Читать книгу Böse - Dieter Weißbach - Страница 8
ОглавлениеDonnerstag
Wenn vor der letzten Kurve keine Bremslichter auftauchten und sie dachte, gleich bin ich da, man hätte die Stoppuhr danach stellen können, die beiden Türme der Frauenkirche vor der Nase, zack, stand sie im Stau.
Sie hörte zweimal die Nachrichten, wurde beinahe von einem Porschefahrer touchiert, der ständig zwischen den Spuren wechselte, lauschte dem Monolog eines weiblichen Cabriofahrers – entweder war der Mensch am anderen Ende klinisch tot oder ebenfalls eine Stewardess –, räumte das Armaturenfach aus, entdeckte einen alten Augenbrauenstift, die Farbe passte, klappte die Sonnenblende nach unten …
»Tilman? Was gibt’s?«
»Morgen, Christine. Wo bist du?«
»Im Stau. Gibt’s Neuigkeiten?«
»Ja. Und ich denk, im Lauf des Tages kommt bestimmt noch mehr rein. Er ist überall der Aufmacher.«
»Im Radio auch«, bestätigte Paulig und setzte zum zweiten Mal an. »Und?«
»Ein Bauer, der den Jungen gesehen haben will. Der Zeitpunkt passt, und er hat ihn auch ziemlich gut beschrieben. Vor allem das Rennrad.«
»Wo?«
»Zwischen Sauerlach und Otterloh, ungefähr neun Kilometer vom Fundort.«
»Das klingt doch vielversprechend. Dann lassen wir die Kollegen weiter von Haus zu Haus gehen, und wir kümmern uns derweil um die tote Nonne. Stellst du alles zusammen? Und meldest uns schon mal im Mutterhaus von Schwester Zerafina an?«
»Mutterhaus? Heißt das wirklich so?«
»Keine Ahnung. Ist mir eben so eingefallen. Aber ich denk schon.«
»Und du meinst wirklich, wir müssen da hin?« Würfel verzog das Gesicht, als hätte er auf Ungeziefer gebissen. »Ich denk immer noch nicht, dass wir ihren Mörder in der Vergangenheit finden.«
»Wenn du nicht willst, ich kann auch alleine fahren.« Du wirst jetzt doch nicht schon wieder bockig sein? »Aber dann muss ich dich immer anrufen, wenn ich was wissen will. So nimmst du alles mit, und wir arbeiten unterwegs weiter. Sieh es einfach als Ausflug.«
»Ein Ausflug? Nach Niederbayern?«
»Schöner als Eching ist es allemal.«
»Wenn’s danach geht …«
»Fein. Ich freu mich. Bis gleich.«
Paulig lächelte sich ein letztes Mal an und klappte die Sonnenblende hoch.
Die nächste Nummer auf dem Display ihrer Freisprechanlage gehörte zum Büro der Staatsanwaltschaft.
»Christine?«, krächzte Schäfer-Kaan.
»Guten Morgen, Yasmin. Was gibt’s?«
»Wo steckst du?«
»Im Stau«, antwortete Paulig und dachte, die hat wohl einen Rasenmäher gefrühstückt. »Bin aber gleich durch. Dann fahr ich weiter nach Frauenau, in das Mutterhaus von Schwester Zerafina.«
»Mutterhaus? Heißt das wirklich so? Egal. Sag mal, du erinnerst dich doch noch an gestern? An die blonden Haare, die ihr im Wald gefunden habt. Du weißt schon, die nicht zu dem toten Jungen passen.«
»Was ist damit?«
»Ich hab mir gedacht, bitte lach nicht, aber ich hab mal recherchiert. Weil das doch alles so eng beieinanderliegt. Die tote Nonne und der Junge, meine ich. Und jetzt auch noch die Haare …«
»Ja? Und?« Die Pausen in Schäfer-Kaans Vortrag waren schwer zu deuten. »Hat sich’s wenigstens rentiert?«
»Wie man’s nimmt. Mindestens fünf vermisste Jungen passen ins Raster.«
Was für ein Raster, staunte Paulig. Und welche vermissten Jungen?
»Welches Raster?«
»Männlich. Blond. Um die zwölf, dreizehn, auffällig groß, schlank. Das Problem ist nur, 1999 war der Letzte. Aber ich hab mir was überlegt. Vielleicht war der, der sie verschwinden hat lassen, lange im Ausland.«
Wäre Schäfer-Kaan ein kleines Mädchen gewesen, hätte Paulig jetzt wahrscheinlich ausgerufen: ›Toll, so viele Gedanken hast du dir gemacht‹, und sich dann mit ihrer Mama verbinden lassen.
»Hast du da auch recherchiert?«, stocherte sie weiter im gefühlten Nichts.
»Ich hab’s versucht. Aber wo soll ich da anfangen.«
»Außerdem sagst du, vermisst. Eigentlich suchen wir ja nicht nach vermissten Jungen, höchstens nach ermordeten. Passen da auch welche in dein Raster?«
»Ja. Einer. Das Doofe ist nur, der ist von 77.«
»1977? Das ist ganz schön lange her.« Wo auch immer dieses Gespräch hinführen würde, das Stauende war nahe. »Und wo? Auch hier?«, versuchte Paulig, dem Gespräch eine sinnvolle Wendung zu geben.
»Nein. Leider. In Erding. Ich weiß, dass da nichts passt. Ich wollt’s dir auch nur mitteilen. Damit ich mir das wenigstens nicht ganz umsonst angetan habe.«
»Ja. Ich weiß, was das immer an Stunden frisst. War’s das dann? Oder hast du noch was rausgefunden?«
»Nein. Das war’s. Es ist ja auch nur, weil du doch auch immer eher unorthodoxe Wege gehst.«
Paulig hatte keine Lust zu heucheln, ein wenig Anteilnahme aber war machbar.
»Ja. Blöd. So viel Arbeit. Aber nimm’s nicht tragisch. Geht mir auch manchmal so, dass ich mich verzettle.«
Es gibt Telefonate, die sind so bar jeden Informationsgehalts, dass sie vergessen sind, noch bevor man aufgelegt hat. Dann wiederum gibt es welche, die hätten einen Informationsgehalt, auf die würde man sogar warten. Um sich das zu ersparen, war es beinahe schon Tradition, dass Paulig vor Arbeitsbeginn erst einmal die Rechtsmedizin heimsuchte.
Die Tür war offen. Der Fliege tragende Staatssekretär und Oberstaatsanwalt Bernhauer standen links, Sabine Englmacher und Professor Prinz rechts der beiden Neuzugänge. Prinz war Dozent an der LMU und offizieller Leiter der Rechtsmedizin, ein eher seltener Anblick.
Paulig grüßte und deutete hinter sich auf die Tür.
»War offen. Stör ich?«
»Wir sind gerade fertig.« Bernhauer drückte Pfahlrichters Hand und ging zur Tür. »Meine Damen, Herr Staatssekretär, Professor Prinz, ich empfehle mich. Bis dahin.«
Pfahlrichter sah ihm fragend hinterher, wartete, bis Bernhauer die Türe hinter sich zugezogen hatte und deutete auf Zerafina.
»Darf ich?«
Englmacher nickte. Paulig staunte.
»Sie wundern sich?«, fragte er und schaute sie groß an.
»Schon irgendwie. Es kommt nicht oft vor, dass jemand sich so unbefangen …«
Pfahlrichter machte eine wegwerfende Handbewegung und beugte sich über das Gesicht der toten Nonne.
»Wissen Sie, ich komm vom Land. Da hat man den Tod noch nicht so ausgesperrt wie in der Stadt. Das mag sich zwar ändern. Aber wir Älteren«, zwinkerte er ihr zu, »sind ja quasi zwischen Schlachtschüsseln aufgewachsen.«
Paulig wusste nicht, was sie davon halten sollte. Von Älteren zu sprechen und sie einfach mit einzubeziehen, war nicht gerade die feine Art. Erst recht in Verbindung mit Schlachtschüsseln.
»Bei uns war jede Woche Schlachttag«, redete er munter weiter. »Kennen Sie das auch noch aus Ihrer Jugend?«
Von Oberauer Schlachttagen war ihr nichts erinnerlich.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Stimmt. Dazu sind Sie dann wohl doch zu jung. Aber Sie kommen schon auch vom Land?«
»Wieso? Sieht man mir das an?«
»Vielleicht die Art, wie Sie sich bewegen. Wie jemand, der es gewohnt ist, Platz zu haben. Oder ihn sich zu schaffen. Und natürlich Ihre Augen. Die haben, wie formuliere ich es am besten, so eine Weite.«
Paulig spürte, wie sie rot wurde.
Während Pfahlrichter redete, wechselte er den Tisch.
»Der arme Bub.« Für eine Sekunde verschwand der Schalk aus seinem Blick, was den Eindruck, den er auf Paulig machte, auf sympathische Weise abrundete. »Aber wie heißt es so schön, jedes Leben, und mag es auch noch so kurz sein, ist es wert, gelebt zu werden. So. Jetzt muss ich aber auch. Hat mich gefreut. Die Damen. Professor Prinz. Sie rufen mich an, wenn Sie was haben.«
Englmacher wartete, bis beide gegangen waren.
»So kenn ich ihn gar nicht. Zu mir ist er immer total von oben herab.«
Paulig grinste. Die Vorstellung, dass Pfahlrichter nur geblieben war, um sie ansprechen zu können, gefiel ihr.
»Du bist ihm halt zu jung. Außerdem bin ich vom Land. Das verbindet.«
In der Tür blieb sie stehen. Sie hatte das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen.
»Ist noch was?«, fragte Englmacher, die es gewohnt war, von Paulig grußlos stehen gelassen zu werden. Auch eine Tradition.
»Äh, was? Ach so. Nein. Apropos charmant vom Land«, griff sie nach dem Nächstliegenden, womit sie die Situation elegant auflösen konnte. »Wo ist eigentlich dein Praktikant?«
»Uwe? Der kommt heute erst am Nachmittag.«
»Der hat’s aber gut.«
»Dafür bleibt er länger. Und schau mich bitte nicht so an. Da ist nichts. Aber vielleicht bei dir?«
»Wieso?«
»Ein gut aussehender Staatssekretär?«, feixte Englmacher. »Eine verwirrte Hauptkommissarin?«
»Ich? Verwirrt? Ich glaub, du träumst. Oder kann es sein, dass da vielleicht jemand eifersüchtig ist?«
Den Spieß einfach umzudrehen, dafür reichte es immer, da mochte Frau Hauptkommissarin noch so, nicht unbedingt verwirrt, auf jeden Fall höchste Zeit, sich vom Feld zu machen.
»Ich, eifersüchtig? Ich glaub, du träumst«, rief Englmacher ihr schnell hinterher.
Dann schob sich Professor Prinz von hinten zwischen die beiden Stellwände. Sie drehte sich betont langsam um und murmelte irgendwas von einem Scheiß Chaos, an dem nur diese beiden blöden Staatsleichen schuld wären, und überhaupt, das wäre doch kein Arbeiten mehr, hier ginge es ja nur noch zu wie im Taubenschlag. Kein Wunder, dass man langsam am Rad drehen würde.
Professor Prinz, ganz Gentleman, tat, als habe er nichts gehört. Nur bei ›blöde Staatsleichen‹ lupfte er die Augenbrauen.
»Kommst du von Sabine?«, empfing Würfel seine Chefin. »Kannst gleich wieder runterfahren. Die Eltern sind gerade eingetroffen. Sie sprechen Deutsch.«
Es war nicht geregelt, wer das mit Hinterbliebenen übernahm. Wenn es um tote Kinder ging, sicher nicht Würfel. Vielleicht, dachte sie, sollte ihm mal einer sagen, dass das niemandem Spaß macht und dass man sich auch nie daran gewöhnt, warf die Türe ins Schloss und rauschte zum Lift. Ein altmodisches Ding, ohne elektronischen Firlefanz, ein echtes Geschoss.
Drin lehnte Pfahlrichter.
Er steckte sein Blackberry weg und streifte mit beiden Händen die Nasenflügel entlang nach unten, wo sie am Kinn kurz verharrten, als müsste er sich erst sammeln.
»Da fällt mir ein, kann es sein, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe? Harry Pfahlrichter. Vom Justizministerium.«
»Christine Paulig vom …«
»Morddezernat. Habe ich recht?«
»Nicht schlecht«, lachte Paulig auf. »Aber so toll auch wieder nicht. Was hätte ich sonst in der Rechtsmedizin verloren. Außerdem sehen Sie ja, wo ich zusteige.«
»Touché«, strahlte Pfahlrichter. »Aber was ich nicht wissen kann, ist, dass Sie vermutlich die Chefin sind. Richtig?«
»Haben Sie sich über mich erkundigt?«, argwöhnte Paulig.
»Nein. Großes Räuberehrenwort. Wie bereits erwähnt, Sie wirken irgendwie so bestimmend.«
»So schlimm?«
»Schlimm? Warum denn immer gleich so negativ. Konnotieren Sie den Begriff mit Stärke, Selbstbewusstsein, nicht mit schlimm. Glauben Sie mir, ich wünschte, es gäbe mehr Frauen wie Sie. Ich sehe, Sie müssen schon wieder in die Rechtsmedizin? Wegen des Jungen? Ich glaube, ich bin gerade den Eltern begegnet. Schrecklich. Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren.« Das Leuchten in seinem Blick wich einer tiefen Traurigkeit, die sich auch auf seine Stimme schlug. »Wie heißt es so treffend? Stirbt der Partner, geht er von der Hand, stirbt ein Kind, geht es vom Herzen.«
Wie zur Bestätigung klingelte der Aufzug, seufzend kam er zum Stehen.
Ohne sich zu verabschieden, stieg Pfahlrichter aus.
In Gedanken sah sie ihm hinterher. Er war ein gutes Stück älter als sie. Sein widerspenstiges Haar – es war nicht zu erkennen gewesen, wo das Grau begann und das ursprüngliche Blond endete – erinnerte an einen bestimmten Schauspielertypus. Robert Redford, Harrison Ford.
Der Lift war nach unten durchgesackt und setzte erneut zur Landung an.
Die Tür stand immer noch offen.
Drei grüne OP-Hauben mit Schweißband und Mundschutz hingen über einem der beiden geheimnisvollen Toten. Eine der Hauben blickte auf, die Augen gingen Richtung Aussegnungsraum.
Eine hohe Kammer mit einer violetten Stirnwand, Sinnbild von Übergang und Verwandlung. Davor, auf einem angedeuteten Sockel, ein schlichtes, zwei Meter hohes Messingkreuz. Der, den seine Eltern in sicheren Händen wähnten, lag aufgebahrt davor.
So würden sie ihn noch ein, zwei Mal zu Gesicht bekommen, dann nicht mehr. Drei Leben. Eines zerstört, zwei entwertet, sinnlos geworden durch diesen einen Fehler, denn sie hatten die Entscheidung getroffen. Vielleicht würde einer der beiden es irgendwann nicht mehr aushalten und gehen. Vielleicht würden sie gemeinsam darüber hinwegkommen. Vielleicht sogar noch einmal ein Kind bekommen. Eine, spätestens zwei Generationen später wird niemand mehr sich an den Jungen erinnern. So ist der Lauf der Dinge.
Die Frau drehte ihren Kopf, der Mann nicht. Paulig nickte. Die Frau nickte zurück und wandte sich wieder ihrem Jungen zu. Aber es war nicht mehr dasselbe. Bei ersten Anzeichen von Unruhe würde Paulig diese aufgreifen, von einem Fuß auf den anderen treten, sich räuspern. Das Gleiche, wenn sie ausblieben. Es musste ja weitergehen. Auch in Zuständen größter Not waren Abläufe zu befolgen. Schließlich war man nicht allein auf der Welt. So sehr man es sich jetzt auch wünschen mochte.
»Mein tief empfundenes Beileid. Ich bin Christine Paulig, die zuständige Beamtin. Hier meine Karte. Wenn Sie Fragen haben, gleichgültig zu was, rufen Sie mich an. Meine Handynummer steht auch drauf. Ich kümmere mich dann. Selbstverständlich werde ich mich bemühen, Ihren Sohn so schnell wie möglich freizugeben. Ein paar Tage noch. Zwei, drei vielleicht. Benötigen Sie Hilfe bei der Überführung? Auch da kann ich Ihnen helfen. Wenn Sie ihn besuchen wollen, auch das ist jederzeit möglich. Ich möchte Sie nur bitten, vorher anzurufen. Ich lasse Sie dann wieder alleine. Auf Wiedersehen.«
Zu Anfang ihrer Karriere hatte sich noch gedacht, je öfter sie das übernehmen würde, umso schneller würde es Normalität werden. Augen zu und durch. Aber all die Eindrücke, die sie versuchte, gar nicht erst an sich heranzulassen, fanden trotzdem ihren Weg. In irgendeiner Kammer ihres Herzens stapelten sie sich, bis sie unter der Last zusammenbrach. Sie verstand es nicht, dachte, es wäre etwas Körperliches, ging zu ihrem Hausarzt und schilderte ihm die Symptome. Der fackelte nicht lange und schickte sie zur Psychologin. Paulig wusste zwar nicht, was sie dort sollte, sie sei weit Schlimmeres gewohnt, aber sie ging hin, unterzog sich sogar einer Hypnose, und landete an dem Tag, als sie nach Holland zur Abtreibung fuhr. Es war Jahre her und so lange hatte sie auch nicht mehr daran gedacht. Die Psychologin riet ihr, sich der Erinnerung und allem was damit zusammenhing zu stellen und den Schmerz, den sie dabei empfinden würde, anzunehmen, ihm nicht die Tür vor der Nase zuzuschlagen, sich vielleicht sogar eine kleine Zeremonie auszudenken. Sie habe ja gesehen, was passieren würde, wenn sie dem nicht adäquat begegne. Im Moment käme er einfach durch die Hintertür. Wie weit sie ihn zulassen würde, müsse sie selbst herausfinden. Paulig befolgte auch ihren anderen Rat und ging eine Zeit lang nur in Begleitung. Sie verkaufte es als Schulungsmaßnahme. So hatten alle was davon.
»Hab mir schon gedacht, dass du kommst.« Die Kantinenchefin hatte kein Problem mit Offenheit. »Magst einen Croissant? Zwei hab ich noch. Ist wegen dem toten Schwedenbuben, gell. Ganz allein in fremde Land. Und dann so was. Komm. Setz ma uns hin. Geht gerade. Trink ma einen Kaffee miteinander und essen. Essen hilft immer.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Sabine hat mich reingelassen. Schaut aus wie Engel. Wie richtiger Engel aus Kirche.«
Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich gleichmäßig über Stadt und Land. Für die mit gebrochenem Herzen ein Hohn, für alle anderen ein Quell reinster Freude. Wie für Würfel, der sich schon auf den Feierabend freute und keine Lust hatte, vorher noch fast bis ans Ende der Welt zu fahren. Wer weiß, wann er da heimkäme.
»Ich verstehe immer noch nicht, was uns das bringen soll.«
»Das werden wir sehen, wenn wir da sind.«
»Ich mein«, die Antwort schien ihm nicht wirklich weiterzuhelfen, »extra bis nach Niederbayern fahren. Bis Frauenau sind es immerhin zweieinhalb Stunden. Das ist ja schon fast Tschechien. Und es ist nicht nur, weil dich das irgendwie auch persönlich interessiert?«
»Doch«, gab Paulig offen zu. »Aber das eine schließt das andere ja nicht aus, und jetzt hör bitte auf zu benz’n.«
»Ich benz nicht, ich frag nur. Weil es sich mir nicht erschließt.«
»Das merk ich. Aber wie soll sich was erschließen, wenn man nicht jeder Spur nachgeht.«
»Aber darum geht es doch gar nicht. Der Punkt ist, dass es nicht unser Job ist, stundenlang durch die Gegend zu fahren und am Arsch der Welt irgendwelche Leute zu befragen. Da genügt ein Anruf bei den Kollegen vor Ort. Die fahren hin, stellen ihre Fragen, und wir bekommen einen Bericht.«
»Das weiß ich auch. Aber was ich nicht weiß, welche Fragen ich die stellen lassen soll.«
»Dann versteh ich noch weniger, warum wir da hinmüssen.«
Paulig beendete ihren Überholvorgang und schaltete direkt vom vierten in den sechsten Gang.
»Tilman, wie lange kennen wir uns jetzt schon? Wie viele Fälle haben wir gelöst, indem wir Sachen nachgegangen sind, die andere liegen lassen haben? Da wussten wir auch nicht immer, nach was wir suchen. Das findet sich dann schon.«
»Ja, aber nicht bei einer Nonne, die ihr Leben lang nicht in die Welt hinausgekommen ist.«
»Dann eben nicht. Aber eine Chance ist es. Aber was anderes«, schloss sie die Diskussion mit einem frischen Gedanken. »Wegen dem Eringer. Dass der sich diese Geschichte ausdenkt. Dass der nicht einfach sagt ›Bitte rufen Sie meine Schwester an‹.«
»Vielleicht die Nerven? Wenn ich mir vorstelle, ich komm in der Früh in die Arbeit, und es heißt, ich bin verdächtig, einen kleinen Jungen umgebracht zu haben.«
»Genau das hab ich mir auch vorgestellt. Und ich glaub nicht, dass ich so reagieren würde. Wenn ich mich vom ersten Schock erholt hätte, würde ich mir überlegen, wo ich in der fraglichen Zeit gewesen bin und wer mir ein Alibi geben kann. Es ist doch viel schwieriger, mir auf die Schnelle eine Geschichte auszudenken, als zu versuchen, mich einfach nur zu erinnern. Und dann sein ganzes Verhalten. Zum Beispiel, er ist Bauleiter. Wieso sagt er, dass er darauf besteht, immer pünktlich Feierabend zu machen? Es wartet doch niemand auf ihn. Und dann seine Schwester. Wie die über ihn redet, wie sie ihr Zusammenleben beschreibt. Ich weiß nicht, irgendwas ist seltsam.«
»Ich versteh’, was du meinst«, nickte Würfel, um umgehend zu widersprechen. »Aber so seltsam finde ich das gar nicht. Ungewöhnlich vielleicht. Aber eigentlich ist es perfekt. Weil es nicht besonders sinnvoll ist, während der Woche nach Hause zu fahren, spielt er eben mit seiner Schwester Familie. So haben alle was davon. Er ein Familienleben und seine Schwester einen Vaterersatz für ihre Kleinen. Wenn ich darüber nachdenke, besser kann’s doch gar nicht laufen.«
»Vermutlich hast du recht«, schloss Paulig.
Würfel begann in seinen Papieren zu kramen, sie, ihre Gedanken zu sortieren, doch die machten sich einfach davon.
Holzland, erinnerte sie sich. Hatten wir in Heimatkunde. Münchner Osten. Das war so weit weg damals. Aber das Fach war schön. Erst Heimatkunde, dann Erdkunde. Erst mal klein anfangen. Und den Religionsunterricht hielt der Dorfpfarrer. Ein richtiger Märchenonkel. Aber war da nicht auch eine Ordensschwester? Oder gehörte die zum Pflegeheim?
Ein Schluck aus ihrer Wasserflasche führte die kleinen Ausreißer zurück zum Thema.
»Und das ist genau der Punkt, Tilman. Wenn er schon so ein Verhältnis zu seiner Schwester hat, dann gibt es doch gar nichts anderes als dass er sie anruft und sich von ihr sein Alibi bestätigen lässt.«
»Stimmt auch wieder«, pflichtete er bei, ohne aufzusehen. »Aber wie gesagt, die Nerven.«
Paulig ließ sich wieder in ihre Erinnerungen zurückfallen, auf Höhe Dingolfing, die Hälfte der Strecke lag hinter ihnen, kam sie bei Eringer wieder raus.
»Wählst du mir mal Ötzi?«
»Ja, mach ich.«
Würfel tauschte Ermittlungsarbeit gegen Telefon, wählte und verschwand hinter seiner Zeitung.
»Hallo, Christine, hi, Tilman. Was kann ich für euch tun?«
»Hallo, Ötzi. Kannst du mal was nachschauen? Es geht um Martin Eringer und seine Schwester. Familienstand, Ehepartner. Bei der Schwester vielleicht noch den Kindsvater. Was der Computer eben so hergibt. Damit ich mir ein besseres Bild machen kann.«
»Ich denke, der ist raus?«
»Ist er auch. Kannst du bitte schnell machen? Wir sitzen gerade so schön im Auto.«
»Mach ich.«
»Danke, Ötzi. Bis gleich.«
Würfel hing über seiner Zeitung, Paulig dachte nach. Kein dümmliches Moderatorengeschwafel im Wechsel mit gesungenen Menstruationsbeschwerden und hirnamputierten Werbeeinspielungen, nur das Summen der Klimaanlage, das kehlige Brummen des kleinen Kraftwerks unter der Motorhaube und hin und wieder eine dezente Ansage ihres Navis. Die Autobahn endete, und das Ding empfahl prompt einen Umweg. Aber da weder der Verkehrsfunk angeschlagen hatte noch ein Hinweisschild warnte, dachte Paulig: Erinnere dich an gestern, heute verarscht du uns nicht. Das Navi riet prompt zur Umkehr. Würfel hielt sich raus. Das Navi pochte noch einmal auf sein Recht. ›Bei der nächsten Kreuzung links abbiegen.‹ Beim dritten Mal sagte die Kiste sogar ›bitte‹. Aber auch der Versuch, ihre wahre Intention zu verschleiern, half nichts. ›Bitte nehmen Sie beim nächsten Kreisverkehr die dritte Ausfahrt.‹
»Vergiss es«, zischte Paulig.
Ein letztes Mal versuchte die Stimme, sich durchzusetzen.
›Bei der nächsten Gelegenheit bitte links abbiegen. Jetzt links abbiegen.‹
Danach schmollte sie ein wenig und sagte dann kleinlaut: ›Jetzt länger geradeaus fahren.‹
»Na also«, knurrte Paulig. »Geht doch.«
Würfel brachte es auf den Punkt.
»Jetzt fällt ihr nichts mehr ein.«
»Fragt sich nur, wie lange.«
In ihr Lachen klingelte das Telefon.
»Ja. Ötzi?«
»Hallo, Christine … Hörst du mich?«
»Schieß los.«
»Eringer hat zwei Brüder, eine Frau, keine Kinder und, jetzt kommt’s … keine Schwester.«
»Keine Schwester? Bei wem waren wir dann?«
»Bei seiner Cousine, Ramona Eringer.«
»Sonst noch was?«
»Du hast nach dem Vater ihrer Kinder gefragt. Vater unbekannt. Kann ich sonst noch was für euch tun?«
»Nein. Danke, Ötzi.«
Schweinhütt, Bettmannsäge, Dreieck, Zwieselberg, Glasberg, Dampfsäge.
Eine lustige Gegend, dachte Paulig. Aber warum sagt jemand Schwester, wenn er Cousine meint? Die Nerven? Eine Verwechslung?
»Tilman? Was denkst du?«
Würfel hatte seine Tupperdose geöffnet. Es roch nach Knoblauchsalami. Im Büro hatte sie kein Problem damit. Da konnte sie einfach gehen.
»Was dagegen, wenn ich das Fenster aufmache?«
»Nein. Hast du auch Hunger?«
»Nein, danke.«
»Ich hätte noch einen Apfel. Du weißt ja, ich hab’s nicht so mit Obst.«
»Einen Apfel? Gerne. Aber jetzt sag, was hältst du davon, dass sie sich als Geschwister ausgeben?«
»Ehrlich gesagt, damit hab ich kein Problem. Du hast ja gesehen, wo die wohnen. Auf dem Land ist so ein Cousin-Cousine Verhältnis vielleicht ein wenig anrüchig auf Dauer. Da entstehen schnell Gerüchte. Bei Geschwistern nicht.«
»Interessanter Aspekt. Trotzdem, irgendwas ist komisch. Vielleicht liegt es daran, wie sie über ihn geredet hat. So eine innige Beziehung habe ich jedenfalls nicht zu meinen Cousins. Die hab ich zuletzt gesehen, da war ich fast noch ein Kind. Geschweige denn, dass wir zusammenwohnen.«
»Na gut. Wenn dir das alles zu unkoscher ist, bestell ihn doch einfach noch mal ein.«
»Du glaubst also auch, dass da was nicht stimmt?«
»Nein«, mampfte Würfel. »Aber du.«
»Ja. Ich denke, das sollte ich wirklich machen. Der Apfel schmeckt übrigens echt gut. Ich sag dir, da versäumst du was.«
»Freut mich für dich. Aber mein Wurstbrot ist mir lieber.«
Paulig drückte die Wiederholtaste ihres Bordtelefons.
»Ötzi? Kannst du mir für morgen noch mal den Eringer vorladen? Sagen wir im Lauf des Vormittags? Und er soll mit seinem Landrover kommen. Sag ihm, dass wir noch einmal Reifenabdrücke nehmen müssen.«
»Aber die haben wir doch schon.«
»Ich mein die neuen. Sag ihm, dass wir die brauchen, um sie ausschließen zu können. Und schick ihn zu mir.«
»Und wozu, wenn ich fragen darf?«
»Ich sag mal so: Ich lass mir ungern ein X für ein U vormachen. Da will ich zumindest wissen, warum.«
»Du meinst wegen seiner Cousine. Verstehe.«
Paulig legte auf, Würfel steckte seine Zeitung weg, das Navi klang nach Eigenlob.
›Sie haben Ihr Ziel erreicht.‹
Das Kloster des Seraphischen Liebeswerks Frauenau, zwischen Rachel, mit seinen gut eintausendvierhundert Metern zweithöchster Berg im Bayerischen Wald, und der Glasstraße, laut Eigenwerbung eine der schönsten Ferienstraßen Deutschlands. Eine Gegend, die ursprünglich Tal der Wilden Au hieß und später umbenannt wurde in Unserer Lieben Frauen Aue, flugs eine hölzerne Kapelle errichtet, ein als wundertätig beschriebenes Muttergottesbild hineingestellt, und eine über Jahrhunderte blühende Wallfahrt nahm ihren Lauf. Die Pilger kamen und gingen, auch die Kirchenbauten. Bis das Rokoko dem Tal den letzten und prachtvollsten bescherte. Die Leute hatten nun endgültig die Nase voll, die Säkularisation fegte übers Land, der Klerus wurde enteignet, die Ländereien günstig verkauft. Übrig blieb ein Kloster, das Gnadenbild der Lieben Frau, die Glasindustrie, und, triumphierte Würfel, »eine absolute SPD-Mehrheit«.
Paulig klingelte, drückte ihre Nase an einen Spalt in der Klostermauer und staunte. Das Gelände war unerhört weitläufig, verstreut liegende Wirtschaftsgebäude und die sichtbaren Teile eines gewaltigen Gewächshauses zeugten von größtmöglicher Eigenständigkeit, links und rechts der Einfahrt blühten Heckenrosen.
»Ja, bitte?«, knarrte es aus der Sprechanlage.
»Christine Paulig und Tilman Würfel. Von der Kriminalpolizei München. Wir sind angemeldet.«
»Aber doch net für jetz’.«
»Nein? Tilman, haben wir eine Zeit ausgemacht?«
»Nicht direkt.«
»Wann sollen wir denn wiederkommen?«
»A Stund? Oanahoib? Aber net vui später. Net dass’ dann in d’Veschper neirutsch’n.«
»Aha. Und wann ist das?«
»Wann des is? San Sie net katholisch?«, kam es unwirsch zurück.
»Doch«, log Paulig. »Aber …«
»No oiso.«
Die Stimme klang endgültig.
»Hallo? Hallo …? Die ist ja lustig.«
»Ich klingel noch mal«, entschied Würfel.
»Nein. Lieber nicht. Nicht dass die uns am End noch das Vaterunser herbeten lässt.«
»Was machen wir dann derweil?«
»Die Frage ist, wann die Vesper ist.«
»Vesper?«, überlegte Würfel. »Kommt von vespern. Abendessen.«
»Ich dachte eher, das ist so eine Art Andacht.«
»Ach so. Stimmt. Da war was.«
»Eineinhalb Stunden hat sie gesagt.« Paulig streckte sich und wandte sich zum Gehen. »Das reicht, dass wir nach Zapfenried fahren. Aber erst einmal holen wir Getränkenachschub. Da vorne war ein Bäcker … Wo gehst du hin? Doch nicht mit dem Wagen. Zu Fuß.«
»Das war aber schon ein Stück.«
»Wir haben Zeit. Außerdem brauch ich dringend Bewegung. Mein Rücken ist ziemlich durch.»
»Was du alles hast.«
Der Bäcker sah nicht aus, als wäre er dieses Jahr schon einmal an der Sonne gewesen, aber er hatte, was sie brauchten.
Paulig stellte die beiden Wasserflaschen auf das Wagendach und drückte die Fernbedienung. Aber der vertraute Klick blieb aus. Merkwürdig, dachte sie, hab ich doch glatt vergessen, zuzusperren.
Begleitet vom zeitlosen Rauschen der Platanen rollten sie vom Parkplatz, im Blick die aneinandergeschmiegten Hänge des Böhmerwalds, alle irgendwie gleich und keiner mit dem Anspruch, etwas Besonderes sein zu wollen. Ganz anders als die Berge ihrer Heimat. Und noch etwas war anders als daheim. Die vielen leer stehenden Häuser, nicht vorübergehend, sondern dauerhaft, dafür alle paar Kilometer ein in die Landschaft gestellter Fabrikklotz, quadratisch, praktisch, fensterlos, sodass man ihn jederzeit zusammenfalten und wegtragen kann. Sie las ihre Namen, die nichts darüber aussagten, was sie produzierten und wohl auch nichts zu tun hatten mit dem Land, das ihr immer mehr vorkam wie in einem Dornröschenschlaf. Aber nirgendwo ein Prinz. Nur ein schwarzer BMW mit abgedunkelten Seitenscheiben, der ein paarmal im Rückspiegel auftauchte, und eine Handvoll griesgrämiger Alter.
Dazu passend das Schild am Gartentor von Zerafinas Geburtshaus.
›Frei laufender Hund. Kein Spaß!‹
Nach einer sperrigen Begrüßung, die eigentlich nur aus zwei Fragen bestand – Wer? und Warum? –, wurden sie ins Haus gebeten.
Immerhin, dachte Paulig, und kam lieber gleich zur Sache.
»Sie wissen, dass Ihre Tante ermordet wurde?«
»Scho. Aber soweit i woaß, kümmert sie’s Kloster um ois. Beerdigung und des ganze Drumrum.«
Die Stimme des Mannes, dessen Haarkranz ein Frucadekäppi zierte, klang, als wäre sie Teil des Gebälks. Auch die Zeit, die er auf die einzelnen Wörter verwandte, bemaß sich eher am Lebenszyklus von Bäumen.
»Aber Sie sind schon verwandt mit ihr?«, versuchte Paulig mit einer kleinen Neckerei ein wenig Tempo aufzunehmen.
»Scho. Wenn a mehr gschlampert als richtig.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie ich das mein?« Jeder vollendete Gedankengang ein Grund, sich irgendwo zu kratzen. »I sog amol so. Die Emerenz ist die uneheliche Tochter von mei’m Großvater väterlicherseits und einer französischen Glasschleiferin. Und die is dann weg.«
»Wer? Wer ist weg?«
»Die Glasschleiferin natürlich. Also die Muatta von der Emerenz. Weil, kurz g’sagt, zwoa Johr nachdem die Emerenz auf d’Welt kemma is, war Machtergreifung. Des hot sie de a Zeitl ogschaut, und dann hats gsagt, entweder i oder da Hitler. Und weil da Opa, also ihr Mann, der Nepomuk, fürn Hitler war, is’ ganga.«
»Wie, ganga? Ohne ihr Kind?«
Pauligs direkte Art schien dem Mann zu gefallen. Langsam löste sich der Kalk.
»Net freiwilli natürlich. Aba was wuisst macht. Sie war ja a Welsche. Und da Opa, also da Nepomuk, hat des Wuzzerl ja koa Minut’n aus de Aung lassn. Drauf hot sa sie net anders z’heifa g’wusst und is furt. Hat d’Emerenz dalass’n und is furt. Was aus ihr worn is, woaß koa Mensch. Des is a ois, wos i woaß. Nur dass da Opa net glückli’ worn is mit der Emerenz. Immer wenn er’s agschaut hat, hat eam woi as G’wissen blogt, sein Gewissen geplagt. Und wia da Kriag aus war, glei gor, also erst recht. Verstengans mi. Da hat er’s einfach ins Kloster do. Aus den Augen, aus dem Sinn.«
»Und wie war sie so, die Emerenz?«
»Die Emerenz? Woaß i net. I woaß bloß, wos gred wird.«
»Und was wird geredet?«
»Dass koaner sie meng hod, weil sie a koan meng hod. Also, leiden können hat.«
»Und was sagen Sie?«
»I? Dass sie a arms Luada war. A Franzosenbankert hoit. Dass büassn hat müassn dafür, dass ihr Muatta sie im Stich lassn hat. Und des hots. Da beißt die Maus koan Fadn ab.« Zu Ende seines Vortrags war ihm wohl die Luft ausgegangen, aber dann raffte er sich noch einmal auf. »Mein Gott, des is ois scho so lang her.«
Würfel nickte. Es war von Anfang an klar gewesen, dass der Täter nicht in der Vergangenheit zu suchen war, dass kein über Achtzigjähriger loszieht und sich auf seine alten Tage irgendwelchen Rachegelüsten hingibt, gleichgültig wie unbeschadet diese Geschichte noch in den Köpfen steckte. Noch dazu am Land, wo man nicht einmal den Fliegenfänger wechseln kann, ohne dass das halbe Dorf seinen Senf dazugibt.
In der Wohnküche war es erstaunlich kühl, die schießschartenähnlichen Fenster ließen kaum Sonne zu. Gemeinsam mit den dicken Außenmauern sorgten sie wohl auch im Winter für ein angenehmes Raumklima. Eine schmale Tür führte vermutlich in die Speis, die breitere in ein Nebenzimmer. Eine Luke über Kachelofen und Ofenbank versorgte die Schlafräume im ersten Stock mit Wärme und die Kinder mit reichlich Informationsstoff aus dem Leben der Erwachsenen.
»Sie moanan doch net«, zog der Limonadenmann Pauligs Aufmerksamkeit zurück zum Tisch, »dass oana aus der Zeit irgendwos mit der Gschicht zum doa hod. De san doch scho olle längst am Friedhof.«
»Das haben wir auch nicht angenommen. Es ist nur, weil wir im Kloster waren und die uns gerade nicht brauchen konnten, da haben wir gedacht, besuchen wir mal die Hinterbliebenen und machen uns ein Bild.« Paulig warf Würfel einen Blick zu, der Aufbruchsbereitschaft signalisieren sollte. »Wir müssen dann auch wieder. Vielen Dank für das interessante Gespräch. Auf Wiedersehen, Herr Mühlmann.«
»Wartens, ich bring Sie no naus.«
»Ja, das wäre nett.«
Paulig dachte an den Hund. Aber wieder war von einem Vierbeiner weder etwas zu hören noch zu sehen. Als sie ihn darauf ansprach, antwortete der aufgetaute Waldler, er könne Hunde nicht ausstehen. Und Gänse wären ihm zu blöd. Außerdem würde die der Fuchs holen, oder gleich der Wolf. Das Schild täte es durchaus. Dann schlappte er zurück in seine Wohnhöhle.
Paulig öffnete sämtliche Wagentüren und drehte die Klimaanlage auf. Würfel pflückte eine Cola aus der Tür und lehnte sich gegen die Motorhaube. Jetzt nur noch schnell das Gespräch mit der Oberin hinter sich bringen, dann nichts wie weg. Er hatte seinen Töchtern einen Spieleabend versprochen und wollte sie nicht enttäuschen.
»Magst auch eine Cola?«
»Nein, da krieg ich nur noch mehr Durst. Außerdem … Nicht!«
Zu spät. Eine gewaltige, braun-silbern-schimmernde Fontäne spritzte über den Gehweg. Der Rest quoll ihm zwischen die Finger.
»Scheiße. Was war das denn jetzt?«
»Extreme Ausdehnung von Flüssigkeit durch übermäßige Hitzeentwicklung? Danach explosionsartiges Entweichen? Ich könnt’s auch anders formulieren. Wie doof kann man sein.«
»Aber doch nicht gleich so! Ich geh noch mal rein und wasch mir die Hände.«
»Auch das hätte ich dir sagen können.«
»Was?«
»Dass das pappt.«
Schwester Pförtnerin schien Rücksprache genommen zu haben. Nach dem ersten Drücken der Klingel wurden sie kommentarlos eingelassen. Paulig und sie schritten voran, Würfel tappte hinterher, in der Hand einen Prospekt.
Seraphisches Liebeswerk. Wie sich das schon anhört, dachte er verdrießlich. Und der Gründer erst. ›Ich danke Gott alle Tage für meine liebeleere und freudlose Kindheit, weil sie Gott benützt hat, um vielen Tausenden Kindern Freude, Trost und Hilfe zu schaffen.‹ Das sind genau die Biografien, mit denen wir täglich zu tun haben, genauso trostlos wie dieser Bunker hier. Nirgendwo ein Schnörkel. Nicht einmal eine Heiligenfigur in irgendeinem Eck. Das einzig Lebendige ist die Maserung der Wandvertäfelung. Was soll das sein? Frühchristliche Fundamentalarchitektur? Ah, sind wir jetzt endlich da.
Schwester Pförtnerin öffnete eine Tür und verschwand grußlos.
»Grüß Sie Gott. Bitte treten Sie ein. Ich bin Schwester Maserata.«
»Grüß Gott, Christine Paulig. Mein Kollege, Tilman Würfel.«
»Grüß Gott.«
Auf dem Schreibtisch paarte sich klassisches Schreibzeug mit der Dreifaltigkeit eines Computers, am rechten Schreibtischrand ausgerichtet ein Stapel Schnellhefter. Die Besucherstühle sahen aus wie von IKEA. Würfel hatte Nagelbretter erwartet. Beim Versuch, lässig ein Bein über das andere zu legen, wäre er beinahe vom Stuhl gerutscht. Nur seine colaverklebten Schuhsohlen retteten ihm vor dem Absturz.
»Tilman, sagten Sie? Wie der berühmte Bildhauer?«
Die Obernonne mit dem rasanten Namen legte die Brille zur Seite und schaute ihn erwartungsvoll an.
»Wie bitte? Ach so. Riemenschneider. Aber weder verwandt oder verschwägert.«
Das Lächeln gefror, Haube und Schleier wandten sich wieder der Kommissarin zu.
»Was wollen Sie wissen?«
»Wo sie gearbeitet hat. Die Stationen.«
»Das ist einfach. Schwester Zerafina war ihr ganzes Ordensleben Lehrschwester in unserem Liebeswerk in Walenberg. 1989 ging sie in die Schwesternausbildung, und seit zwei Jahren ist sie in München, wo sie sich bis zum Schluss im Hospiz Unserer Lieben Frau von Aquila für die Leidenden aufgeopfert hat.«
Aufgeopfert? Würfel staunte. Das klang so gar nicht nach dem Bild, das ihnen die Leute in der Seniorenresidenz vermittelt hatten. Im Gegenteil, wahrscheinlich ist sie gerade deshalb in die Stadt, um noch einmal ordentlich einen draufzumachen, bevor der Deckel endgültig zugeht. Wer weiß, vielleicht hat sie sich sogar einen Verehrer angelacht auf ihre alten Tage. Nur ist sie dabei an den Falschen geraten. Das ist der Ansatz. Das Hier und Jetzt, nicht die Vergangenheit. Wie soll man auch eine Vergangenheit haben, wenn man schon als Kind ins Kloster gesteckt wurde.
»Herr Würfel«, unterbrach Chefschwester Maserata seinen Gedankenfluss. »Würden Sie sich gerne unseren Chor ansehen?«
»Chor? Ich? Ach so, Riemenschneider. Warum nicht.«
Bevor ich endgültig vom Stuhl falle.
»Natürlich kein Riemenschneider, aber doch seine Schule.« Ihre Augen füllten sich mit Leben, ihre Stimme mit vorauseilender Begeisterung. »Kommen Sie, Sie werden es nicht bereuen.«
Das Interesse am Tod ihrer Mitschwester scheint nicht sehr ausgeprägt zu sein, dachte Paulig und folgte den beiden durch eine niedrige Tür gegenüber Maseratas Büro.
An der Balustrade der Empore blieb sie stehen und breitete ihre Arme aus.
»Schauen Sie, wie alles leuchtet. Sie haben wirklich Glück, dass Sie an so einem sonnigen Tag gekommen sind. Sie müssen wissen, unser kleines Kirchlein ist so gebaut, dass die Sonne zu jeder Zeit des Tages einen anderen Aspekt beleuchtet. Aber was ich Ihnen zeigen wollte.« Irgendetwas fand sie an Würfel, dass sie ihn jetzt sogar am Ärmel zupfte. »Schauen Sie, die Kanzel, wie fein sie gearbeitet ist. Kommen Sie, gehen wir hinunter.«
Wie ausgewechselt, staunte Paulig und dackelte hinterher. Alles was diese Frauen an Liebe in sich tragen mögen, steckt wohl hier drin. So karg ihr Leben sonst ist, hier schwelgen sie. Und an Tilman scheint sie regelrecht einen Narren gefressen zu haben. Es ist aber auch wirklich interessant, was sie alles weiß. Hat schon was, so eine Führung. Wie soll man sonst auch wissen, auf was man achten soll. Wann habe ich eigentlich zum letzten Mal eine mitgemacht? Auf Kreta. Da hab ich mich einfach an eine drangehängt. Mir war die ganze Zeit nicht recht wohl, weil ich ohne zu zahlen mitgegangen bin. Hab ich hin und wieder einen Geldschein in die Hand genommen und ihn unauffällig geschwenkt. Das Ende vom Lied, drei Stunden später lagen wir im Bett. Wie hieß der gleich wieder? Sicher nicht Walburga, Edwolda, Albertina oder Engelhelma. Namen haben die.
Paulig deutete auf vier gerahmte Fotos in einer Nische hinter der Kanzel.
»Was hat es denn mit diesen Nonnen auf sich?«
»Die vier meinen Sie?« Maseratas Strahlen näherte sich der Verzückungsgrenze. »Das ist ein großes Mysterium, dessen wir uns schon vier Mal erfreuen durften. Zuletzt hat es Schwester Albertina geschafft, unserer Heiligen Jungfrau nachzufolgen und leibliche Aufnahme in den Himmel zu finden.«
Paulig setzte ein fragendes Gesicht auf.
Schwester Maserata lächelte nachsichtig und fuhr salbungsvoll fort.
»Sie kennen doch sicher das Dogma von der unbefleckten Empfängnis, das Maria von jedem Makel der Urschuld verschont hat. Wodurch sie ihr ganzes Leben frei von Sünde blieb. Außerdem war sie von Geburt an von der Erbsünde befreit. Nur so war es ihr überhaupt möglich, die Mutter des Erlösers zu werden. Und weil Maria durch keine Erbschuld befleckt war, konnte der Tod sie nicht halten, und sie fuhr darum leiblich in den Himmel auf. Wie heißt es schön? Assumptio Beatae Mariae Virginis. Und wie heißt es weiter? Durch Eva kam der Tod, das Leben aber durch Maria.«
»Interessant.« Paulig verstand nur Bahnhof. »Aber was hat das jetzt mit den vier Nonnen zu tun?«
»Das heißt, dass auch sie, durch ihre Frömmigkeit, diese Gnade erfahren haben. Wir alle bitten darum, unversehrt in den Himmel zu kommen. Aber wir können nur hoffen und beten. Erwarten dürfen wir es nicht. Vielleicht ist unsere liebe Mitschwester Zerafina deshalb in diesen Wald gegangen, um dort die Gnade zu erfahren.«
Würfel warf einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr.
»Aber was heißt das jetzt, so, dass auch der Laie das versteht?« Paulig unternahm einen letzten Versuch, Licht ins verquaste Dunkel zu bringen. »Was heißt, unversehrt in den Himmel kommen?«
»Das heißt, so wie sie waren. Als Ganzes. Nicht nur ihre Seelen, auch ihre Körper. Das heißt es. So wie es in der Bibel steht. Die Bibel ist nicht, wie es heute allgemein heißt, voller Vergleiche und nicht wörtlich zu nehmen. Das hieße doch in der Konsequenz, das Wort Gottes infrage zu stellen, der doch durch die vier Evangelien klar zu uns spricht. Und wenn es dort heißt ›Aufgefahren in den Himmel‹, dann heißt es genau das und nichts anderes.«
»Na gut«, seufzte Paulig und missbrauchte ebenfalls ihre Armbanduhr. »Ich muss ja nicht alles verstehen».
»Sie glauben mir nicht?«, erhob Maserata Stimme und Haupt. »Dann stelle ich Ihnen eine ganz einfache Frage. Wo wären sie denn, wenn sie nicht in den Himmel aufgefahren wären?«
»Die vier Schwestern? Auf dem Friedhof, vermute ich mal.«
»Richtig. Aber da sind sie nicht.«
»Nein? Wollen Sie mir damit sagen, dass sie verschwunden sind?«
»In Ihrer Welt nennt man das wohl so.«
Beide Frauen waren gleich groß. Maserata gefühlt größer.
»Das heißt«, versuchte Paulig, Klarheit herzustellen. »Sie haben keine Ahnung, wo sie sind?«
»Im Himmel. Wo sonst.«
»Aber Sie haben ihr Verschwinden doch sicher der Polizei gemeldet?«
Maserata schien die Frage erwartet zu haben. Sie hob Augen und Handflächen, und retournierte, ohne nachzudenken.
»Was hätte das für einen Sinn? Meinen Sie, Ihre irdische Gerichtsbarkeit reicht bis in den Himmel hinauf?«
Paulig war sprachlos, Maserata hob erneut die Stimme.
»Es ist ja nicht so, dass wir nicht auch zuerst an ein Verbrechen gedacht haben. Aber wer sollte eine alte, arme Nonne töten und dann verschwinden lassen. Wir haben sogar Erkundigungen eingezogen.«
»Welche Erkundigungen?«
»Nachforschungen eben. In den umliegenden Pfarreien. Nur weil wir in einem Kloster leben, müssen Sie nicht glauben, wir wären isoliert. Auch wenn das heute vielleicht nicht mehr so offensichtlich ist, wir sind immer noch eine große, die ganze Welt umspannende Gemeinschaft, in der man sich jederzeit und überall hilft.«
»Die Polizei haben Sie demnach nicht eingeschaltet?«
»Darüber hinaus sind wir verschwiegen.«
»Aber das geht doch nicht …«
»Das geht sehr wohl.« Schwester Maseratas Gesicht bekam einen harten Zug um Augen und Mundwinkel. »Das geht heute, in dieser Gott abgewandten Zeit, ebenso wie zu allen anderen Zeiten, in denen Christen verfolgt wurden oder werden …«
»Entschuldigen Sie, wenn ich …«
»Schauen Sie nur in den Nahen Osten«, fuhr Maserata ungerührt fort. »Wie übel unseren Glaubensbrüdern und -schwestern gerade heute …«
»Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich Sie unterbreche. Aber Sie können das doch nicht ernsthaft in einen Topf werfen. Den Nahen Osten und wir hier. Gerade in Bayern kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie einer Verfolgung ausgesetzt wären.«
»Das tue ich sehr wohl. Vielleicht nicht direkt verfolgt, aber doch ausgegrenzt. Permanent wird versucht, uns vom gesellschaftlichen Leben fernzuhalten. Oder meinen Sie, nur weil in Bayern eine Partei an der Macht ist, die ein C im Namen trägt, wird das Land auch nur ein Stück christlicher? Meinen Sie wirklich, es hat etwas mit gelebtem Christentum zu tun, wenn ein notorischer Ehebrecher Ministerpräsident ist und sich alle paar Jahre eine Audienz im Vatikan erschleicht?« Sie schob ihre Hände in den jeweils anderen Ärmel und fuhr gelassen fort. »Aber in einem Punkt gebe ich Ihnen recht. Natürlich macht es einen Unterschied, ob man uns tötet oder nur missachtet. Nur so lange wir am Leben sind, können wir uns darum bemühen, in den Stand der Gnade zu gelangen. Und das ist das Einzige, was für uns Christen wirklich zählt. Dieses Leben, das uns von Gott geschenkt wurde, ist nämlich nicht dazu da, möglichst viel Spaß zu haben, sondern die einmalige Möglichkeit, uns das Himmelreich zu verdienen. Deshalb ist es für uns auch nicht so bedeutend, welches System gerade an der Macht ist. Für uns geht es darum, die Einheit mit Gott zu suchen. Im Leben wie im Tod. Voraussetzung hierzu sind Buße, Umkehr und der Glaube an die Erlösung durch Jesus Christus, unseren Herrn.«
»Ja. Schon. Das klingt wirklich gut. Aber …«
»Aber das geht so nicht«. Es war Würfel, der den Satz vollendete und umgehend Fahrt aufnahm. »Für die Aufklärung von Straftaten ist nicht die Kirche zuständig, sondern immer noch die Behörden. Das grenzt ja schon an Begünstigung. Oder ist es Ihnen wirklich so egal, was mit Ihren Kolleginnen, äh Mitschwestern, passiert ist?«
»Ich denke, wir haben Sie schon verstanden«, verhinderte Paulig einen ernsthaften Schlagabtausch, bei dem nicht klar war, wer siegen würde. »Sie hatten also bei keiner den Verdacht, dass es sich um ein Gewaltverbrechen handeln könnte?«
»Nein. Vielleicht habe ich mich da auch gerade etwas ungeschickt ausgedrückt«, lenkte Maserata ein. Die beiden Beamten schienen nicht ansatzweise begriffen zu haben, um was es in der christlichen Erlösungslehre ging. »Es gab keinerlei Anzeichen für ein Verbrechen. Wir haben das, wie ich ja bereits ausgeführt habe, erkundet. Sie waren einfach weg. Es gab vorher weder Telefonate noch Besuche, nichts, was außerhalb des Üblichen lag. Wissen Sie, wir Klosterleute führen ein sehr geradliniges Leben. Unser Tagesablauf richtet sich streng nach den täglichen Gebetszeiten. Wenn da eine ihr Verhalten ändern oder gar unentschuldigt fehlen würde, das würde unweigerlich Fragen aufwerfen.«
»Und das ist nicht passiert?«
»Nein, das ist nicht passiert. Bei keiner.«
»Aber Sie haben doch auch so etwas wie Freizeit? Oder nicht?«
»Ja. Aber nicht in dem Sinn, wie Sie das verstehen. Wir gehen dann nicht einfach in ein Café oder lassen uns treiben. Diese Zeit ist der Kontemplation vorbehalten.«
»Kontemplation?«
»Der Zwiesprache mit Gott. Natürlich kann man auch einmal ein Buch zur Hand nehmen. Soweit es dienlich ist. Auch Spiele werden gespielt. Aber eher selten. Um Bescheidenheit zu üben.«
»Das heißt, keine von ihnen geht einfach so vor die Klostermauern?«
»Nein. Wir haben hier alles, was wir brauchen. Und das wenige, das wir von außerhalb benötigen, wird gebracht. Eine Ausnahme machen nur diejenigen, die …«
»Wo sind sie denn dann hinverschwunden, Ihrer Ansicht nach?«, legte Würfel noch einmal nach. »Sie werden sich doch wohl kaum vor aller Augen in Luft aufgelöst haben?«
»Bereits im Ruhestand sind«, vollendete Schwester Maserata ihren Satz. »So wie die vier. Sie waren von allen Pflichten befreit. Bis auf die, die sie sich selbst auferlegt hatten, selbstverständlich. Und die Gebetszeiten natürlich. Als das Unerklärliche passiert ist, befanden sie sich zwar außerhalb des Klosters, aber, ich wiederhole mich, wer soll ihnen denn etwas Böses gewollt haben. Was hat eine alte Schwester denn schon zu bieten. Das ist einfach absurd.«
»Absurd ist ganz was anderes«, gnatzte Würfel.
»Ganz so absurd wohl nicht«, griff Paulig den Gedanken auf. »Oder haben Sie für die Ermordung von Schwester Zerafina auch eine Erklärung?«
»Vielleicht wollte die auch in den Himmel und hat nur den Start vermasselt?«, ging Würfel noch einmal in die Vollen.
»Wissen Sie noch, wann die vier verschwunden sind?«
Paulig hatte Mühe, ernst zu bleiben.
»Das kann ich Ihnen sagen. Gehen wir zurück in mein Büro«, antwortete die Äbtissin und schritt voran.
»Das kann doch alles nicht wahr sein«, raunzte Würfel und setzte sich ans Ende der kleinen Prozession. »Wo meinen denn die, wo sie sind.«
Vier Namen, vier Geburtsdaten, vier vermutliche Sterbedaten. Würfel war immer noch fassungslos. Dass Paulig nicht weiter darauf einging, hieß nicht, dass sie nicht genauso empfand. Aber er deckte diesen Part mehr als genug ab. Auf sein Ansinnen, diesen Oberdrachen wegen Behinderung und Strafvereitelung anzuzeigen, gab sie deshalb nur zu bedenken, dass das wohl nicht viel bringen würde. Wenn Würfel recht habe und sich das Kloster in einer Art Paralleluniversum befände, an wen sollten sie sich da wenden?
Apropos Paralleluniversum.
»Wählst du mir mal Bernhauer? Mal schauen, wie er das Ganze sieht.«
»Hallo …? Max? Christine hier.«
»Christine?«, röhrte es aus dem Lautsprecher. »Wo bist du? Du klingst so abgehackt.«
»Auf dem Heimweg. Kurz vor Deggendorf.«
»Was gibt’s?«
Paulig gab einen kurzen Bericht.
Bernhauer schlug in Würfels Kerbe.
»Die spinnen doch. Wir sind doch hier nicht im Mittelalter. Wenn die meinen, sie können uns auf der Nase herumtanzen, haben sie sich geschnitten. Und es spricht alles für eine Serie?«
»Alle waren alt, bei keiner gab es Anzeichen von Suizidgedanken, keine hatte besondere Kontakte nach außen, bei keiner wurde eine Änderung im Sozialverhalten festgestellt, und alle verschwanden spurlos. Behauptet zumindest Schwester Maserata, was sich auch kaum mehr widerlegen lassen wird nach all der Zeit.«
»Wann sagtest du, fanden diese Himmelfahrten statt?«
»Sekunde. Tilman schaut.«
»1977 bis 2003«, rief Würfel Richtung Bordmikrofon.
»Danke«, bestätige der Oberstaatsanwalt. »Wie passt unsere Nonne da rein?«
»Alt und gesund und genauso unauffällig wie die anderen. Nur dass sie nicht verschwunden ist. Wahrscheinlich ist der Täter gestört worden.«
»Da werden wir wohl um eine Sonderkommission nicht herumkommen. Wie nennen wir sie?«
Paulig erinnerte sich an den Blick aus dem Fenster der Äbtissin.
»Nonnengarten?«
»Gefällt mir. Soko Nonnengarten. Wer übernimmt die Leitung?«
»Wenn du nichts dagegen hast, würde ich das Tilman überlassen.«
»Dachte ich mir. Du willst den Kopf frei haben. Alles Weitere besprich bitte mit Yasmin. Ich geb dich weiter. Ciao, Christine.«
Statt zu verbinden, warf er sie aus der Leitung.
Dass Würfel die Kommission führte, war nichts Neues. Bei ihm würden alle Fäden zusammenlaufen, aber bei ihr würden sie enden.
»Soll ich wählen?«
»Ja … Hallo, Yasmin? Du weißt Bescheid …? Yasmin? Hörst du mich?«
»Soko Nonnengarten. Ja. Ich stell schon mal die Mannschaft zusammen. Aber weil ich dich gerade an der Leitung habe. Wegen der Jungen. Du weißt schon, über die wir gesprochen haben.«
Würfel schaute interessiert herüber.
Paulig legte einen Finger aufs Mikrofon und flüsterte: »Fünf vermisste Jungen aus den letzten vierzig Jahren und ein unaufgeklärter Tötungsdelikt von 1977, vergiss es.«
Dann nahm sie den Finger wieder weg und sagte laut: »Ehrlich gesagt, eher weniger. Da passt nicht wirklich was zusammen. Oder hast du noch was rausgefunden?«
»Nein. Das nicht. Aber wenn es so ist wie mit den Nonnen?«
»Wo sind sie denn verschwunden?«
»Augenblick … Wolnzach, Straubing, Augsburg, Deggendorf, Rosenheim. Und eure Nonnen?«
»Tilman?«, gab Paulig die Frage weiter.
»Eine in Walenberg, zwei in Frauenau und eine in Passau.«
»Yasmin? Hast du gehört? Also wenn du jetzt auch noch anfängst, zwischen deinen Jungen und unseren Nonnen nach Gemeinsamkeiten zu suchen, ich glaub nicht, dass das zu viel führt. Sekunde. Tilman, wann sind die Nonnen verschwunden?«
»3. Juli 77, 27. August 85, 28. März 95, 10. Oktober 2003.«
»Und? Passt da was?«
Paulig versuchte, einen neutralen Ton hinzukriegen.
»Nein, nicht wirklich. Aber sag mal, ihr fahrt doch über Erding.«
Es klang irgendwie zwischen Frage und Feststellung und einer Prise Hoffnung.
»Vorbei. Warum?«
»Sonst hätte ich gesagt, ihr könntet da kurz vorbeischauen. Ist immerhin ein unaufgeklärtes Tötungsdelikt. Heißt Rudolf Wagner, geboren 12.8.1965 in Erding. Und auch da beerdigt.«
Eine halbe Stunde später passierten sie Landshut. Würfels Unterkiefer hatte mittlerweile dauerhaft Brustkontakt. Der Gedanke, in einer knappen Stunde daheim sein zu können, hatte den Ärger über Schwester Maserata verdrängt und einer tiefen Ruhe Platz gemacht. Dass Paulig etwas dagegen haben könnte, einen kleinen Umweg zu fahren, um ihn heimzubringen, war nicht anzunehmen. Er gähnte und wollte eben sein Anliegen vorbringen, aber sie war schneller.
»Was hältst du davon, ihr den Gefallen zu tun und über Erding zu fahren?«
»Was? Ach so«, stotterte er. »Eigentlich wollte ich dich gerade fragen, ob du nicht über Eching fahren und mich heimbringen könntest.«
»Klar. Mach ich doch gerne. Nur noch einen kleinen Abstecher nach Erding, dann fahr ich dich heim.«
»Ich will dir ja nicht dreinreden«, gähnte Würfel noch einmal herzzerreißend. »Aber meinst du wirklich, dass das heute sein muss?«
»Mein Gott, muss. Was muss schon.«
»Und was soll das bringen?«, bohrte Würfel weiter. »Du willst doch nicht die Hinterbliebenen überfallen?«
»Nein. Natürlich nicht. Aber du hast doch Yasmin gehört. Sie will, dass wir uns darum kümmern. Und sie ist schließlich unsere Vorgesetzte.«
»Seit wann. Ich meine, soweit ich sie verstanden habe, hat sie gemeint, du sollst das im Hinterkopf behalten. Aber doch nicht, dass wir da jetzt sofort hinfahren sollen. Mehr Konjunktiv. Und wohin überhaupt? Wenn du nicht die Hinterbliebenen …«
»Wir fahren zum Friedhof.« Paulig hatte keine Lust, das jetzt auszudiskutieren. »Bloß kurz vorbeischauen. Liegt doch quasi auf dem Weg.«
»Findest du?«
»Deshalb sag ich ja quasi. Heißt so gut wie. Schnell runter von der Autobahn, zum Friedhof, dann bring ich dich heim. Nur kurz vorbeischauen. Wenn wir dann doch irgendwann hinmüssen, waren wir schon da. Und schon haben wir uns zwei Stunden gespart. Allein an Fahrzeit. Und Yasmin sieht, dass wir uns gekümmert haben. Vielleicht gibt sie dann endlich Ruhe mit dem Quatsch.«
Pauligs Logik und die kleine Grenzverletzung am Schluss führten ans Ziel. Er hatte zwar immer noch keine Lust, sich ohne triftigen Grund den Feierabend verhunzen zu lassen, aber nach Frauenau zu fahren, fand er auch erst blöd, und jetzt hatten sie vier Fälle, die es ohne die Beharrlichkeit seiner Chefin nie gegeben hätte.
»Wenn du meinst.«
»Wirst sehen, nur kurz hin und wieder zurück. Das ist ein Umweg von einer halben Stunde. Frag das Navi.«
»Nicht nötig. Ich kenn den Weg.«
»Trotzdem. Ich will sehen, ob ich recht habe.«
Der Erdinger Friedhof, im Süden der Stadt in die Wiese gestellt, ohne die Möglichkeit, zwischen zwei Einkäufen mal schnell vorbeizuschauen oder gar in der Nähe zu wohnen, und nebenan steht auch keine Kirche, sondern Europas größtes Thermalbad.
Genervt fütterte Würfel das Navi. Scheiß Erding, Scheiß Friedhof. Am liebsten hätte er es genauso eingegeben.
Vor einiger Zeit hatte seine Frau begonnen, ein ums andere Mal sein Wochenende zu ruinieren und ihn zu nötigen, mit den Kindern in die Therme zu fahren. Zog er sich anfangs darauf zurück, die Zeit möglichst zu verdösen, sich zwischendurch kleine Brotzeiten zu gönnen und sich hin und wieder in die Sauna zu schleppen, hatte er in letzter Zeit begonnen, ein wenig auf und ab zu schwimmen. Was seinen Appetit zusätzlich anregte. Sodass er sich schon fragte, was daran sinnvoll war. Aber die Einzige, schweifte er ab, die ein Problem mit seiner Figur hatte, war eh nur seine Chefin. Um es auf den Punkt zu bringen, würde sie ihn nicht immer wieder mit der Nase auf seine Problemzonen stoßen, hätte er auch keine. Seine Frau jedenfalls meinte, als er sie fragte, ob es deshalb wäre, dass es schon passen würde, dass er schon recht sei. Nicht gerade vor Entzücken auf die Knie gefallen, aber immerhin. Fahrst eben wegen der Kinder. Die freuen sich.
»Der Wagner Rudi?«, antwortete der Friedhofsbedienstete. »Wo der liegt? Da muss ich nicht lang nachdenken. Da müssens nach St. Paul, zum alten Friedhof. Wissens, wo das ist? In der Nähe vom Volksfestplatz. Wie erklär ich’s Ihnen am besten … Haben Sie ein Navi im Auto?«
»Ja. Haben wir.«
»Gebens einfach ›Friedhof St. Paul‹ ein. Anders wird’s zu kompliziert. Dafür ist das Grab leicht zu finden. Mitten durch den Friedhof geht die Sempt. Die überquerens. Dann gleich rechts durch bis zur Mauer. Das Grab gleich links. Aber bitte schauns nicht so genau hin. Um das hat sich nämlich schon länger keiner mehr gekümmert. Jetzt doch?«
»Was meinen Sie?«, fragte Paulig verblüfft.
»Sie wollen doch aufmachen, oder nicht?«
»Aufmachen? Warum sollten wir?«
»Ist das nicht der Grund, warum Sie jetzt da sind?«
»Nein. Eigentlich nicht.«
Der Mann stellte den Schubkarren ab, steckte die Hände in die Overalltaschen und reckte herausfordernd sein Kinn.
»Warum dann?«
»Nur so.«
»Wie, nur so?«, forderte der Herr der Gräber Aufklärung über die Vorgänge in seinem Reich.
»Wir haben einen ähnlichen Fall südlich von München. Vielleicht haben Sie davon gehört«, gab Paulig Auskunft.
»Hab ich. Der kleine Schwede. Aber Sie wissen schon, dass das mit dem Rudi vierzig Jahre her ist?«
»Ganz meine Rede«, knurrte Würfel von der Seite. »Aber jetzt sagen Sie schon, warum meinen Sie, dass wir das Grab aufmachen wollen?«
»Ja, wegen dem, dass der Rudi da gar nicht mehr liegt.«
»Sagt wer?«
Automatisch flippten passende Filmszenen in Würfels Hirnkino.
»Der Konrad. Der wo damals dabei war.«
»Und wie kommt er darauf?«
»Er hat gemeint, sie hätten ihn raufgeholt. Er und einer von der Münchenstadt. Der hätte ihn sich noch einmal anschauen wollen. Wegen irgendwelche Spuren. Und wie sie ihn wieder hinunterlassen haben, wär der Sarg leer gewesen.«
»Und wo ist die Leiche hin?«
»Keine Ahnung. Er hat nur g’sagt, dass der Sarg leer war. Dass er zu leicht gewesen wär.«
»Aber gesehen hat er nichts«, stellte Paulig klar.
»Nein. Aber wenn der Konrad gesagt hat, dass keiner drin war, kann man das schon glauben. Er war ja schließlich nicht irgendwer.«
»War?«
»Der liegt auch drüben.«
»Wer weiß sonst noch davon?«
»Niemand. Ist ja niemand dabei gewesen außer ihm.«
»Und was denken Sie?«
»Dass das alles hübsch lang her ist. Aber jetzt sagen Sie schon, sind Sie jetzt deswegen hier oder nicht?«
»Nein. Aber danke für die Auskunft. Auf Wiedersehen.«
Nach der Mittagspause stellten sie sich wieder paarweise auf und marschierten zurück in die Unterrichtsräume. Hausaufgaben machen. Es klopfte. Zerafina ging zur Tür. Draußen stand Mutter Oberin. Sie tuschelten, dann setzten sie sich in Bewegung. Ein letztes Rauschen ihrer Gewänder direkt hinter ihm, er schaltete sein Denken aus und konzentrierte sich auf die Einschläge. Links, rechts, links. Daneben. Er hatte sich geduckt, wenn auch nicht mit Absicht. Eine Hand versuchte vergeblich, ihn an den Haaren nach oben zu reißen. Blöder Stiftenkopf! Beim nächsten Haareschneiden werde ich bitten, nicht so kurz zu schneiden, damit sich beim Schlagen keiner mehr ärgern muss. Tapfer reckte er seinen Hals. Links, rechts, links. Pause. War’s das schon? Wieder hörte er das bekannte, schwere Rascheln. Ach so. Sie wollten sich nur abwechseln. Links, rechts. Schwester Zerafinas Ring sprach eine klare Sprache.
»Aber auch ohne Ring waren Sie eindeutig die Geübtere. Dazu habe ich mal eine Frage: Eigentlich dachte ich immer, Nonnen dürfen keinen Schmuck tragen?«
»Wir tragen ihn ja nicht als Schmuck. Wir Nonnen sind die Bräute Christi. Um das auszudrücken, tragen einige von uns einen Ring.«
»Also eine Art Verlobungsring.«
»Ja, so kann man es sagen.«
»Das klingt schön, aber angefühlt hat es sich eher wie ein Schlagring.«
»Du übertreibst. Und überhaupt, wenn man dich so reden hört, könnte man ja fast meinen, du wärest jeden Tag geschlagen worden.«
»Das nicht. Und das Geschlagen werden war ja auch nicht das Schlimmste. Das war jedes Mal fast so etwas wie eine Erlösung. Und die Schmerzen waren auszuhalten.«.
»Das will ich meinen. Hin und wieder ein paar Ohrfeigen, was ist das schon.«
»Stimmt. Ein ganzer Wandertag mit einem Kieselstein im Schuh ist da schon was anderes.«
»Daran warst du selbst schuld. Wärst du vernünftig gewandert wie die anderen auch und nicht immer aus der Reihe getanzt, wäre das auch nicht nötig gewesen.«
»Hinterher musste ich sogar auf die Krankenstation. Die ganze Ferse war ein einziger Fleischklumpen. Finden Sie wirklich, das war angemessen?«
»Papperlapapp. Ich erinnere mich genau. Nach zwei Tagen konntest du schon wieder laufen. Und ein bleibender Schaden scheint dir ja wohl nicht entstanden zu sein.«