Читать книгу Die richtige Frau - Dieter Zimmer - Страница 5

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„Hier, ungefähr hier. In dieser Reihe. Ja, genau hier müssen sie gesessen haben.“

„How do you know?“

„Mein Großvater hat es mir mal gezeigt. Er nahm mich ab und zu mit hierher ins Olympiastadion. Zu Hertha BSC. Fußball. Soccer, you know? Habt ihr doch in Amerika endlich auch.“

Er wies mit dem Zeigefinger auf die gegenüberliegenden Ränge: „Und dort drüben hat der Führer gesessen.“

„Who?“

„Hitler. Adolf. Verstehen Sie? In Deutschland sagte man damals allgemein: der Führer. Manche sagen es heute noch.“

„Oh, yes, the Fuhrer.“

„Führer“, verbesserte er. „Nicht mit ‚u‘, sondern mit ‚ü‘: Führer.“

„Yes, I know“, nickte sie, „der Kampf um das deutsche ‚ü‘, das hat mir Grandma Rosie immer eingetrichtert. Aber das ist auch verflixt schwierig. I mean, for an American. Weißt du, was das schwierigste deutsche Wort für uns ist?“

„Nein, aber Sie werden es mir sagen.“

„Of course. Es ist das Wort ‚Hühnchen‘. You know: little chicken. A normal American kann das auf Deutsch nicht aussprechen. Er sagt ‚Huuntschen‘. Verstehst du? ‚Huuntschen‘. By God, es ist aber auch saumäßig schwer!“

Woher kannte sie, als Amerikanerin, das Wort saumäßig? Und solche familiäre Ausdrücke wie eingetrichtert und verflixt? Bestimmt von ihrer Grandma Rosie. Natürlich, Lisa hatte ihr ziemlich fließendes Deutsch bei ihrer Grandma Rosie aufgeschnappt und erst in zweiter Linie auf dem College gelernt.

Lisa wollte auf die andere Seite des leeren Stadions, dorthin, wo damals the Fuhrer gesessen hatte. „Geschichte schnuppern“, sagte sie. Tim erklärte auf dem Weg halb um das Oval des Olympiastadions, wie die Nazis damals aus diesen sechsunddreißiger Spielen eine gigantische Propagandaschau gemacht hatten. Tatsächlich habe die halbe Welt sich überrascht die Augen gerieben: Diese Deutschen mussten ja nette Burschen sein. Und friedlich obendrein. Manche ausländische Mannschaft sei bei der Eröffnungsfeier, dort unten auf der roten Aschenbahn, mit dem Hitlergruß vorbeimarschiert, den rechten Arm gen Himmel gereckt. Noch heute sei es vielen wahnsinnig peinlich, die alten Filmausschnitte vorgeführt zu bekommen.

„Hier ungefähr“, sagte Tim und hielt an. „Früher war hier noch so eine kleine Steinplatte für den Führer. Ja, eine Plattform, kann man sagen. Oder ein Podest noch besser. Auch nach Fünfundvierzig haben manche sich hingestellt und heimlich schnell den Hitlergruß probiert. Und Mama hat’s geknipst. Ich meine fotografiert.“

Lisa holte aus ihrer Umhängetasche einen kleinen Fotoapparat hervor. Sie drückte ihn Tim in die Hand und zeigte ihm den Knopf zum Auslösen. Er wusste das natürlich, schon als Sportreporter, aber diese Amis trauten anderen Menschen ja buchstäblich nichts zu.

Er nahm sie ins Visier.

Lisa hob den rechten Arm zum Hitlergruß.

„Bist du meschugge?“, rief Tim.

Er riss ihr den Arm herunter.

„Ouch!“, rief sie. Oder auf Deutsch: Autsch!

„Du bringst dich in Teufels Küche!“, zischte er und schaute sich vorsichtig um. Aber es war niemand weit und breit, der den Heil Hitler hätte gesehen haben können.

„What means Teufels Küche?“, fragte sie, den Vorfall übergehend.

„Schwierigkeiten“, erklärte er. „Ärger. Zoff. Bambule. Aber das ist ja nicht das Thema. Du kapierst das nicht.“

„But it was a joke!“, rief sie.

„Joke, joke, joke! Das ist bei uns kein Thema für einen Joke“, erklärte Tim, sich langsam beruhigend. „Sie müssen das verstehen: In Amerika hatten Sie Richard Nixon, das war ein kleiner Gauner. Aber Adolf Hitler! Er war der größte Massenmörder der Weltgeschichte. That makes a difference.“

Lisa nickte, fast ein wenig schuldbewusst: „So gibt es hier auch keine – wie sagt man – a plaque?“

„Eine Tafel? Eine Gedenktafel? Wo denken Sie hin?“

Mein Gott!, dachte Tim. Sie studierte zu Hause in den USA, wie sie ihm auf der Fahrt erklärt hatte, Neuere Geschichte und hätte sich demnach ein bisschen auskennen sollen. Aber sie bestätigte bis jetzt alle Vorurteile, die er gegen Amerikaner gehört und gelesen hatte.

Sie marschierten weiter im Uhrzeigersinn um die Stadionschüssel, die vor einigen Jahren für viele Millionen Euro modernisiert und überdacht worden war. Sie langten an ihrem Platz von vorhin an und setzten sich noch einmal.

Tim hatte Lisa auf der Fahrt vom Flughafen vorgeschlagen, als Erstes das Stadion aufzusuchen, den quasi historischen Ort, an dem die Geschichte ihrer Grandma Rosie und seines Opas Robert begonnen hatte. Lisa hatte das als eine witzige Idee akzeptiert.

„Wir müssen mal was klären“, sagte Tim. „Sie sagen du zu mir und ich sage Sie zu dir.“

„Oh, you know, we Americans … Also sagen wir du, okay?“

„Aber ich werde Lisa zu dir sagen, deutsch ausgesprochen, nicht Laisa. Also, ich erzähle dir die Geschichte. Soll ich vorher noch was zu trinken besorgen? Nein? Also, du weißt: Olympische Spiele sechsunddreißig. Sie saßen hier, ziemlich genau hier: mein Opa Robert, damals zwölf, beinahe schon dreizehn, und seine Eltern. Der Vater hatte drei Dauerkarten für die Leichtathletik erstanden. Ich weiß nicht, wie, aber er hatte ja ein paar Beziehungen durch seine Arztpraxis. So haben sie alles miterlebt. Vor allem Jesse Owens, den wirst du kennen. – Nein? Den musst du aber kennen!“

„Müssen muss ich gar nichts“, widersprach Lisa.

Was kennen diese Amis eigentlich?, dachte er. Nicht mal ihre eigenen Heroen.

„Das war doch euer Superstar“, erläuterte er, „der Schwarze mit viermal Gold in Berlin. Das hat die deutschen Rassisten furchtbar gefuchst.“

„Ge-was?“, fragte sie.

„Gefuchst. Fuchsteufelswild gemacht. Verstehst du?“

Sie nickte zweifelnd.

„Und dann natürlich die deutschen Volksgenossen, die plötzlich über sich hinauswuchsen und Medaillen wie am Fließband gewannen. Alle sagten: ‚Das verdanken wir dem Führer. Heil dem Führer!‘„

„Okay! Und was war mit Grandma Rosie?“, fragte sie ungeduldig.

„Ja, da komme ich schon drauf zu sprechen“, erwiderte er leicht ungehalten. „Ich brauche immer einen kleinen Anlauf. Sie müssen wissen, ich meine, du musst wissen: Robert war ja selbst Leichtathlet. Hochspringer. Aber nicht besonders hoch, das hat er später eingestanden. Der Übungsleiter, so hieß damals der Trainer, foppte ihn manchmal – also, er neckte ihn – und sagte, er solle auf Hürdenlauf umsatteln, hurdling, you know, da sei die Latte nicht so hoch wie beim Hochsprung. Aber vielleicht wäre er dafür zu langsam. Verstehst du nicht? Macht nichts.“

„And what about …?“

„Ja. Kommt ja schon! Warum müsst ihr Amis immer so dynamisch sein? Es kam der Tag mit dem Endlauf über viermal hundert Meter der Frauen. Staffellauf, verstehst du? Ich erzähle es besser anders herum. Ungefähr zehn Meter von hier, wo wir jetzt sitzen – da drüben, eine Reihe tiefer –, da saß eine Familie, ein Ehepaar mit einem Mädchen. Das war so alt wie mein Opa damals. Ungefähr zwölf.“

„Grandma Rosie?“

„Geraten! Endlich! Sie hatte strohblondes Haar und strahlend blaue Augen über einer Stupsnase. You understand Stupsnase?“

Er machte es vor, indem er mit dem Mittelfinger von unten gegen seine Nase stupste.

„Oh, a snub nose! Yes! She had a real snub nose.“

„Ja, das hat mir mein Opa immer wieder erzählt: die Stupsnase. Sie muss ihn mehr beeindruckt haben als die Leichtathleten. Und immer wenn ein Deutscher besonders schnell rannte oder besonders weit sprang oder warf, dann hüpfte das Mädchen wie ein Gummiball und klatschte in die Hände und schrie aus voller Kehle.“

„Und das war Grandma Rosie.“

„Ja, es war deine spätere Grandma. Aber so schnell schießen die Preußen nicht. Robert war fasziniert von diesem Mädchen. Sie hingegen war fasziniert von den Leichtathleten und beachtete ihn natürlich nicht.“

„Grandma Rosie war immer von allem sehr begeistert“, bestätigte Lisa. „Wenn sie mir als Kind Manhattan zeigte oder den Atlantik bei Cape Cod …“

„Aber wir waren ja damals in Berlin“, rügte Tim. „Und da kam der Endlauf der Frauen über viermal hundert Meter. Die deutschen Läuferinnen zählten zu den Favoritinnen. Sie lagen auch in Führung. Die Menschen sprangen von ihren Sitzen auf und schrien. Aber Robert hatte nur Augen für das blonde stupsnasige Mädchen. Das schrie mit. Aber plötzlich … Plötzlich ein gellender Schrei aus hunderttausend Kehlen. Robert wusste nicht, was los war. ‚Hast du das gesehen?‘, rief seine Mutter erregt. ‚Hast du das gesehen?‘ Er hatte es nicht gesehen. Die Mutter erklärte es ihm hastig. Die deutschen Frauen, in Führung, hatten beim Wechsel den Staffelstab fallen lassen. Verstehst du das?“

„Ja, das ist eine Katastrophe.“

„Und das Mädchen schrie entsetzt mit allen. Nur Robert hatte es nicht gesehen. Wahrscheinlich als einziger. Später, später wurde die Szene im Kino gezeigt, in der Wochenschau. Bis heute sieht man es immer wieder mal im Fernsehen.“

„Das war bestimmt sehr beschissen“, sagte Lisa.

„Woher hast du dieses Wort?“, fragte Tim.

„Im Zweifel von Grandma. Ist es ein beschissenes Wort?“

Tim fuhr fort: „Auch den Führer kann man noch im Film sehen, wie er ärgerlich mit dem Fuß aufstampft. Ungefähr so …“. Tim versuchte es vorzumachen: Er stampfte mit einem Fuß auf, wobei er sich etwas um seine Achse drehte, und hieb mit der Faust ein Loch in die Luft.

„Man darf hier aber nicht den Führer nachmachen.“

„Und dann“, sagte Tim, „begann die Geschichte von Robert und Rosie.“

„Die musst du mir morgen weiter erzählen“, sagte Lisa und gähnte beinahe demonstrativ. „Ich bin jetzt todmüde vom Flug und habe einen Jetlag. Ich muss ins Hotel und in mein Bett.“

Das mochte Tim leiden: Wenn er eine große Geschichte zum Besten gab und gleich am ersten entscheidenden Punkt anlangte und man ihn mit Banalitäten unterbrach: Muss ins Bett!

„Wenn man über den großen Teich geflogen ist“, erklärte er ungehalten, „muss man sich der neuen Uhrzeit anpassen. Dem Rhythmus. Du hättest um vierundzwanzig Uhr ins Bett gehen sollen. Berliner Zeit.“

„Ich weiß“, antwortete sie und erhob sich.

Auf der Fahrt fragte sie nicht mehr nach Grandma und ihrer Geschichte, auch nicht nach anderem. Sie umkurvten den Theodor-Heuss-Platz, und Lisa zuckte zusammen, als sie von einem wilden BMW-Fahrer geschnitten wurden und gleich danach von einem Mercedes.

„Good god!“, rief sie. „All of them Michael Schumachers!“

„Ja, so fahren wir Deutschen“, entgegnete Tim nicht ohne Stolz.

Die vielspurige Bismarckstraße hinab bis zum Ernst-Reuter-Platz. Lisa kannte Ernst Reuter nicht. Schaut auf diese Stadt! Nie gehört. Amerikanerin eben. Das Charlottenburger Tor, die Straße des 17. Juni. Nein, das war nicht die Revolution von 1989, sondern der Aufstand von 1953. Neuere Geschichte! Die Siegessäule gefiel ihr, sie habe etwas von Walt Disney World. Dann vor ihnen das Brandenburger Tor. Endlich ein von tausend Fotos vertrauter Anblick! „Ich dachte, es wäre größer“, sagte sie.

Tim zeigte ihr gleich daneben am Pariser Platz die amerikanische Botschaft, die sie erstaunlicherweise wunderschön fand.

Er setzte sie am Westin Grand Hotel ab, Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße. Nobel!, dachte er. Warum nicht gleich ins Adlon? Er fragte sich, woher Lisa das Geld hatte. Das musste er noch herausbekommen. Nur so, aus Neugier. Er kannte sie ja erst seit wenigen Stunden.

Die richtige Frau

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