Читать книгу Die richtige Frau - Dieter Zimmer - Страница 7

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Diesmal war Lisa pünktlich, bis auf acht oder zehn Minuten. Sie trug ein ähnliches Kleid wie am Vormittag, in fröhlichen Farben – ihr Stil offenbar. Also nichts Tristes zum Besuch von Roberts Grab.

„Woher hast du den riesigen Rosenstrauß?“, fragte Tim.

„Oh, den hat mir das Hotel besorgt“, antwortete sie. „Zweiundachtzig Stück. Für zweiundachtzig Lebensjahre.“

Das wird stattliche Euros gekostet haben, dachte er, oder Dollars. Und das für einen alten Mann, den sie nur aus den Erzählungen ihrer Grandma kannte und nie gesehen hatte.

Man konnte jeden beliebigen Weg durch Berlin wählen – um diese Tageszeit steckte man irgendwann und irgendwo im Stau. Aber wann, dachte Tim, hatte der Mensch denn wirklich mal Zeit, wenn nicht auf dem Weg, um der Ewigkeit zu begegnen?

Der Friedhof in Friedenau war nicht groß, dennoch musste Tim bei jedem seiner seltenen Besuche über den Weg zum Familiengrab angestrengt nachdenken. Im Zweifel konnte er freilich immer jemanden nach dem Grab von Marlene Dietrich fragen, das gleich nebenan war. Aber diesmal fand er sich ohne Hilfe zurecht. Das Grab, stellte Tim mit raschem Blick fest, war wenigstens leidlich in Ordnung, obwohl er versäumt hatte, vor Lisas Besuch noch einmal nach dem Rechten zu schauen, vor allem die welken Blumen zu entfernen. Es kümmerte sich keiner außer ihm um die Grabpflege.

Lisa drapierte ihre Rosen und verharrte eine Weile wortlos.

„Nicht gerade bombastisch“, stellte sie dann fest.

Woher, zum Kuckuck, hatte sie wieder einen solchen Ausdruck?

„Jetzt erklär’ mir“, forderte sie ihn auf, „wieso steht da zweimal Robert Gersbach?“

„Der untere ist Rosies Robert. Der obere war sein Vater.“

„Ach so. Der aus dem Olympiastadion. Bei uns würde man sie durchnummerieren: Robert the first, Robert the second. Du wärst Tim the first. Warum starb Robert the first ausgerechnet neunzehnhundertfünfundvierzig?“

„Ach, diese Geschichte habe ich hundertmal anhören müssen. Familiensaga.“

„Aber ich gehöre ja fast zur Familie.“

„Oh! Lass das bitte nie meine Eltern hören! Für sie ist Rosie ein rotes Tuch. Und von dir wollen sie auch nichts wissen.“

„Also, Robert der Erste?“, drängte sie.

Tim folgte unwillig der Aufforderung und versuchte es kurz zu machen: „Fünfundvierzig. Bombenangriff. Luftschutzkeller. Ein Treffer im Nebenhaus. Die Nachbarn drängten herüber. Robert the first war ja Arzt. Familientradition. Er wusste, dass dieses heimtückische Gas – geruchlos – die Menschen einschläferte und tötete. Aber die Leute wollten nicht raus in das Inferno. Nicht um ihr Leben. Er beschwor sie. Er kehrte sogar noch mal um – und schaffte es nicht zurück ins Freie. Das ist die Geschichte.“

„Ein Heldentod?“, fragte Lisa.

„So habe ich das noch nie gesehen. Ein menschlicher Tod.“

Lisa machte sich daran, das Grab etwas aufzuräumen, Unkraut zu zupfen, trockenes Laub aufzusammeln, mit einem Taschentuch weiße Vogelspuren vom Grabstein zu wischen. Sie bat Tim, eine Vase für ihre zweiundachtzig Rosen zu finden. Er machte sich eher ziellos auf, entdeckte hinter einem anderen Grabstein etwas Geeignetes, nahm sich vor, den entliehenen Gegenstand in der nächsten Woche auf jeden Fall zurückzuerstatten.

„Warum habt ihr nur so ein kleines Grab?“, fragte Lisa. „Ihr seid doch eine wichtige Familie.“ Tim hatte sich das noch nicht gefragt. Er war es so gewöhnt.

„Es hat vielleicht mit fünfundvierzig zu tun. Da hatte man andere Sorgen als ein repräsentatives Grabmal.“

Auf dem Rückweg steuerte Tim absichtlich an Marlene Dietrichs Grab vorbei.

„Look!“, rief Lisa aufgeregt, „Marlene!“ Sie sprach den Namen amerikanisch aus: Marlien.

„Is she really … ?“

Tim gab sich überlegen: „Ja! Marlene Dietrich. Wir sprechen es Marlene aus.“

„She was a real hero!“, stellte Lisa mit einer Art Ergriffenheit fest. „Sie war die einzige große Deutsche gegen Hitler!“

Tim atmete durch. Er wollte jetzt und hier nicht diskutieren. Nicht hier auf dem Friedhof. Vielleicht im Auto. Vielleicht im nächsten Lokal. Sie mussten ja irgendwann irgendwo zum Essen einkehren, denn Tim konnte nicht kochen. Jedenfalls nicht, um jemanden zu bewirten, nicht einmal eine Amerikanerin. Es würde, dachte er, Mühe kosten, Lisa von ihren griffigen Pauschalurteilen abzubringen. Da hatte er eine große Aufgabe.

Lisa deutete auf Marlenes Grabstein: „What does it mean?“

„Hier steh ich an den Marken meiner Tage“, las Tim. „Das heißt etwa: Ich bin angekommen an der Grenze meines Lebens. Das ist aus einem Gedicht von Theodor Körner. Kennst du den? Nein? Ein Freiheitskämpfer gegen Napoleon.“

Er hätte gern mit großer Geste hinzugefügt: „Siehst du, solche Leute gab’s in Deutschland! Hättste nicht gedacht.“

Sie wanderten schweigend zurück zum Parkplatz und stiegen in ihr Auto.

„Diese Geschichte von Grandma Rosie und Opa Robert“, sinnierte Lisa unterwegs, „diese Geschichte müsste man eigentlich aufschreiben.“

Tim zögerte einen Augenblick, dann sagte er: „Weißt du was? Ich habe es schon getan.“

„No!“, rief sie erstaunt: „You did it?“

Tim nickte – und ärgerte sich im selben Augenblick.

Ja, er hatte die Geschichte von Opa Robert und seiner lebenslangen Liebe aufgeschrieben. Alles, was der Großvater ihm darüber erzählt hatte. Aufgeschrieben für sich selbst zunächst. Vielleicht für seine spätere Familie. Wen sonst ging diese Geschichte etwas an? Warum sollte er sie Lisa auf die Nase binden?

„Ich möchte das lesen“, beschied sie unwidersprechbar.

„Ich möchte aber nicht, dass jemand es jetzt liest.“

„Warum hast du es dann geschrieben?“

„Für mich.“

„Grandma Rosie ist meine Großmutter“, sagte Lisa, „ich habe ein Recht. Wenn nicht, dann hättest du es mir nicht sagen dürfen.“

Das stimmte. Tim gab klein bei.

Er schlug den Weg zu seiner Wohnung ein. Sie war eigentlich nicht vorführbar. Immer am Monatsende raffte er sich auf und schwang den Staubsauger, stets in der heroischen Absicht, nächstes Mal nicht wieder vier Wochen verstreichen zu lassen. Im Grunde genommen wartete er auf eine Freundin, die ihm klipp und klar erklärte, dass ihr leider in einem derartigen Saustall kein Gedanke an Erotik komme. Aber zu seiner Überraschung hatte sich noch keine seiner Gefährtinnen daran gestoßen. Im Augenblick hatte er übrigens keine.

„Willst du unten warten?“, fragte er vorsichtig.

Sie schüttelte den Kopf.

„Aber es geht fix.“

Sie schüttelte den Kopf.

Er ging voraus und schob mit dem Fuß ein Bündel Wäsche beiseite. Aus dem Kühlschrank nahm er eine angebrochene Flasche Orangensaft und schenkte ein. Er beobachtete, wie sich Lisa aufmerksam umschaute, ohne etwas zu sagen.

Tim holte aus seinem Schreibtisch das Manuskript. Niemand hatte es bisher gelesen. Eigentlich war es ein feierlicher Augenblick.

Tim erinnerte sich, dass er, obwohl Biertrinker, irgendwo ganz hinten im Küchenschrank noch eine Flasche spanischen Rotwein haben musste. Er fand sie, fand sogar einen Korkenzieher, schenkte ein und nahm den Orangensaft zurück. Lisa beobachtete seine Präliminarien mit mildem Lächeln.

Tim schlug sein Manuskript auf. Er machte eine bedeutungsvolle Pause. Dann holte er Luft.

„Ein Schrei aus hunderttausend Kehlen ließ die Grundfesten des Olympiastadions erzittern. Überall im Rund rauften sich die Menschen die Haare, schauten sich entgeistert in die Augen, hielten ungläubig den Atem an. Was war geschehen? Ja, was war wie ein Blitz aus heiterem Himmel in das Stadion gefahren? Die deutsche Staffelläuferin, in Führung liegend, hatte beim Wechsel das Holz fallen lassen. Da lag es auf der roten Aschenbahn, als unschuldiger Zeuge einer unvorstellbaren menschlichen wie nationalen Tragödie.“

Tim schaute Lisa erwartungsvoll an: „Ein guter Einstieg?“

„Na ja“, zögerte sie. „Es war ja nicht ein Schrei. Es waren hunderttausend Schreie.“

„Ja und? Soll ich vielleicht sagen: ‚Hunderttausend Schreie schrien aus ebenso vielen Kehlen‘?“

„Das wäre nicht so schön, aber korrekt“, antwortete Lisa.

„So ein Quatsch!“, erregte sich Tim. „Es geht doch gerade um das kollektive Erlebnis. Sie schreien wie ein Mann.“

„Und Frau“, ergänzte sie.

Tim schüttelte energisch den Kopf: „Hier geht es um Literatur. Nicht um Erbsenzählerei.“

„Okay“, gab sie zu. „Aber noch eine Kleinigkeit. Es muss heißen: im Oval des Stadions. Ich war ja heute dort.“

„Und was habe ich gesagt?“

„Im Rund.“

Tim korrigierte handschriftlich. Er hatte den Eindruck, der fulminante Start seines Werkes, den er eigentlich für ganz gelungen hielt, sei soeben irgendwie verpufft. Hängen geblieben. Verstrickt in Unwichtigkeiten. In einem Oval! In hunderttausend Kehlen! So hatte Tim es auf der Journalistenschule gelernt: reportagehaft einsteigen, den Leser emotional hereinziehen, das Thema anreißen, Neugier wecken. So machte man das.

„Darf ich es mal selbst lesen?“, fragte Lisa.

Tim zögerte.

„Ich möchte es dir lieber vorlesen“, sagte er.

„Den Anfang wenigstens“, schlug sie vor, „den ersten Tag.“

Tim nahm eher widerwillig die ersten Seiten aus dem blauen Ordner, tat sie in eine Klarsichthülle und reichte sie Lisa.

Er lud sie in die Pizzeria um die Ecke ein, wo er als Stammgast freudig begrüßt wurde. Marcello, der Chef, vorgeblich ein echter Neapolitaner, wohl aber nur aus einem Vorort am Fuße des Vesuvs stammend, hatte von einem Ausflug nach Amerika die dicke mürbe US-Pizza mitgebracht, die von Kennern als Verrat schlechthin erachtet wurde. Lisa war begeistert und fühlte sich heimisch.

„Ich habe eine Idee“, rief sie.

O je!, dachte Tim.

„Bei uns in Amerika laden wir Besucher am ersten oder zweiten Tag zum Essen ein.“

„Einladen wohin?“

„Nach Hause. Ich komme um acht zu dir. Einverstanden?“

O je!, dachte Tim.

Aber welche Ausrede hätte er vorschieben sollen?

„Du wirst dich in Berlin verlaufen“, prophezeite er.

„Ich verlaufe mich auch in New York nicht. Oder in Tokio.“

Tim gab sich geschlagen: „Also um acht. Eight o’clock.“

„It’s funny in Old Germany“, strahlte Lisa.

„Wie lange willst du hier bleiben?“, fragte Tim.

„Zwei Wochen.“

„Oh!“

Die richtige Frau

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