Ende seiner Karriere als aktiver Berufspilot kam unaufhaltsam näher, das wusste er nur zu genau.

Und mit etwas Glück würde er bei der Malaysien-Airlines die Chance auf einen Schreibtischjob in Ausbildung, Einkauf oder einer anderen Abteilung bekommen, um dort seine Erfahrung einzubringen und sein Gnadenbrot zu erhalten.

Eine Aussicht, die ihm ein gequältes Lächeln und eine Prise Resignation einbrachte.

Mit der er sich aber zwangsläufig schneller abfinden musste, als ihm lieb war ...

»Captain Faizal?«

Die Stimme die in aus seinen Gedanken riss war weiblich und angenehm dunkel.

Der Artikel im Star und die folgenden Überlegungen hatten die Aufmerksamkeit des Flugkapitäns dermaßen in Anspruch genommen, dass er die Person die ihm auf der anderen Seite des weiß gedeckten Frühstückstisches gegenübergetreten war, erst jetzt bemerkte.

Der erste Gedanke, der ihm bei der unerwarteten Ansprache durchs Hirn schoss, war der, an eine Kellnerin oder an ein weibliches Besatzungsmitglied, dass ebenfalls nicht in der Stimmung war sich schlafen zu legen.

Aber als er den Kopf hob, waren beide Vermutungen auf den ersten Blick widerlegt und sein Aufmerksamkeitsdefizit endete abrupt.

»Ja bitte ... ?«

Die Gestalt, die ihm gegenüberstand, war unübersehbar weiblich, soviel stand fest.

Aber nach dieser Erkenntnis fiel ihm die Kategorisierung schon wesentlich schwerer.

Mit ihrem halblangen brünetten Haar wirkte sie auf den ersten Blick zumindest südländisch.

Ihre dunklen mandelförmigen Augen, eine rundliche Gesichtsform und typisch betonte Wangenknochen über einer schmalen Mundpartie ließen auf einen großen Teil asiatischer Vorfahren schließen.

Aber die Körpergröße von geschätzten 178 Zentimetern und die selbstsichere Haltung und Ansprache passten nicht zu dieser Einschätzung.

Und auch ihre sehr wohlwollend dosierte Oberweite wirkte eher westlich als asiatisch.

Aber Körbchengröße, das wusste er, war in diesen Zeiten auch für Asiatinnen weniger eine Frage der Gene als vielmehr von Bankkonto und Schönheitschirurg.

Auf den ersten Blick hätte er ihr Alter auf Ende dreißig geschätzt, bei genauerem Hinsehen eventuell auch auf Mitte 40.

Das waagerecht grauweiß gestreifte Kleid, das sie trug und dass die Umrisse ihrer schlanken Figur mehr betonte als verdeckte und die kleine wildlederne Handtasche, die sie zwischen den Händen hielt, wirkten auf ihn eher wie überlegt dosierte Abendgarderobe als passend für das Frühstücksbuffet.

Da sie ihn zielsicher mit Namen und Dienstgrad angesprochen hatte, konnte er eine Verwechslung ausschließen. Aber sein Hirn lieferte in der Kürze der Zeit keine plausible Erklärung für das, was seine Augen sahen.

Ein Zustand der ihn schon von Berufswegen verunsicherte.

Sie verstand es, seine Neugier zu steigern, indem sie ihm drei Sekunden zur Betrachtung und zum Nachdenken ließ.

»Darf ich mich für einen Moment zu Ihnen setzen?«

Ihr absolut perfektes und dialektfreies Englisch holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

»Aber sicher doch ... «

Mit einer einladenden Handbewegung deutete er auf den freien Stuhl vor ihr und bemühte sich seine Unsicherheit zu verbergen.

»Sie kennen mich?«

»Na ja ...«, lächelte sie, bei dem Versuch sich trotz des eng geschnittenen Kleides möglichst elegant zu setzen.

»Kennen wäre zu viel gesagt.«

Selbstsicher platzierte sie ihre Handtasche vor sich auf den Tisch und deutete auf seine Uniformjacke, die über der Lehne des Stuhls neben ihm hing.

»Ihr Name steht ja auf ihrem Namensschild. Darüber ist das Abzeichen der Malaysia- Airlines, und wer sich so wie ich nebenberuflich etwas mit der Fliegerei beschäftigt der hat gelernt, dass die vier Streifen an Ihren Ärmeln für den Rang eines Flugkapitäns stehen. Also war das mit der richtigen Anrede nicht so schwierig.«

»Okay .....«

Während er im Geiste alle denkbaren Gründe für diese ungewöhnliche Ansprache durchging, hatte er Mühe, seine Augen daran zu hindern den Blick auf ihr offenherziges Dekolleté zu genießen.

Der oberste waagerechte Streifen ihres Kleides der ihren Busen umschloss, war weiß und betonte den Kontrast zu ihrer eher unasiatischen weil makellos gebräunten Haut. Und der weite Bogen den er dabei nach vorne ausbildete, war geeignet jede männliche Konzentrationsfähigkeit an ihre Grenze zu bringen.

Er spürte, dass eine zweisekündige Unterbrechung seiner Antwort ihrerseits noch als bewundernde Denkarbeit interpretiert werden konnte. Ab vier Sekunden würde er wirken wie ein Trottel.

»Sie sagten, Sie beschäftigen sich nebenberuflich mit Fliegerei?«

»Na ja« sie behielt ihr Lächeln bei und winkte mit einer leichten Handbewegung ab.

»Beschäftigen ist eigentlich schon zu viel gesagt. Als Passagier und Laie bewundere ich hauptsächlich die Technik und die Präzision mit der wir uns heutzutage von A nach B bewegen.

Ich weiß natürlich, dass das meiste heute von Computern erledigt wird. Und dass das Fliegen von großen Passagiermaschinen nicht mehr mit der Fliegerei von vor 40 oder 50 Jahren zu vergleichen ist. Aber trotzdem sitzen da ja noch Menschen im Cockpit, die diese Technik beherrschen und die in jeder Situation die richtigen Entscheidungen treffen, nicht wahr?«

Sie lehnte sich leicht zurück, ohne den Blickkontakt zu verlieren.

»Und als Frau ... , na ja, Sie wissen ja wie starke Männer in Uniformen auf Frauen wirken, oder?«

»Ich hab es zumindest immer gehofft« lachte er kurz auf und deutete auf den Teller vor sich. »Haben Sie vielleicht Lust mit mir zu frühstücken?«

»Nein danke,« winkte sie ab. »Ich habe bereits gefrühstückt und bin auf dem Weg in die Stadt zu einer Besprechung. Aber mir bleibt noch etwas Zeit. Und weil ich Sie hier so einsam sitzen sah, hab ich Sie angesprochen. Sind Sie auch auf dem Weg zum Dienst?«

»Nein, ich bin heute Morgen hier gelandet und habe jetzt Dienstschluss. Direkt nach dem Frühstück wartet mein Bett auf mich.«

»Ach so ..., und wann geht es für Sie weiter?«

»Erst morgen Vormittag. Dann fliege ich von hier aus zurück nach Kuala Lumpur, von wo ich gekommen bin.

Und wie sind Ihre Reisepläne?«

»Ich reise auch schon morgen weiter. Heute Vormittag und am Nachmittag habe ich hier in der Stadt ein Treffen mit Kunden, und morgen Mittag fliege ich zurück nach Hongkong. Dort arbeite ich für eine Wirtschaftsagentur.«

»Oh, dann haben Sie ja wenig Gelegenheit, ihren Aufenthalt zu genießen,« stellte er fest.

»Nein, leider nicht. Dafür bleibt bei kurzen Geschäftsreisen nicht die Zeit. Aber das betrifft Piloten ja sicher genau so.«

»Ja das stimmt allerdings. Von den meisten Städten, die ich gesehen habe, kenne ich nur den Flughafen und das Mannschaftshotel. Das ist einer der Nachteile der Berufsfliegerei.«

Sie nickte zustimmend. »Aber ansonsten haben Sie doch einen sehr spannenden Beruf, oder?«

»Finden Sie? Ab und zu gibt es auch mal Spannendes, das stimmt. Aber vieles ist heute doch mehr und mehr Routine. Wie Sie schon sagten.«

Lächelnd schenkte er sich Kaffee nach und strich sich über die nicht mehr vorhandene Behaarung seines Hauptes.

»Von den aufregenden Städten, die man anfliegt, sieht man wie gesagt meistens nur den Flughafen und die Passagiere maximal kurz beim Ein- oder Aussteigen. Und die Technik ist heute so ausgereift, dass sich da die Spannung Gott sei Dank auch in Grenzen hält. Ich hab neulich erst gelesen, dass Fliegen heutzutage nicht mehr viel aufregender ist als Busfahren.«

»Nein nein, das sehe ich ganz anders ....«

Sie beugte sich leicht vor und suchte mit gesenkter Stimme seinen Blickkontakt.

»Das mit den Städten und der technischen Routine stimmt natürlich .... aber ich hab noch nie einen so aufregenden Busfahrer mit einer so stilvollen Uniform angesprochen.«

Mit einem kurzen Lachen lehnte sie sich wieder zurück und entblößte makellos gepflegte Zähne.

Er konnte ihren Blick fast körperlich spüren, und in seinem Hinterkopf suchte er immer noch nach dem Grund für diese scheinbar zufällige Begegnung.

Als normalerweise nüchterner Techniker und logisch denkender Mensch glaubte er nicht an Zufälle. Und wenn sie dann auch noch so angenehm und verlockend daher kamen schon erst recht nicht.

Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass in diesen Fällen meist nach kurzer Zeit ein Werbebanner auf dem Bildschirm erschien und eine freundliche Stimme sagte:

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Aber möglicherweise erwies ich sein Misstrauen ja auch als völlig unbegründet und es war nur der Glückstag, den er sich schon längst verdient hatte.

Endlich war dem Schicksal aufgefallen, wie lange Zeit es ihn vernachlässigt hatte.

Und heute war ER die Hauptperson in dieser Geschichte, die man normalerweise in irgendwelchen zwielichtigen Herrenmagazinen las, oder bei der man, bevor man sie im Hotel TV sehen durfte, gezwungen wurde zu bestätigen, dass man schon über 18 war.

Sie ließ ihm nicht lange Zeit für seine Überlegungen.

»Ich habe erst in der letzten Woche wieder einen Bericht über diesen Piloten gelesen, der vor ein paar Jahren mit einer Passagiermaschine eine Notwasserung im Hudson- River in New York geschafft hat. Da sieht man doch, dass Fliegen nicht immer nur Routine ist, oder?«

»Ja ja«, nickte er. »Das ist zugegebenermaßen eine faszinierende Geschichte. Aber so etwas passiert Gott sei Dank nicht jeden Tag.

Da müssen schon sehr viele unvorhersehbare Umstände zusammenkommen, damit eine solche Notlage entsteht. Und man sieht ja, dass eine erfahrene und perfekt ausgebildete Crew selbst diese Extremsituationen bewältigen kann.

Über so etwas braucht man sich eindeutig keine Gedanken machen, wenn man heutzutage als Passagier in ein Flugzeug steigt.

Und um ehrlich zu sein, wirken Sie auf mich auch nicht so, als wenn Sie Angst beim Fliegen hätten, oder?«

Faizal zog fragend die Augenbrauen hoch und bemühte sich sein Lächeln offen und freundlich wirken zu lassen.

Normalerweise hatte er keine Probleme damit, Frauen anzusprechen und in ein Gespräch zu verwickeln. Sein unaufdringlicher Charme und sein Humor wirkten offen und sympathisch. Und in der Regel brauchte er nur einige Sätze, um Interesse zu wecken und Gesprächsthemen zu finden, bei denen er mit Witz und kleinen Anekdoten die Aufmerksamkeit anderer fesseln konnte.

Außerdem hatte er festgestellt, dass seine dunkle Stimme zusammen mit der ihm eigenen entspannte Art zu sprechen auf Frauen beruhigend und vertrauenerweckend wirkte.

Er versuchte deshalb, seine Neugier nicht zu zeigen, und in dem aufmerksamen Gesicht gegenüber und in den zwei dunklen Augen die ihn konzentriert beobachteten zu lesen. Aber das Einzige, dass er erkannte, war ein offener und freundlicher Blick. Ihr Interesse schien wirklich seiner Person zu gelten.

»Nein, normalerweise sicher nicht.«

Sie drehte scheinbar auf der Suche nach einer Antwort die kleine Handtasche vor sich in ihren Händen.

»Aber wenn man sich vorstellt, dass man selber als Passagier in einer solchen Situation ist ... Ich kenne natürlich die Sicherheitshinweise, die man vor jedem Flug erklärt bekommt. Den Kopf auf die Knie, und den Anweisungen des Personals folgen ..., aber wenn es dann wirklich mal so weit ist .... was würden Sie als Passagier tun?«

»Ich?« Er lachte und schob seinen Frühstücksteller beiseite.

»Ich denke, ich würde mir den Weg zum nächsten Notausgang einprägen, den Kopf auf die Knie drücken und den Anweisungen des Personals folgen. Damit hat man die größten Überlebenschancen. Und ich würde hoffen, einen wirklich guten Piloten im Cockpit zu haben.«

»Und als Flugkapitän? Kann man so eine Notwasserung denn in der Ausbildung trainieren?«

»Na ja, es ist möglich, so etwas im Simulator durchzuspielen. Damit man die wichtigsten Abläufe und Daten im Kopf hat. Praktisch üben kann man eine solche Landung logischerweise nicht. Warum fragen Sie?«

»Nur aus Neugierde.«

Sie senkte kurz den Blick, um nachzudenken und er nutzte die Gelegenheit sich ihre Oberweite ohne die störende Umhüllung vorzustellen.

»Mich hat einfach interessiert, wie Sie über eine solche Situation denken und ob es Sie reizen würde, so eine Landung mal zu versuchen.«

Er lachte. Mühsam zwang er seine Gedanken zurück in die Realität.

»Versuchen?«

»Na ja«, hob sie den Kopf, und der Blick, mit dem sie auf seine Antwort wartete, schien ihm für einen kurzen Augenblick mehr als nur profane Neugier zu signalisieren. Aber sofort kehrte ihr betörender Gesichtsausdruck zurück.

»Ich bin halt neugierig, wie viel Abenteuerlust noch in einem so nüchternen Verkehrspiloten von heute steckt. Oder gibt es so etwas heutzutage nicht mehr in der Fliegerei?«

Er erwiderte ihr Lächeln und bemühte sich, seine Gedanken zu fixieren. Irgendwo im Hinterkopf wurde er das Gefühl nicht los, das diese »zufällige« Begegnung, ihr aufreizendes Äußeres und das Gesprächsthema nicht richtig zusammen passten.

Aber vielleicht war es ja auch nur die aufkommende Müdigkeit und die Feierabendstimmung, die seine Denkprozesse verkomplizierten.

»Abenteuerlust ...? Ich glaube, wenn Sie sich heute um einen Job als Berufspilot bewerben und als Grund Abenteuerlust angeben, erhöht das Ihre Chancen auf eine Anstellung nicht wirklich.«

Sein Grinsen wirkte ansteckend, das wusste er.

»Aber um auf Ihre Frage zu antworten; solche Notwasserungen mit Verkehrsflugzeugen hat es vorher auch schon gegeben.

Und sie sind alle ziemlich katastrophal geendet.

Und selbst nach der Bilderbuchlandung die Kapitän Sullenburger hingelegt hat, hatte sein Airbus anschließend nur noch Schrottwert.

Es wird mit Sicherheit keine Fluggesellschaft geben, die für so einen Versuch ein Flugzeug opfert. Und die Hersteller mögen es auch nicht, Bilder einer ihrer Maschinen zu sehen, die in Einzelteilen in den Fluten versinkt.

Auch nicht, wenn die Landung selbst funktioniert und die Crew danach freundlich in die Kamera winkt.

Und auch die wenigsten Piloten würden wohl freiwillig so viel riskieren.«

»Ja, da haben Sie sicher Recht«, musste seine Gesprächspartnerin mit leicht enttäuschtem Unterton zugeben.

Sie blickte auf die kleine weiße Uhr an ihrem Handgelenk und schob ihren Stuhl zurück.

»Jetzt muss ich aber los Kapitän Faizal. Es war ausgesprochen nett, mit Ihnen zu plaudern. Aber mein Taxi wartet sicher schon.«

Sie strich ihr Kleid glatt und schien einen Moment zu überlegen.

»Aber ich denke, das mit dem Riskieren ist doch auch immer etwas relativ, oder?«

Der Flugkapitän hatte sich ebenfalls erhoben und streckte ihr zur Verabschiedung die Rechte entgegen.

»Relativ?« Hob er fragend die Augenbrauen.

»Na ja, ich meine viel riskieren kann doch nur derjenige, der viel hat. Wen man kaum noch andere Alternativen hat, kann man doch genau genommen nur gewinnen, oder?«

Er registrierte ihren erstaunlich festen Händedruck und der fast schon erotische Blick mit dem sie ihn ansah, sorgte dafür, dass sein Versuch schlagfertig eine geistreiche Antwort zu finden, scheiterte.

»Ja, wahrscheinlich haben sie Recht ...«, erwiderte er, selbst erstaunt über die für ihn ungewöhnliche Einfallslosigkeit.

»Es hat mich jedenfalls außerordentlich gefreut, Sie kennen zu lernen. Und Sie haben mir noch nicht einmal Ihren Namen verraten.«

»Oh, wie unhöflich von mir. Suzann, nennen Sie mich einfach Suzann.«

»Gerne Suzann.«

»Ach ... «

Sie unterbrach den Versuch, sich zum Gehen zu wenden.

»Vielleicht haben Sie ja heute Abend Zeit und Lust, unser kleines Gespräch fortzusetzen. Ich würde mich freuen.«

»Sicher ...., sehr gerne«, suchte er nach einer intelligenten Antwort. »Mein Rückflug ist erst morgen früh ...«

Der offene Blick, mit dem sie ihm in die Augen sah, trug nicht dazu bei, seine ungewohnte Unsicherheit zu beenden.

»Vielleicht auf meinem Zimmer? Da haben wir etwas mehr Ruhe und ich würde uns eine Flasche Wein kaltstellen. Ich habe Zimmernummer 314, so gegen 9, was denken Sie?«

Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und winkte im Gehen mit der Rechten über die Schulter.

Sein sprachloser Blick folgte ihr etwa einen Meter tiefer.

Und als sich drei Sekunden später die Glastür des Frühstückraums hinter ihr schloss, ließ er sich fast erleichtert auf seinen Stuhl fallen.

»Verdammt Faizal, verdammt, verdammt ...... Ich glaube, du wirst langsam alt.«

Galileo

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