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Dienstag nach Pfingsten

»Guten Morgen, Erich. Wie war dein Wochenende?«

»Morgen, Christine.«

Kommissar Veigl hob kaum den Blick. An einer Hand baumelten Aktentasche und Fahrradhelm, mit der anderen holte er den Lift.

»Schaust müde aus«, stellte Paulig fest.

»Fühl mich auch nicht besonders. Hab mich wohl erkältet.« Schleppend reihte er Wort an Wort. »Ausgerechnet an Pfingsten. Wo ich doch in die Berge wollt.«

»Warst du das ganze Wochenende so schlecht beieinander?«

»Mehr oder weniger.«

Die Aufzugtür öffnete sich und gab den Blick frei auf einen Mann in Anzug, Hemd und Fliege. Er roch nach Aftershave. Ein altmodischer Duft, herb, männlich, unverblümt. Der Mann stieg aus, Kollegen stiegen ein. Bis Veigl in die Gänge kam, war der Lift weg.

»Wieso bist du nicht eingestiegen?«, wunderte sich Paulig.

»Ich glaub, ich geh heut mal zu Fuß. Und du?«

»Falsche Richtung. Ich muss nach unten zu Sabine. Bis später, Erich.«

Mit gebeugtem Rücken, Tränensäcke ausgeprägt wie Jahresringe, schleppte Veigl sich hinauf. Paulig schickte ihm einen freundlichen Gedanken hinterher und wand sich um die andere Seite des Treppenauges nach unten.

An der Tür zur Rechtsmedizin erlebte sie eine Überraschung. Sie war verschlossen. Sie versuchte es erneut, staunte erneut, dann klingelte sie.

»Ja, bitte?«

Sabine Englmachers Stimme aus der Sprechanlage, ein ungewohntes Vergnügen.

»Ich bin’s. Christine.«

»Warte, ich mach auf.«

Der Türöffner summte. Paulig trat ein. Die stellvertretende Leiterin der Rechtsmedizin ließ sie passieren und sah ihr blicklos hinterher.

»Sag mal, seit wann sperrst du dich bei der Arbeit ein?«, fragte Paulig über die Schulter.

»Wahrscheinlich der Praktikant. Was kann ich für dich tun?«

»Was du für mich tun kannst?«, belustigte sich Paulig. »Mir sagen, was du rausgefunden hast, vielleicht?«

»Ach so. Du meinst die Nonne.« Englmacher gab sich einen Ruck, und huschte an Paulig vorbei in ihr Büro. »Dann komm. Mal sehen, was wir für dich haben. Wo hab ich sie denn … Die Nonne. Hier. Was haben wir … Ach ja. Das ist interessant. Sie hat noch gelebt, als sie abgelegt wurde. Der Täter war wohl der Ansicht, sie wäre bereits tot, und hat sich vorzeitig verdrückt.«

»Oder auch nicht.« Paulig war allergisch gegen voreilige Schlüsse. »Vielleicht ist er gestört worden. Hast du die Todeszeit?«

»Donnerstagnachmittag«, las Englmacher vor. »Zwischen drei und vier.«

»So genau?«

»Ja. Die Temperatur in der Kuhle war ziemlich konstant.«

»Schön. Das ist doch schon mal was. Sonst noch etwas?«

»Sie ist an Erbrochenem erstickt. Am Mageninhalt sind wir dran.«

»Aktuelle Verletzungen?«

»Nein. Auch keine äußeren Verletzungen des Unterleibs. Und bevor du fragst: Fremd-DNA unter den Fingernägeln, sind wir dran. Aber sieht nicht danach aus. Die waren frisch geschnitten.«

»Sonstige Kampfspuren?«

»Negativ.«

»Und was ist mit den blonden Haaren, die wir gefunden haben?«

»Eine Sekunde … Was spricht der Schnelltest … Männlich. Alter ungefähr achtzehn Jahre. Plus/minus fünf. Dem Zustand nach müssen die schon länger hier gelegen haben. Besser vergraben. Und Tilman hat sie wohl freigelegt. Willst du wissen, was ich denke? Wahrscheinlich die Reste einer romantischen Liebesnacht.«

»Wie kommst du darauf?«

»Einer der Uniformierten hat mir erzählt, wie sie die Gegend hier nennen. Liebeshölzl.«

»Ja dann. Was ist mit den Kleidern der Nonne? Da irgendwelche relevanten Kontaktspuren? Was sagt die KTU?«

»Ist dran. Im Lauf der Woche bekommst du Bescheid.«

»Schneller geht’s nicht?«

»Keine Ahnung. Da musst du sie schon selber fragen.«

Englmacher hatte ihr Büro verlassen und war auf dem Weg zurück zum Eingang.

Paulig dackelte hinterher.

»Bin ja schon weg.« Sie hatte die Klinke bereits in der Hand. »Stopp. Du hast mir noch nicht gesagt, wie sie erwürgt wurde.«

»Nicht erwürgt. Wie gesagt, die Tat wurde nicht vollendet. Aber es sieht so aus, als hätte er sich vor die Nonne hingestellt und ihr dann mit beiden Daumen den Kehlkopf eingedrückt.«

»Von vorne? Aber dann muss sie sich doch gewehrt haben. Du hast wirklich keine DNA unter ihren Nägeln? Oder Faserspuren?«

»Nein. Aber dass er sie überhaupt von vorne erwürgt hat. So von Angesicht zu Angesicht.«

»Und die hat sich wirklich nicht gewehrt?«

»Christine, bitte. Auch wenn du noch so oft fragst, wir haben keine Abwehrspuren. Ich hab aber eine Vermutung, die das erklären könnte. Wenn er ihr das Genick gebrochen hat, was per se nicht tödlich sein muss, könnte es sein, dass er dabei bestimmte Nervenbahnen erwischt hat, worauf sie ohnmächtig geworden ist. Das würde auch erklären, dass er sie halb tot liegen hat lassen. Ich prüf das, wenn ich Zeit habe. Das heißt, wenn Uwe Zeit hat.«

»Könnte das Absicht gewesen sein?«

»Glaub ich nicht. Welchen Sinn sollte das haben. Möglich wär’s natürlich, nur nicht sehr wahrscheinlich. Das perfekt zu dosieren. Nein, glaub ich nicht.«

»Also eher nicht.« Pauligs Gesichtsausdruck wechselte von nachdenklich zu neugierig. »Wer ist eigentlich Uwe?«

»Der neue Praktikant. Sehr engagiert. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er bleibt. Aber jetzt sei mir nicht böse, ich muss wieder an die Arbeit.«

An einem der hinteren Seziertische stand ein gepflegter Vollbart und rauchte.

Englmacher folgte Pauligs Grinsen und lief rot an.

»So. Jetzt aber wirklich raus mit dir. Es gibt hier nämlich Leute, die noch was anderes zu tun haben als sich haltlosen Verdächtigungen hinzugeben.«

»Haltlos? Dann bin ich ja beruhigt.«

Sabine verliebt, mal was anderes.

Am Treppenabsatz begegnete ihr Yasmin Schäfer-Kaan, die junge Staatsanwältin, gesegnet mit dem Teint des Orients, einem bollywoodreifen Augenaufschlag und dem Titel eines der blutigsten Herrscher des Orients. Kaan, ein Name wie ein Vulkan. Aber sie war, um im Bilde zu bleiben, eher das Reh, das zu seinen Füßen lebt. In einem Wald aus Gesetzen, märchenhaft verschnörkelte darunter, dann wieder große und starke, für die Ewigkeit geschaffene, sodass man sich nur verneigen konnte. Wenn nicht die verehrte Hauptkommissarin immer mal wieder in ihre Betrachtungen fahren würde. Immer in bester Absicht, die prinzipiell auch die ihren waren, aber laut Paulig manchmal nicht zu erreichen, ohne hin und wieder die Axt anzulegen an ein minderes Gewächs. Güterabwägung, eigentlich Alltag in der Rechtssprechung. Für Schäfer-Kaans unbestechlichen Geist jedes Mal eine Herausforderung.

»Hallo, Yasmin.«

»Was? Ach so. Hallo, Christine. Entschuldige bitte, aber ich bin etwas in Eile.«

Das Reh machte ein unschuldiges Gesicht, zupfte sich noch schnell am linken Ohrläppchen und huschte an ihr vorbei nach unten. Paulig schaute hinterher, es kam nicht oft vor, dass man die junge Staatsanwältin den Weg in die Rechtsmedizin nehmen sah, und trabte weiter durch die Geschosse.

Ihr erster Blick im Büro galt der Kaffeemaschine. Der nächste Würfel. Er kam von außerhalb, immer mit der gleichen S-Bahn. Man hätte die Uhr nach ihm stellen können.

»Morgen, Tilman. Wie war dein Wochenende? Wart ihr weg?«

»Pfingsten?!« Gerade dass er nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlug. »Was meinst du, was da los ist auf der Straße. Nein. Am Sonntag waren wir bei den Schwiegereltern und am Montag gemütlich daheim. Und du?«

»So ähnlich. Nur ohne Schwiegereltern. Ist was reingekommen über die Feiertage?«

»Nur dass wir jetzt wohl wissen, wer die Nonne ist. Eine Seniorenresidenz Schwanthalerhöhe hat angerufen. Die vermissen eine Schwester Zerafina. Mit bürgerlichem Namen Emerenz Mühlmann. Die Heimleiterin ist unterwegs.«

»Von wegen vermisst.« Paulig wartete auf das Hochfahren ihres Rechners. »In der Zeitung hat gestanden, dass seit Donnerstag ein Schüler vermisst wird. Ist der schon wieder aufgetaucht?«

»Du meinst den schwedischen Austauschschüler. Soweit ich weiß, nicht. Hab mich aber nicht weiter damit beschäftigt. Vielleicht hat’s ihm hier nicht gefallen, und er ist ab nach Hause.«

Würfel war mehr Vater als irgendwas sonst. Mit der Vorstellung, dass es anders sein könnte, mochte er sich gar nicht erst abgeben.

»Möglich. Wann sagtest du, wollte diese Heimleiterin kommen?«

»Frau Unterbichler. Gleich nachdem sie angerufen hat, wollte sie los. Sollte eigentlich … Herein!«

Tanja Nadine Marie Unterbichler, klein von Wuchs, mit lebhaften Augen und identischem Auftreten, die Röllchen auf den Hüften geschickt kaschiert von einem weißen Jackett mit Schößchen, stöckelte in den Raum, blieb stehen und machte ein fragendes Gesicht. Paulig deutete schnell auf Würfel und dachte, fehlt nur noch, dass sie piepst. Sie wurde nicht enttäuscht.

Frau Unterbichler öffnete ein strassbesetztes Täschchen, hielt Würfel ihren Ausweis vor die Nase und kam umgehend zur Sache. Es wäre absolut nicht nachvollziehbar, wie Schwester Zerafina in den Höhenkirchner Forst gekommen sei. Ihres Wissens hätte sie keinerlei Kontakt nach draußen gehabt. Auch nicht innerhalb. Wenn also überhaupt, und irgendwer müsse es ja wohl gewesen sein, dann jemand, den sie von früher her kannte. Mit einem Wildfremden würde sie ja wohl kaum in den Wald gegangen sein. Das sage doch schon der gesunde Menschenverstand. Und wenn doch, es wären schließlich freie Menschen. Die Handtasche bebte, ein Ruck ging durch ihren Körper, vom Schühchen übers Schößchen, hinauf zum Näschen. Schließlich dürfe man sich das Seniorenheim nicht als geschlossene Anstalt vorstellen, und die Senioren nicht als homogene Masse. Beim Thema angekommen, startete sie durch. Nur weil jemand alt sei, hieße das noch lange nicht, dass er seine Persönlichkeit verloren habe. Auch wenn es manchmal so aussähe. Was daher käme, dass er sich vielleicht nicht mehr so artikulieren könne, was sie so aber auch nicht stehen lassen wolle, weil hier oft genug Können mit Wollen verwechselt würde. Wobei das ein Punkt wäre, und beileibe nicht der einzige, das wolle sie nicht verhehlen, an dem Wollen und Können sich gerne überlappten. Aber nach einem langen Leben habe man sich schließlich Ruhe verdient, und Respekt. Schließlich wäre es durchaus eine Leistung, alt zu werden. Das würde nicht jedem gelingen, vor allem nicht gesund …

Paulig hing bei der Frage, wie man sich ein langes Leben verdienen könne, aber vor allem, wie Würfel es anstellen wollte, den Redeschwall dieser Kämpferin für ein ehrenvolles Alter zum Thema zurückzuführen. Tanja Nadine Marie Unterbichler, wie kam man nur zu so einem Namen.

Fast hätte sie es verpasst.

»Nehmen Sie zum Beispiel Schwester Zerafina. Eigentlich wollte sie sich ja um die Sterbenden kümmern. Aber sie hat schnell gemerkt, dass das ihre Sache nicht war.«

»Was heißt das«, hakte Würfel schnell ein. »Dass sie keine Lust hatte?«

»Wenn man es so ausdrücken will«, erwiderte Unterbichler spitz.

»Komisch. Ich dachte immer, Nonnen wären anders. Barmherzigkeit. Nächstenliebe. Aufopferung?«

»Aber das ist doch das, was ich gerade gesagt habe. Das gilt genauso für Nonnen. Auch bei denen gibt es solche und solche.«

»Und was hat sie dann so gemacht den lieben langen Tag?«

Würfel blieb bei seinem leicht sarkastischen Ton. Er war zu Recht der Ansicht, mit Allgemeinplätzen nicht weit zu kommen.

»Was Leute eben so machen, wenn sie nicht mehr arbeiten müssen. Spazieren gehen, Kaffee und Kuchen, Spiele spielen. Lesen. Sich bilden. Theater, Oper. Wie gesagt, außer dass sie keiner Arbeit mehr nachgehen müssen, leben sie genauso ihr Leben wie Sie und ich auch.«

Er dachte an seine Eltern und Schwiegereltern. Wenn sie eines nicht taten, dann ein Leben führen wie er. Er wusste nicht, was sie den ganzen Tag so zusammenlebten, aber viel anfangen konnten sie nicht mit sich. Von wegen Theater, Oper.

»Männerbekanntschaften?«

»Ich denke, da geht jetzt wohl die Fantasie mit Ihnen durch.« Frau Unterbichler verscheuchte eine imaginäre Fliege aus ihrem Luftraum. »Schwester Zerafina war Mitte achtzig. Außerdem, so lange eine Nonne die Tracht trägt. Aber auch so ein Punkt, Sex im Alter. Darauf gehe ich jetzt aber nicht auch noch ein. Ist ja auch eher Geschmacksache, nicht?«

Würfel dachte an kopulierende Walrösser und machte ein interessiertes Gesicht.

»War’s das?«, fragte Frau Unterbichler in den Raum. »Ich müsste langsam wieder zurück.«

»Einen Moment noch«, stellte Paulig schnell eine Frage, die ihr gerade in den Sinn kam. »Woher hatte Schwester Zerafina eigentlich das Geld für die Unterbringung? Ich denke, so billig wird das nicht sein bei Ihnen.«

»Geschenkt nicht. Aber teuer auch nicht. Das Apartment von Schwester Zerafina zum Beispiel kostet so um die sechzehnhundert Euro. Aber bitte sagen Sie nicht Unterbringung. Das hören wir nämlich nicht so gerne.«

»Entschuldigung. Und woher kam das Geld?«

»Ist das wichtig? Reich war sie jedenfalls nicht, wenn Sie das meinen. Das Einzige, was sie sich geleistet hat, sind Theaterbesuche und jedes Jahr ein, zwei kleine Reisen.«

Unterbichlers Handy klingelte.

»Typisch. Kaum bin ich mal fünf Minuten nicht am Platz.«

Der Blick aufs Display signalisierte Wichtigkeit.

»Wenn das alles ist?«

»Von meiner Seite aus können Sie gehen. Tilman?«

Würfel nickte.

»Schön. Auf Wiedersehen.«

Unterbichler sprang auf, klemmte ihr Täschchen unter den Arm, gab Pfötchen, genauso fühlte es sich an, mit dem anderen führte sie ihr Handy ans Ohr.

»Hallo? … Hallo? … TNM, wer denn sonst … Auf dem Weg … Gleich.«

Nach dem zweiten Versuch, sich mit dem Täschchen in der Hand die Türklinke zu angeln, nahm sie es kurzerhand zwischen die Zähne, warf einen Blick zurück auf Würfel, so ein Stiesel, wer den erzogen hat, hat wohl auch Kosten und Mühen gescheut, ließ die Türe offen und fauchte ins Telefon.

»Gleich. Zehn Minuten. Aber jetzt hör zu …«

Den Rest des Vormittags arbeiteten sich die beiden Kommissare durch die Mails vom Wochenende, studierten Zerafinas Leben, die Strecke von der Seniorenresidenz zum Höhenkirchner Forst, Kollegen kamen vorbei, holten sich Akten, brachten Ermittlungsergebnisse zu aktuellen Fällen, und Staatsanwältin Schäfer-Kaan Gebäck, so pappsüß, dass allein der Anblick einen Insulinschock auslöste. Gegen Mittag rief Paulig die Kriminaltechnik an, aber die hatten noch nicht einmal angefangen. Auch aus der Rechtsmedizin keine Neuigkeiten. Der vorsichtig angebrachte Hinweis, Sabine wollte sich doch noch einmal das Genick der Toten anschauen, traf nicht gerade auf Begeisterung. Irgendetwas war heute definitiv anders als sonst. Sollte sie wirklich verliebt sein, wäre das ein Grund, aber dazu klang sie nicht euphorisch genug.

Paulig unterließ es, sie darauf anzusprechen, legte auf und ging zum Fenster.

Die Tat war fünf Tage her. Wie heißt es so schön? Entweder es geht schnell, oder es zieht sich. Man konnte es aber auch anders sehen: Tag eins nach Pfingsten. Wenn die Leute zurück wären in ihren jeweiligen Alltagen, würde sich der ein oder andere bestimmt erinnern. Von der Seniorenresidenz zum Forst gab es tausend Möglichkeiten aufzufallen, besonders als Nonne. Irgendwer wird sie schon gesehen haben. Aber wer bringt eine Nonne um? Sie konnte sich an keinen aktuellen Fall erinnern, schwang sich wieder an ihren Rechner und durchforstete die polizeilichen Datenbanken, googelte drei getötete Schwestern in Burundi, eine in Somalia und eine singende Ursuline in einer italienischen Talentshow. Bin schon gespannt, dachte sie, wann ich lese, dass sie die Tracht ausgezogen hat und ein fideles Leben als singende Exnonne führt. Aber kein Fall in Deutschland. Weder singend noch aus anderen Gründen ums Leben gebracht. Vergewaltigt wurde sie nicht, Bargeld scheidet auch aus, in einer Rocktasche waren fünfzig Euro. Vielleicht ein pralles Bankkonto, an das jemand wollte, es nicht schaffte und sie aus Frust umbrachte. Aber waren Nonnen nicht zur Armut verpflichtet? Sie bat Würfel, das zu klären.

Sechzehnhundert Euro Miete, sinnierte sie, für einen Platz in einer Seniorenresidenz.

Ihre Eltern wohnten in Oberau, einer Gemeinde kurz vor Garmisch, und dachten gar nicht daran, alt zu werden. Paulig dagegen war Realistin. Und sechzehnhundert Euro wären kein Problem. Auch deutlich mehr, wenn sie dann immer noch zu zweit wären. Und in ihrer Nähe wären sie dann auch.

»Tilman? Ich geh in die Kantine. Kommst du mit?«

»Nein. Du weißt doch, ich hab mein Essen dabei.«

»Dann wegen der Bewegung. Wieso gehst du nicht ein bisschen raus? Joggst ein bisschen.«

»Joggen?«, wiederholte Würfel verständnislos.

»Ja. Warum nicht? Ich kann dir schließlich nicht bei jeder Tauglichkeitsprüfung …«

»Ist ja gut. Ich komm ja schon.«

In der Kantine war nicht viel los. Das schöne Wetter zog die meisten nach draußen. Würfel hatte nicht vor, es ihnen gleichzutun. Außerhalb seiner eigenen vier Wände gab es für ihn nur einen Ort, an dem sich alles richtig anfühlte, hinter seinem Schreibtisch. Er zog sich eine Cola und schlurfte zurück zum Eingang. Aber anstatt die freie Hand aus der Hosentasche zu nehmen, drehte er den Oberkörper ein, schob mit dem Hintern die Türe auf und drehte sich wieder aus. So selbstverständlich wie elegant, und gäbe es einen Wettbewerb in der Kategorie ›Anmut in der Vermeidung überflüssiger Bewegungsabläufen‹, Würfel wäre mit Sicherheit ganz vorne dabei.

Paulig stellte ihren Salat zusammen und zahlte. Am anderen Ende saßen Schäfer-Kaan und Englmacher, die Köpfe zusammengesteckt wie Teenager. Paulig dachte an Uwe, den neuen Praktikanten, und fummelte sich durch die Tische und Stühle.

Sie verhielten sich anders als erwartet.

Die junge Staatsanwältin bekam einen roten Kopf, Englmacher räusperte sich.

»Hallo, Christine.«

Als hätten sie sich ewig nicht gesehen.

»Na, ihr zwei beide«, gab sie ebenso gestelzt zurück. »Irgendwas Besonderes?«

»Nein. Warum? Was soll sein?«

»Ehrlich gesagt, ihr macht mir den Eindruck.«

»Also, ich wüsste jetzt nicht, was du meinst.«

Aber anstatt Paulig einen Platz anzubieten, stierte Englmacher nur weiter vor sich hin.

»Soll ich mich woanders hinsetzen? Ich möchte echt nicht stören. Wenn ihr was zu besprechen habt, kein Problem. Ihr müsst es mir nur sagen.«

Paulig ließ ihren Blick noch ein paarmal zwischen den beiden pendeln und gab auf.

»Wisst ihr was, das ist mir jetzt doch zu blöd mit euch zwei.«

»Aber nein. Bleib doch.« Schäfer-Kaan war anzusehen, wie sie litt. »Sabine. Ich meine, Christine ist schließlich nicht irgendwer. Ist doch nichts dabei. Ist doch nur …«

»Vermutlich hast du recht.« Die Gerichtsmedizinerin warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, aber da war nur die Wand und ein mumifizierter Gummibaum. »Aber nicht hier. Nach dem Essen bei mir.«

»So schlimm?«, grinste Paulig. »Hat wer Mist gebaut? Sabine? Komm, lass dich nicht so betteln.«

»Es geht um einen Fall.«

»Einen Fall? Von dem ich nichts weiß? Da bin ich ja mal gespannt. Hast du deshalb deinen Laden seit Neuestem abgesperrt?«

»Ja. Aber jetzt entschuldigt mich. Ich muss erst noch mit Bernhauer reden. Dann bis gleich bei mir.«

Paulig vertiefte sich in ihr Grünzeug, Schäfer-Kaan in ihr schlechtes Gewissen. Mit der erfolgreichsten Kriminalbeamtin des Landes, einer Frau, die Rechtsgeschichte geschrieben hatte, so umzugehen, war einfach nicht korrekt. Lustlos knabberte sie an den Resten ihres Schnitzels und erinnerte sich an den Fall des Doppelmörders Alfons Stockinger, und wie Paulig als Reaktion auf das skandalös milde Urteil den Dienst quittierte und erst Jahre später zurückkehrte. Das hätte sie nie gekonnt. Loyalität ging ihr über alles. Als Paulig fertig gegessen hatte, war sie froh, endlich aufstehen zu können. Vor der Tür zur Rechtsmedizin blieben sie stehen.

»Schon komisch, gell?«, übte Schäfer-Kaan sich in Unbefangenheit.

»Ja«, grollte Paulig. »Wie bestellt und nicht abgeholt.«

Englmacher öffnete und sperrte gleich wieder ab.

»Geht in Ordnung. Aber ab jetzt absolute Funkstille.«

Ihre brennende Mähne verschwand zwischen zwei seitlich versetzten Stellwänden. Schäfer-Kaan und Paulig gingen außen herum. Vor den Seziertischen vier und fünf blieben sie stehen.

»Sind sie das? Ist das dein geheimer Fall?«

Ehe Sabine »Vorsicht, es könnte sein, dass die kontaminiert sind« rufen konnte, hatte Paulig bereits eines der Laken in der Hand.

Die Türglocke meldete den nächsten Besucher. Oberstaatsanwalt Maximilian Bernhauer.

Er sieht müde aus, stellte Paulig fest.

Die beiden waren seit vielen Jahren befreundet. Seit dem Fall eben jenes Mörders, bei dem es ihr nicht gelang, über ihren Schatten zu springen. Für ihn, der aus Gründen der Weisungsgebundenheit oft genug nicht konnte wie er wollte, ein Geschenk. Nur mit einer Mitarbeiterin wie ihr war es ihm möglich, dieses absurde Gesetz, das es so nur noch in Tschechien und Österreich gibt, zu unterlaufen. Umso mehr befremdete es Paulig, dass hier offensichtlich ein Fall in Bearbeitung war, von dem er sie absichtlich fernhielt.

»Und«, fuhr sie ihn an. »Was ist jetzt so geheim an der Geschichte? Darf ich dich erinnern, dass ich die Chefin der Mordkommission bin? Oder um was geht es hier?«

»Um nichts«, beschwichtigte Bernhauer. »Wir untersuchen lediglich zwei Tote.«

»Und warum macht ihr dann so eine Staatsaffäre draus?«

»Staatsaffäre? Wie kommst du denn darauf?«

Bernhauer warf Englmacher einen verblüfften Blick zu, den diese mit einer abwehrenden Handbewegung beantwortete, zupfte sich an der Nase und nahm Kurs auf ihr Büro.

»Christine? Kommst du bitte? Wenn die Damen uns einen Augenblick entschuldigen würden?«

Er drückte die Türe zu und kam direkt zur Sache.

»Die beiden, die man uns da auf den Tisch gepackt hat, sind ein verstorbener Expolitiker und seine Frau. Die zuständige Regierung hat die Bundesregierung gebeten, sie untersuchen zu lassen. Erstens weil sie ihrer eigenen Gerichtsbarkeit nicht traut, und zweitens weil das unter keinen Umständen publik werden darf. Und, um deine Frage vorwegzunehmen, ich bin nicht befugt, dir zu sagen, um wen es sich handelt.«

Paulig drehte sich zum Sezierraum. Die Wand war aus Glas, halbhoch satiniert.

»Die wissen auch nicht mehr«, winkte Bernhauer ab. »Hier im Haus bin ich der Einzige, der die Identität der beiden kennt. Aber ich kann dich beruhigen, es ist kein Politiker von aktueller Relevanz. Du würdest ihn wahrscheinlich nicht einmal kennen. Auf jeden Fall, jetzt liegen sie bei uns, wir untersuchen sie, und dann sind sie auch schon wieder weg. Und keiner hat was gesehen oder gehört.«

»Das ist alles?«

»Ehrlich gesagt, mir reicht das.«

»Nur weil Sabine vorhin gemeint hat, die wären vielleicht kontaminiert.«

»So. Hat sie das.«

Er fasste sich erneut an die Nase. Die Angelegenheit schien ihn mehr zu beschäftigen, als er zugeben wollte. Als er sich entschieden hatte, ließ er los.

»Du erinnerst dich doch bestimmt noch an den Fall Alexander Litwinenko, den Kremlkritiker. November 2006. War damals in allen Medien.«

Paulig wusste, wie er es gerne hatte, wenn er seinen Dozententon anschlug: Aufmerksames Schweigen und an den passenden Stellen andächtiges Nicken.

»Es gibt da gewisse Ähnlichkeiten. Die Mediziner gingen ja erst davon aus, dass es sich um Thallium handelt. Erst kurz vor seinem Tod hat man entdeckt, dass es Polonium war, was ihm aber auch nichts geholfen hätte. Das nur nebenbei. Bei Arafat hat man übrigens Ähnliches angenommen. Das Problem an dem Zeug ist nur, dass es extrem flüchtig ist. Aber auch wenn man es nicht mehr direkt nachweisen kann, so gibt es doch Indikatoren. Das eine ist der Krankheitsverlauf, das andere medizinisches Fachchinesisch. Auf jeden Fall«, er vollführte eine Armbewegung, die bei einer Blaskapelle unweigerlich zu einem Tusch geführt hätte, »warum der Fall ausgerechnet bei uns gelandet ist, keine Ahnung. Wahrscheinlich wollte unser Ministerpräsident wieder einmal dezent darauf hinweisen, dass Bayern auch hier Weltspitze ist. Du kennst ja seine Sprüche. Schlicht ausgedrückt, wir haben die Möglichkeiten, die Mittel und das Personal. Was ich sagen will, bei uns wird schließlich noch richtig geforscht. Hast dich wohl schon auf einen spannenden Fall gefreut. Tut mir leid. Was macht eigentlich deine Nonne?«

»Wie? Ach so. Wir sind dran.«

»Noch was. Falls dir so ein geschniegelter Heini über den Weg läuft, mit Anzug und Fliege, das ist der zuständige Staatssekretär. Harry Pfahlrichter. Wenn du ihn siehst, geh ihm besser aus dem Weg.«

»Warum?«

»Ein Wichtigtuer. Steckt überall seine Nase rein.«

»So ein gut aussehender Großer?«

»Gutaussehend?« Bernhauer legte seine Stirn in Falten. »Wenn du meinst. Aber wie gesagt, am besten du vergisst das alles gleich wieder. Ist kein Fall, und wird auch keiner werden. So. Ich muss wieder.«

Mit einem knappen Nicken verließ Oberstaatsanwalt Bernhauer die Rechtsmedizin und eilte zum Aufzug, Paulig und Schäfer-Kaan nahmen die Treppe. Schweigend gingen sie nach oben.

Pauligs Büro im Blick fasste die Jüngere sich ein Herz.

»Schon komisch, dass er dich nicht eingeweiht hat. Ich mein, was ist denn dabei?«

»Warum sollte er«, tat Paulig ab. »Es gibt ja keinen Grund. Und je weniger davon wissen, umso geringer die Gefahr, dass was durchsickert. Wenn ihr nicht so geheimnisvoll getan hättet … «

»Du bist jetzt aber nicht sauer oder so?«, kam Schäfer-Kaan auf den Punkt, wischte eine imaginäre Strähne aus der Stirn und klemmte sie sich hinters Ohr.

»Nein. Warum? Lag ja nicht an euch.«

Das Reh atmete auf, Paulig öffnete die Tür.

»Du kommst gerade richtig. Die KTU hat angerufen«. Würfel legte den Hörer auf die Gabel. »Die gesicherten Reifenspuren sind von einem Geländewagen. Typ ist in Arbeit.«

»Schön. Was tut sich mit Zeugenaussagen?«

»Immer noch nichts. Aber der Tatort liegt nicht gerade auf dem Präsentierteller. Ringsum nur Wald. Das nächste Haus ist mindestens zwei Kilometer entfernt.«

»Gut. Dann würde ich sagen, schauen wir uns noch mal diese Seniorenresidenz an.«

»Warum? Meinst du, die Kollegen haben was übersehen?«

»Nein. Aber ich mach mir lieber selber ein Bild. Außerdem wollte ich mir schon länger mal so was anschauen.«

»Für dich?«, feixte Würfel.

»Das hättest du wohl gerne. Für meine Eltern. Abgesehen davon, die Zeit vergeht schneller als man denkt.«

Nach der zweiten Runde fragte Würfel Frau Unterbichler, ob sie vielleicht einen der Behindertenparkplätze nehmen dürften. Sie wollten sich noch einmal umschauen und vielleicht ein wenig unterhalten mit dem ein oder anderen Insassen, würde nicht lange dauern. Unterbichler hatte nichts dagegen, verwahrte sich allerdings gegen den Ausdruck Insassen. Soweit sie sich erinnere, hätte sie bereits heute Morgen darauf hingewiesen, dass es sich hier um eine Seniorenresidenz handle und nicht um eine Verwahranstalt. Und sie sollten es bitte nicht übertreiben. Ihre Residenten wären in einem Alter, in dem man auf Überraschungen nicht mehr unbedingt positiv reagiere, noch weniger darauf, permanent von der Polizei belästigt zu werden. Irgendwann müsse auch wieder Schluss sein.

»Residenten?« Paulig hatte gewartet, bis Würfel aufgelegt hatte. »So toll ist der Laden nun auch nicht.«

Der Laden war aus den Siebzigern, die Einrichtung größtenteils original. Im Eingangsbereich verrichtete ein mannshoher Wasserfall sein beruhigendes Werk. Von den Decken hingen orangefarbene Kugellampen, in drehbaren Plastikschalen versanken Bewohner und Gäste, Teppichböden so weit das Auge reichte, Grundfarbe orange-braun. Das Modernste an dem Haus schien die automatische Schiebetür zu sein, die noch richtig zischte, wenn man ihr zu nahe trat.

Paulig versuchte, sich auszumalen, wie es wäre, hier den Rest seiner Tage zu verbringen. Das Ergebnis überraschte. Und auch wieder nicht, wenn man bedachte, wann die Bewohner ihre aktive Zeit hatten. Und was es hier alles gab. Einen ausgewachsenen Supermarkt, einen großen Friseursalon, mehrere Arztpraxen, Klavierzimmer, Leseräume, Meditationsräume, zwei Restaurants und Deutschlands höchstgelegene Sauna. Mit ihrer Vorstellung eines Altersheims hatte das nicht viel zu tun. Auch nicht das Personal. Lauter junge Leute, auffällig gut gelaunt. Aber wie sollte sie ihre Eltern dazu bringen, sich das wenigstens mal anzuschauen? Ihre Mutter bekam ja schon Schnappatmung, wenn sie nur das Wort Pflege aussprach, geschweige denn Heim.

Würfel besorgte den Schlüssel zu Zerafinas Apartment, Paulig fragte sich schon mal unauffällig nach oben. Alle kannten Schwester Zerafina, doch niemand näher. Keiner konnte etwas Schlechtes über sie sagen, aber auch nichts Gutes. Eine Frau ohne Eigenschaften. Dass sie jemals in Begleitung gewesen wäre, auch daran mochte sich niemand erinnern. Ein Servicetrupp, der ihr auf dem Marsch durch die Geschosse begegnete, hatte ebenfalls nicht viel zu sagen über die Frau im Ornat. Sie hätte nie Probleme gemacht, ihr Apartment kaum Arbeit. Nicht übermäßig dankbar wäre sie gewesen, eher weniger, aber nicht unhöflich.

Ihre Flurnachbarn waren ausgeflogen. Nur einer öffnete, aber der war schwerhörig und gab an, nur selten seine Höhle zu verlassen. Die Ordensschwester hätte er gekannt, vom Wegsehen.

Paulig brach das Siegel und trat ein. Der Anblick deckte sich mit ihren Erwartungen. Ein Tisch, zwei Stühle, Nachtkästchen, Schrank, Bett, ein Kreuz, alles aus hellem, strukturlosem Holz. Besonders war ein Betstuhl an der Wand. Ebenso zweckmäßig, ebenso schlicht. Aber weder eine Figur, noch ein Bild, keine Vase, nicht einmal ein Blumentopf auf dem Fensterbrett, oder wenigstens das Bild des aktuellen Papstes. Nur eine abgegriffene Bibel und eine Tischkerze, die in ihrem Leben nur einmal kurz gebrannt hatte, bewiesen, dass hier ein Mensch gelebt hatte. Jeder Blick warf einen auf sich selbst zurück.

Würfel schien ähnlich zu empfinden. Blitzartig hob er die Bettdecke, als hegte er für einen Moment die verrückte Hoffnung, dass sich darunter ein Teddybär versteckt hielt.

Eine Klosterzelle, überlegte Paulig. Es nennt sich Apartment, aber in Wirklichkeit ist es eine Klosterzelle. Der Gedanke hatte eine klärende Wirkung und machte zugleich neugierig. Ich war noch nie in einem Kloster, dachte sie erstaunt. Wir leben in einer Welt, in der es seit Jahrhunderten von Klöstern wimmelt, und ich war noch nie in einem drin.

»Was meinst du, Tilman? Die einen ermitteln im Hier und Jetzt, und wir schauen uns derweil ihre Vergangenheit an?«

»Das war eine Nonne.« Würfel schnitt ein Gesicht, als müsste er seiner ältesten Tochter noch einmal die Grundrechenarten beibringen. »Die hatte keine Vergangenheit. Die ist irgendjemandem in die Quere gekommen, hat vielleicht irgendetwas gesehen. Wo soll die eine Vergangenheit haben?«

»Das kann ich dir sagen. In Niederbayern. Aber du musst nicht, wenn du nicht willst. Aber schade wär’s natürlich. Oder warst du schon einmal in einem Kloster?«

»Sollte ich?«

»Na ja. Nennt sich Kulturgut. Aber jetzt komm. Fahren wir.«

»Was? Heute noch?«

»Nein. Ins Büro.«

Paulig saß am Steuer, Würfel telefonierte.

»Das war Ötzi. Erich hat sich krank gemeldet. Er sagt, du wüsstest Bescheid.«

»Ja. Frag mich sowieso, warum er nicht gleich daheimgeblieben ist.«

Paulig erinnerte sich an Veigls Reaktion auf die tote Nonne.

Wenn es den einen Augenblick gab, an dem er sich erkältet hatte, dann der.

In breiten Bahnen floss die Sonne über Häupter und Rücken. Langsam stand Zerafina auf. Noch tiefer drückten sich die Schüler in ihre Bänke. Auch das letzte Quäntchen Unruhe, ohne den ein Raum voll Kinder aufhört ein Ort zu sein, versiegte im Meer der Befürchtungen. Sie war so gut wie vorbei. Wem würde sie ihre Aufmerksamkeit schenken? Millimeterweise drehte er seinen Kopf. Schon hatte sie ihn am Schopf gepackt und aus der Bank gezerrt. Mit der linken Hand hielt sie ihn fest, mit der anderen schlug sie zu. Zuckte er bei den ersten Schlägen noch zusammen, bemerkte er schnell, dass er sich damit praktisch selbst an den Haaren riss. Als nur noch seine Beine im Takt der Einschläge bebten, hörte sie auf zu schlagen und zog ihn stattdessen beidhändig an den Haaren. Bis er auch dieses Spiel durchschaute und begann, die angedachten Richtungswechsel möglichst gut mitzugehen, besser noch vorauszuahnen. Nachdem Zerafina fand, dass es gut war, schlug sie ihn zu Boden, dann durfte er gehen und sich das Blut von den Schläfen waschen.

»Ich weiß bis heute nicht, warum. Wissen Sie noch, was ich da angestellt habe?«

»Nein. Aber wie gesagt, nichts geschieht ohne Grund und ohne dass Gott das so will.«

»Schade. Ich hatte gehofft, Sie würden sich vielleicht noch daran erinnern.«

»Nein. Aber auch wenn wir heute nicht mehr wissen, was der Anlass war, vergiss nie, es hat dazu beigetragen, dich zu dem zu machen, der du heute bist.«

»Ja. Da haben Sie sicher recht.«

»Warum lachst du?«

»Ich lache nicht. Das würde ich mir niemals erlauben. Es ist nur, weil Sie so recht haben.«

»Das ist natürlich was anderes. Du weißt, ich kann immer noch in deine Seele blicken.«

»Ich weiß. Und was sehen Sie da?«

»Dass aus dir etwas geworden ist. Aber hüte dich. Der Herr gibt, der Herr nimmt aber auch wieder. Ganz wie es ihm gefällt.«

»Und was heißt das konkret? Bei mir? Können Sie das auch sehen?«

»Bei dir? Um es mit der heiligen Jungfrau von Orleans auszudrücken: ›Hochmut ist’s, wodurch die Engel fielen, woran der Höllengeist den Menschen fasst.‹ Bist du hochmütig?«

»Nein. Ich nehme nur den Platz in Gottes Weinberg ein, auf den er mich gestellt hat.«

»Das hast du schön gesagt. Ganz so wie du es bei mir gelernt hast. Bist du dann aber auch zufrieden mit dem Platz, den er dir zugewiesen hat?«

»Ja. Sehr. Auch wenn es nicht immer einfach ist.«

»Wie heißt es weiter? ›Wen der Herr liebt, den prüft er.‹ Also mach schön weiter, und hadere nicht.«

Böse

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